Verständigung durch Musik
Gleichberechtigte Stimmen in der Barenboim-Said Akademie, Berlin
Text: Emilia Stemmler
Mit Schwung zieht die junge Frau die schwere Eisentür auf, steuert auf die Rezeptionistin zu und wird wärmstens begrüßt. Ihre Braids fallen wie ein Vorhang um ihr Gesicht, als sie sich vorbeugt und das Anmeldeformular mit eilig geschriebenen Buchstaben füllt. Sie ist eine von über 80 Studierenden der Barenboim-Said Akademie, die ihren Sitz in Berlin direkt zwischen ihren Förderern – dem Auswärtigen Amt und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien – hat.
Dass das Wintersemester überhaupt stattfindet, ist aufgrund der Ereignisse der zurückliegenden Wochen nicht selbstverständlich. „Wir erleben die größte Bewährungsprobe seit unserer Gründung“, erklärt die Rektorin Regula Rapp. „Wir haben sowohl israelische als auch palästinensische Studierende, die direkt betroffen sind und um ihre Familien und Freunde bangen. Am Anfang waren sie so unter Schock, dass wir ihnen freigestellt haben, ob sie am Studium teilnehmen.“ In der Zwischenzeit habe sich gezeigt, dass die Studierenden dankbar sind für die Ablenkung, die ein geregelter Semesterbetrieb bietet.
Seit 2016 bildet die Akademie junge Talente hauptsächlich aus dem Nahen Osten und Nordafrika aus – und Nachwuchs für das West-Eastern Divan Orchestra, das der argentinisch-israelische Dirigent Daniel Barenboim und der palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Saïd 1999 gründeten. Die Idee: „Gute Musik entsteht, wenn alle aufeinander hören“, so beschreibt es die Rektorin. Die Parallele zur Gesellschaft liegt auf der Hand: Auch die funktioniert nur, wenn man im Gespräch ist und alle Stimmen gleichberechtigt sind.
Diesem Anspruch gerecht zu werden, war nie einfach. „Schon vor dem 7. Oktober war unsere Arbeit schwierig. Seitdem hat sich vieles verändert, vielleicht sogar alles“, sagt Regula Rapp. Auch hier, wo das Miteinander-Sprechen im Alltag erprobt war, geriet dieses erst mal ins Stocken. Seither sei die Institution merklich zusammengerückt: Die Kolleg:innen fragen die Student:innen, wie es ihnen und ihren Familien geht – in den Pausen; vor und nach dem Unterricht; wenn vor dem Haus Zigaretten angezündet werden. Auch die Tür des lichtdurchfluteten Büros von Regula Rapp steht weit offen.
Die Akademie kümmert sich auch um therapeutische Unterstützung. Bei einer Vollversammlung sprachen sich die Studierenden außerdem dafür aus, im Akademie-Alltag noch mehr Faktenwissen zu vermitteln. Die jungen Musiker:innen eint der Wunsch nach Austausch, sie wüssten gern mehr über die Geschichte des Konflikts. Das Kollegium möchte dem nachkommen und zugleich sicherstellen, dass sie weiterhin in einem geschützten Raum gemeinsam musizieren können. „Darin liegt eine große Kraft, die die Menschen verbindet“, sagt Regula Rapp.
Im Gespräch mit Jugendlichen
Joanna Hassoun und Shai Hoffmann gehen in Schulen
Protokoll: Antonia Strotmann
„Wir sind nicht nur von der aussichtslosen Situation in Israel und Palästina frustriert, sondern auch von der Debatte in Deutschland. Wir brauchen Empathie und Solidarität. Aber Deutschland diskutiert über Abschiebungen und importierten Antisemitismus und hetzt so jüdische und muslimische Menschen gegeneinander auf. Wir hören so viel antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus – das ist menschenverachtend.
Deshalb bieten wir seit Ende Oktober Trialoge in deutschen Bildungs- und Jugendeinrichtungen an. Wir, die Deutsch-Palästinenserin Jouanna und Shai, deutsch-jüdisch mit israelischen Wurzeln, gehen mit Jugendlichen ins Gespräch. Zwei Stunden lang bieten wir ihnen einen Raum, in dem sie über kontroverse, hochemotionale und herausfordernde Themen sprechen können, ohne Konsequenzen zu befürchten. Respekt und Mitgefühl füreinander erwarten wir natürlich.
