„Ich bin gebürtiger Niedersachse und lebe mit zwei Kulturen. Meine Eltern sind in den Fünfzigerjahren von Afghanistan nach Deutschland gezogen, um hier zu studieren. Die brutale Invasion der Sowjetunion in Afghanistan Ende der 1970er-Jahre und der darauf folgende Bürgerkrieg erschwerte es ihnen später, zurückzukehren. Die afghanische Lebens- und Esskultur wurde in meiner Familie stark gehegt und gepflegt. Ich bin mit der persischen Sprache und religiösen Feierlichkeiten aufgewachsen. Aber: Mein soziokultureller Hintergrund ist nicht typisch afghanisch. Und das nicht nur, weil ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, sondern weil Afghanistan ein Multi-Ethnien-Staat ist. Es gibt nicht DEN Afghanen. Das Land ist kulturell und sprachlich sehr vielfältig.
Was aktuell in Afghanistan passiert, reißt viele Wunden auf. Jahrzehntelang war das Land Spielball verschiedener Großmächte: Großbritannien, Sowjetunion, USA. Afghanistan zählt zu den am schwersten verminten Staaten der Welt und hat Millionen Tote zu beklagen. Gemeinsam mit meinem Vater, der als Chirurg über 40 Jahre ehrenamtlich humanitäre Hilfe geleistet hat, bereiste ich das Land 2001 zum ersten Mal. Gerade war die damalige Taliban-Regierung gestürzt worden, es herrschte große Aufbruchsstimmung, die Menschen waren hoffnungsvoll. Heute wissen wir, wie desaströs dieser Nato-Einsatz war. In den vergangenen 20 Jahren wurde dort nur sehr wenig Positives geschaffen. Der Westen hat jahrzehntelang mit Menschenrechtsverletzer:innen und korrupten Politiker:innen kollaboriert. Die Taliban waren nie weg, im Gegenteil. In den Provinzen hatte man sich mit ihnen arrangiert – lange bevor sie im August 2021 Kabul und weitere Großstädte eroberten. Nur ein Bruchteil der finanziellen Hilfen des Westens kam bei der Zivilbevölkerung an.
Meine zweite Reise nach Afghanistan machte ich 2015 mit meinem Freund und jetzigen Mitgründer Gernot Würtenberger. Dort erfuhren wir von dem Frauenkollektiv Shakiban und waren sehr beeindruckt: Frauen, die mafiöse Strukturen durchbrechen, sich stolz und mutig vom Opium-Anbau abwenden und das kostbarste Gewürz der Welt anbauen – Safran. So eine Erzählung findet in deutschen Medien kaum statt; sie widerspricht dem Stigma „unterdrückte Burkaträgerin“. Wir sind nach Herat gefahren und haben die Bäuerinnen kennengelernt.
Nach unserer Rückkehr gründeten Gernot und ich 2016 Conflictfood und wurden Shakibans Handelspartner. In den Jahren darauf folgten Kooperationen mit dem Volk der Ta’ang und Akha in Myanmar, die Bio-Tee, Kaffee und Ingwer anbauen. Von Bäuer:innen in Palästina beziehen wir Freekeh: traditionell geröstetes Getreide. Jedem unserer Produkte liegt eine Zeitung bei, die die (Ess-)Kultur des jeweiligen Landes vermitteln soll. Denn diese Regionen sind weit mehr als Krisengebiete. Wir wollen sichtbar machen, dass jedem Lebensmittel eine soziokulturelle Geschichte innewohnt, und Konsument:innen aufklären: Konsum kann katastrophale Folgen haben oder sehr positive. Wir müssen herauskommen aus dem passiven Konsum, wir müssen einen aktivistischen entwickeln. Niemand soll unsere Produkte aus Mitleid kaufen, sondern wegen der Qualität. „Trade Not Aid“ heißt unser Ansatz: selbstbestimmter Handel statt Entwicklungshilfe.
