Azra*, Achmed* und Maria* (*Namen von der Redaktion geändert) stehen auf der Bühne, ein wenig unsicher noch. Der Hamburger Regen klatscht gegen die Scheiben. Dann legen sie los: „Wisst ihr, dass man in zwei Stunden zwölf gute Bewerbungen abschicken kann?“, fragt Azra ins Publikum. „Und wie gut es sich anfühlt, Fähigkeiten an dir zu entdecken, von denen du gar nichts wusstest?“, ruft Achmed. „Es war so cool, Leute in Ausbildungsbetrieben kennenzulernen, die erzählen, wie der Alltag wirklich ist“, sagt Maria. Azra, Achmed und Maria wissen, was die Neuen vor ihnen im Saal in den nächsten eineinhalb Jahren erwartet. Denn sie waren schon dabei: in der Mutacademy.
Sonntagnachmittag. Im zweiten Stock der alten Industriehalle, Hamburg-Barmbek, wuselt es wie auf einem Stadtteilfest. Lichterketten schimmern, Kaffeeduft zieht durch den Raum, Besucher:innen schnappen sich Kekse, Küchlein, Gummikram vom Buffet. Noch fix Namensaufkleber anheften, Fistbumps, Schulterklopfen, „Hey Digger“, „Na, Bruder“. Eine Frau tritt nach vorn, plötzlich ist es ruhig.
„An meinem ersten Schultag in der fünften Klasse hatte ich total Angst. Allein mit tausend Fragen im Kopf und keine Ahnung, was auf mich zukommt“, sagt Donya Golafshan. „So muss es euch heute auch gehen. Und trotzdem seid ihr hier – großartig, die erste Mutprobe ist geschafft.“
Darum geht es hier – mutig sein, Ängste überwinden, sich von destruktiven Selbstbildern verabschieden und erkennen: Ich bin wer, ich kann was, ich wage einen neuen Schritt. Sei es erst mal hierher zu kommen und zuzuhören, was Absolvent:innen der Mutacademy des Vorjahres zu erzählen haben.
Alle, die es gewagt haben, sind zwischen 15 und 17 Jahre alt, struggeln in der Schule, haben kaum Unterstützung zu Hause, wenig Aussicht auf einen guten Abschluss, schon gar nicht auf eine Lehrstelle. Sie kommen aus Hamburg-Billstedt, -Veddel oder -Wilhelmsburg, wo viele Familien geringes Einkommen, wenig Bildung, nicht selten Einwanderungs- oder Fluchtgeschichte haben. Oft hängen sie seit Jahren fest in den Bildern, die sich manche Lehrkräfte, Eltern, die Peergroup von ihnen machen: Du schaffst es nicht.
Bewerbungscamps, Coaching und Einzelgespräche
„Wie absurd“, sagt Donya Golafshan. „Diese Jugendlichen haben genauso Stärken wie andere auch.“ „Sie trauen sich nur nichts zu“, ergänzt ihr Mitstreiter Philipp Arlt. „Weil nie jemand an sie geglaubt hat und ihnen Strategien fehlen, da rauszukommen.“ Es darf doch nicht sein, dass in Deutschland 48.000 Jugendliche im Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen und 250.000 arbeitslos sind. Dass allein in Hamburg nur jede:r dritte gleich nach der Schule eine Lehrstelle findet. Lass uns dagegen etwas tun, sagten sich Golafshan und Arlt – mit Bewerbungscamps, Coaching und Einzelgesprächen vom Anfang der zehnten Klasse bis zum ersten halben Jahr in der Ausbildung. 2017 gründeten sie ihr Sozialunternehmen, die Mutacadamy.
Wie kommt man auf so eine Idee?
Wenn man wie Donya Golafshan schon in der Kindheit erlebt: Jede:r kann den eigenen Weg finden, auch gegen Widerstände. Aufgewachsen in Teheran als jüngstes von fünf Kindern, hat sie früh von ihrem Vater gelernt: Steh auf, wenn was schiefläuft, du hast es in der Hand. In der iranischen Grundschule fragt sie: „Warum kommen wir Frauen in die Hölle, wenn ein Haar unter unserem Kopftuch herausschaut?“ Das harsche „Setz dich“ der Lehrerin schreckt sie nicht. Die Suche nach Antworten wird zu ihrem Lebenselixier, bei Ungerechtigkeiten den Mund aufzumachen ihr Grundsatz. Donya ist elf, als die Familie aus dem Iran nach Hamburg geht, auch weil der Vater Töchtern und Frau das Leben mit Kopftuchzwang und ohne Bildung nicht zumuten will.
Sie liebt die Freiheit in der deutschen Schule und weiß doch, dass sie es leichter hat als andere Einwander:innen, denn die Eltern unterstützen sie, wo immer es geht. Die Lehrkräfte wollen sie auf die Realschule schicken, die Eltern wählen das Gymnasium. Sie wird Schulsprecherin, leit…
In der Mutacademy erfahren Schüler:innen vor allem eines: Wertschätzung.