In jeder Session erklären wir erst einmal, was uns mit Israel und Palästina verbindet. Nach und nach öffnen sich dann die meisten Teilnehmenden. Sie erzählen von ihrer Panik, ihrem Schmerz, ihrer Trauer oder Wut. Die Gespräche sind häufig sehr emotional aufgeladen. Wir weinen viel zusammen.
Manchmal sind auch Jugendliche dabei, die von dem russischen Angriff auf die Ukraine betroffen sind oder deren Väter im Bosnienkrieg waren. Sie alle erleben aktuell eine Retraumatisierung. Manche Jugendliche sagen, sie seien noch nie nach ihren Gefühlen gefragt worden, und wie gut es tue, darüber zu sprechen. Unser Eindruck ist: Jugendliche sehnen sich geradezu danach, über all die Krisen zu reden, die nun schon seit Jahren über sie hinwegrollen – die Klimakatastrophe, der Ukrainekrieg, die Energiekrise, die Inflation.
Natürlich sind die Trialoge auch für uns sehr aufwühlend. Von jeder Begegnung müssen wir uns erholen. Trotzdem wachsen auch wir daran und hoffen, dass uns das in anderen Lebenslagen bereichert. Finanziell unterstützt wird unsere Arbeit erst einmal nur bis Jahresende. Dabei sind wir die ersten Monate 2024 schon ausgebucht, und haben noch 200 Anfragen in unserem Postfach. Von Aufwandsentschädigungen können wir nicht leben. Und wir leisten Arbeit, die die Politik finanzieren sollte.
Falls hoffentlich irgendwann vor Ort Frieden herrscht, werden die rassistischen und antisemitischen Diskurse in Deutschland weitergehen. Dann sind wir zwei immer noch da und kehren die Scherben zusammen. Wie wir es auch schon vor dem 7. Oktober gemacht haben.
„Trialog – Israel & Palästina“ ist ein Projekt von Gesellschaft im Wandel und Transaidency e. V.
Von der Trauer zur Friedensarbeit
Robi Damelin engagiert sich in einem israelisch-palästinensischen Elternkreis
Protokoll: Charlotte Köhler
„Als die Armee 2002 bei mir klingelte, um mir mitzuteilen, mein Sohn David sei von einem palästinensischen Heckenschützen ermordet worden, sagte ich zu ihnen: ‚Niemand darf im Namen meines Sohnes töten.‘ So etwas wie Rache gibt es nicht – sie würde mir mein Kind nicht zurückbringen. Schließlich war es ein Palästinenser, der meinen Sohn getötet hat, nicht das palästinensische Volk. Ich beschloss, all meine Energie in Versöhnung zu stecken.
Auch nach dem 7. Oktober rate ich allen, die nicht in den Dialog gehen und zu einer friedlichen Lösung beitragen wollen, sich herauszuhalten. Der Krieg wird erst enden, wenn beide Seiten Zeit zum Trauern haben. Dafür braucht es eine anhaltende Waffenruhe. Vergebung bedeutet, sein Recht auf Rache aufzugeben. Wir müssen einander nicht lieben, nur respektieren, um aus dem Gefängnis der Unmenschlichkeit auszubrechen. Dass Politiker:innen wie Zivilist:innen weltweit sich auf die eine oder andere Seite schlagen, mag sich gut für sie anfühlen. Es ist aber falsch. Drei Monate nach der Ermordung meines Sohnes trat ich dem israelisch-palästinensischen Elternkreis Parents Circle Families Forum bei, kurz PCFF. Dort habe ich mich aufgehoben gefühlt; nur eine trauernde Mutter kann diesen Schmerz wirklich verstehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie Palästinenserin oder Israelin ist, unser Schmerz ist der gleiche. Wenn man das erkannt hat, öffnet sich die außergewöhnliche Möglichkeit, einen Dialog zu beginnen.
In unserer Initiative ist jede Position zweifach besetzt, von israelischer wie palästinensischer Seite. Egal ob Vorsitzende, Sprecher:innen oder Buchhalter:innen: Wo immer wir gleichberechtigt sein können, sind wir es. Mittlerweile sind wir fast 700 Mitglieder, alle haben eine:n nahe:n Verwandte:n durch den Krieg verloren. In wöchentlichen Sitzungen trauern wir gemeinsam, versuchen, ein Katalysator für Menschen zu sein, die von Hass und Wut erfüllt sind, damit sie verstehen, dass es auch anders geht, sie sich für den Frieden entscheiden können.