Falsche Schablonen
Natürlich ist „Aid“ ein wichtiges Mittel zur Unterstützung, aber eben gezielt und punktuell im Moment des größten Leids, um humanitäre Katastrophen einzudämmen. Auf Dauer bringt Aid die Menschen vor Ort in Abhängigkeit und Passivität. „Trade“ bietet langfristige Perspektiven. Etwa 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft. Da liegt es nahe, diese durch respektvolle Handelsbeziehungen zu fördern, um Fluchtursachen an der Wurzel zu bekämpfen. Ich habe mich selbst in NGOs engagiert und gesehen, wie versucht wird, Konzepte zu standardisieren. Was in Afghanistan funktioniert hat, kann nicht einfach so auf beispielsweise Somalia übertragen werden. Da herrscht ein anderes Mindset, eine andere Historie, andere Strukturen. Für mich zeigt sich hier das schablonenhafte Denken des Westens.
Damit zu brechen heißt in unseren Augen, Schranken abzubauen, vor allem die im Kopf. Es heißt, partnerschaftlich zusammenzuarbeiten und einen ehrlichen Preis zu zahlen. Wir haben das Kollektiv damals gefragt: Was möchtet ihr für ein Kilo Safran haben? Das war dann ungefähr das Dreifache vom Marktpreis. Weil die Hersteller:innen schließlich am besten wissen, was angemessen ist, haben wir das akzeptiert. Handelsriesen hingegen drücken die Preise, pressen Land und Leute aus, um hohe Margen zu erzielen, die Landwirt:innen gehen fast leer aus. Dadurch befinden wir uns im Grunde noch in kolonialen Machtstrukturen. Die Global Player von heute, Coca Cola, Nestlé & Co, haben das gleiche Geschäftsgebaren wie die damaligen Kolonialherren. Ihr Reichtum ist nicht verdient, sondern entrissen. Ihr Handel findet nicht auf Augenhöhe statt.
Es müssen nicht alle Sozialunternehmer:innen werden, aber alle sollten endlich anfangen, humaner zu agieren. Uns wird oft entgegnet: „Bei zehn bis fünfzehn Lieferanten ist es ja einfach, nachhaltige Werte zu wahren, bei mehreren tausend aber unmöglich. Ich kann doch nicht schauen, ob die seltenen Erden in jedem Bergwerk gerecht abgebaut werden.“ Wir sagen: Doch, kannst du! Natürlich bedeutet das viel mehr Aufwand und weniger Rendite für Aktionär:innen. Aber in der Regel haben diese Unternehmen genug finanzielle und personelle Ressourcen dafür.
Wir sind selbst gerade dabei, das Safran-Projekt zu vergrößern und werden damit bis zu 1.500 Bäuerinnen und Bauern erreichen. Im Zuge dessen möchten wir auch die Produktion der Shakiban-Frauen biologisch zertifizieren lassen. Allerdings ist die Lage unsicher. Teilweise läuft die Kommunikation mit unseren Handelspartner:innen über Mehdad*, einen Agraringenieur an der Universität Herat, weil ich ihre Sprache, Turkmenisch, nicht verstehe und nicht alle Frauen mein Dari. Mehdad musste im Zuge des Taliban-Vormarschs aber fliehen. Wir können noch nicht absehen, inwiefern die Machtübernahme der Taliban unsere Safran-Ernte im Oktober und November beeinflussen wird. Aktuell arbeiten die Frauen nicht. Einer Bekannten von mir, die im Gesundheitsministerium in Kabul arbeitet, wurde gesagt, dass sie ins Büro kommen könne, wenn sie sich entsprechend kleide. Lachend meinte sie zu mir, dass die Händler:innen prompt ihre Burka-Preise erhöht hätten. Economy at its best … Dieses Jahr werden wir uns kein eigenes Bild mehr von der aktuellen Lage machen können. 2022 wollen wir unsere Partnerinnen aber auf jeden Fall wieder persönlich treffen – und die gemeinsame Zukunft planen.“
*Name von der Redaktion geändert
Dieser Text erschien in der Ausgabe Oktober/November 2021 mit dem Titel „Tschüss, Kolonialismus“.
Safranernte in Afghanistan: Ein Frauenkollektiv, das sich stolz und mutig vom Opium-Anbau abwendet, um stattdessen das kostbarste Gewürz der Welt anzubauen. Das Sozialunternehmen Conflictfood erzählt Geschichten wie diese und unterstützt Bäuer:innen in Krisenregionen durch fairen Handel.