Bis September waren wir die einzige palästinensisch-israelische Organisation, die in Schulen über Frieden sprechen durfte. Doch die israelische Regierung verbannte uns aus den Klassenzimmern. Vielen Schulleiter:innen war das egal. Sie luden uns trotzdem ein. Wir führten unsere Dialogtreffen draußen auf der Straße durch; dort, wo vor dem Krieg die Demonstrationen stattfanden. Nun hat sich das Leben über Nacht verändert. Keine:r von uns weiß, wie es weitergeht. Aufgeben aber ist für mich keine Option. Nach all den Jahren, die ich investiert habe, weiß ich, tief in meinem Herzen, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich mag zwar alt sein. Aber ich höre nicht auf.“
„Parents Circle Families Forum“, Jaffa/Tel Aviv.
Palästinensisch-israelischer Hummus
Jalil Dabit und Oz Ben David betreiben zusammen ein Restaurant
Text: Emilia Stemmler
Der Ansturm zur Mittagspause ist abgeklungen, die Pfannen in der Küche kühlen langsam ab, die gepolsterten Stühle vor den türkisen Wänden sind wieder leer. Auf der Markise über dem Eingang des Restaurants Kanaan im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg steht: „Modern Palestinian & Israeli Kitchen“. Seit 2015 führen es der israelische Unternehmer Oz Ben David und der palästinensische Gastronom Jalil Dabit gemeinsam.
Entstanden ist die Zusammenarbeit fast aus einer Zwangslage heraus. Als sie sich wegen einer ganz anderen Anfrage mit einer deutschen Firma trafen, hätte diese weder ausschließlich mit einem israelischen noch mit einem palästinensischen Unternehmer arbeiten wollen. Also fragten sie: Was wäre, wenn wir beide Geschäftspartner werden? So entstand die Idee eines Restaurants, in dem sie gemeinsam Auberginenrouladen, Matawaame, Shakshuka-Lasagne und natürlich Hummus servieren.
Nach dem 7. Oktober blieb das Restaurant einige Tage geschlossen. Er konnte nicht arbeiten, erzählt Oz Ben David; zu groß waren Wut und Trauer über das Massaker der Hamas. Er fragte sich, wie es weitergehen solle. Doch als immer mehr jüdische Lokale aus Angst vor antisemitischen Angriffen schlossen, machte er wieder auf. Sein palästinensischer Geschäftspartner Jalil Dabit habe ihm Mut zugesprochen: „Auch wenn etwas Schlimmes passieren kann, müssen wir weitermachen und hoffen, dass alles gut wird.“
Den israelisch-palästinensischen Konflikt anzusprechen, war für die beiden schon vor dem 7. Oktober ein langer Prozess. Oz wuchs in einem rechtsgerichteten Haushalt auf, war vor seinem Leben in Berlin Siedler: „Ich habe keine Friedensaktivisten-Biografie.“ Erst einmal verband die beiden das Geschäft. Und die Küche, in der sogar der Hummus, der auf die Holztische im Restaurant gestellt wird – und über dessen Zusammensetzung sie lange stritten –, eine Fusion aus beiden Geschmäckern ist. „Mit der Zeit haben wir verstanden, dass die Art, wie wir arbeiten, der einzige Weg zum Frieden ist“, sagt der israelische Unternehmer. „Es geht nicht darum, etwas aufzugeben. Sondern das Beste aus dem zu machen, was uns beiden wichtig ist. Und einen sicheren Ort zu schaffen, in dem alle ihre Sichtweisen einbringen können.“
Ein solcher Ort soll Kanaan auch für die Mitarbeiter:innen sein: Oz und Jalil beschäftigen Geflüchtete und LGBTQIA+-Personen aus Syrien, Rumänien, Pakistan, Indien. Gesprochen wird ein Mix aus Deutsch, Arabisch, Hebräisch und Englisch. „Kanaan-Sprache“ nennen sie das. Meinungsverschiedenheiten würden offen adressiert. Oz sagt: „Menschen müssen frei sein, um Verständnis füreinander entwickeln zu können. Sie dürfen nicht im Überlebensmodus sein. Wir bringen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen zusammen – und bieten ihnen gute Arbeitsbedingungen und eine Perspektive.“
Gemeinsame Restaurantbetreiber Oz Ben David (rechts) und Jalil Dabit (links).