„Die Stockwerke werden immer höher. Aus einem Stockwerk wurde ein ganzes Gebäude, das einen Schatten wirft, die Sonne findet nicht mehr hierher.“ Wenn Tareq Abu Kwaik singt, singen seine Hände mit. Mal zeigt er mit einem Finger entschlossen nach oben, amal schlägt er sich mit der Faust auf die Brust, mal fährt er sich mit beiden Händen durchs Gesicht. In Yousana singt der bekannte Musiker Abu Kwaik von einer zubetonierten Stadtlandschaft, vom Leben ohne Heimat, vom langen Warten, das kein Ende zu nehmen scheint.

Der Song spiegelt die Realität des palästinensischen Geflüchtetenlagers Shatila in Beirut, Libanon. Tausende Menschen leben hier auf weniger als einem Quadratkilometer. Von vielen Häusern bröckelt der Putz, andere hatten nie einen. Stromkabel baumeln wie Spinnennetze zwischen den Gebäuden, aus maroden Wasserleitungen tropft es ohne Pause. Der Geruch von feuchtem Beton liegt in der Luft. Kinder spielen auf engen, verschlungenen Wegen, Erwachsene verlieren sich in Gesprächen.
Yousana, drei Minuten Alltag in Shatila. Doch der Song ist mehr als das: Er ist ein politisches Statement, ein kreativer Akt des Widerstands. Denn er entstand in einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit mit den Bewohner:innen des Lagers. Sie haben das Lied in Auftrag gegeben – um auf den Mangel an öffentlichen Räumen und den Verlust ihrer Zukunft aufmerksam zu machen. Ein Lied als Protest.
Shatila ist nicht einfach ein Lager für Geflüchtete. Es ist das Ergebnis jahrzehntelanger politischer Kämpfe und die Geschichte einer gewaltsamen Vertreibung. Mit der Gründung des Staates Israel 1948 verloren Hunderttausende Palästinenser:innen ihr Zuhause: Mehr als 350 Dörfer und Stadtviertel wurden zerstört, etwa 750.000 Palästinenser:innen mussten fliehen oder wurden vertrieben. Viele strandeten in Lagern wie Shatila. Nakba, „die Katastrophe“, nennen die Palästinenser:innen dieses Trauma. Was ursprünglich als vorübergehende Zuflucht gedacht war, wurde für viele zu einem dauerhaften Leben im Exil.
76 Jahre nach seiner Gründung leben immer noch Generationen von Palästinenser:innen in Shatila – zusammen mit syrischen Geflüchteten und einigen Libanes:innen. Ursprünglich für etwa 500 Haushalte geplant, ist das Lager inzwischen auf das Zehnfache angewachsen. Die Folge: ein Betonlabyrinth aus eng aneinander gebauten Häusern, die immer weiter in die Höhe klettern, weil der begrenzte Raum nicht in die Breite wachsen kann. Manche Straßen sind so schmal, dass nur eine Person hindurchpasst. Überall herrscht Chaos: Müll liegt herum, der Strom fällt oft aus, manchmal 22 Stunden am Tag, sauberes Wasser ist ein Luxus. Es fehlt an öffentlichen Plätzen, an denen sich die Menschen versammeln können – nirgends ist ein Ort, an dem ihre Stimmen gehört werden.

Doch Israel lässt die Menschen nicht nach Palästina zurückkehren und der libanesische Staat verweigert ihnen bis heute die Teilhabe an der Gesellschaft. Denn Palästinenser:innen erhalten im Libanon in der Regel nur ein humanitäres Aufenthaltsrecht, ein Recht auf die libanesische Staatsbürgerschaft haben sie nicht. Geflüchtete haben bis heute nur eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Vom öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem sind sie ausgeschlossen. Stattdessen sind die Menschen auf das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) und andere Hilfsorganisationen angewiesn.
„Es fühlt sich an, als lebten wir in einem großen Gefängnis“, sagt Majdi Majzoub per WhatsApp. Silbergraue Strähnen durchziehen sein kurzes Haar, der fast weiße Vollbart ist sorgfältig gepflegt. Fast immer trägt er ein Sporttrikot – ein Markenzeichen, genau wie sein Name. Im Lager nennen ihn alle nur „Captain Majdi“. Denn der 52-Jährige gibt nicht auf. Statt sich von den widrigen Lebensbedingungen unterkriegen zu lassen, setzt er sich für den sozialen Zusammenhalt im Camp ein: Er trainiert Kinder und Jugendliche in Fußball und Basketball, hat eine Basketballmannschaft für Mädchen und junge Frauen gegründet. Er will, dass die Welt anders als voller Stereotype und mit müdem Interesse auf Lager wie Shatila schaut. Deshalb hat er zusammen mit den Bewohner:innen den Auftrag für den Song vergeben.
Der Libanon steckt seit Jahren in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Inflation und Arbeitslosigkeit sind hoch, es fehlen viele Grundgüter für den täglichen Bedarf – darunter Lebensmittel, Medikamente und Öl. Diese Krise betrifft das Lager doppelt, in dem viele der Bewohner:innen auf internationale Hilfsgelder angewiesen sind – Gelder, die jedoch nur einen Bruchteil ihrer Bedürfnisse decken. Laut UNRWA lebten im März 2023 achtzig Prozent der Palästinenser:innen unterhalb der nationalen Armutsgrenze.
Yousana ist daher mehr als ein Musikstück. Der Song ist das Ergebnis des Kunstprojekts Masahatu*na, das im Deutschen Unsere*Räume heißt. 2023 rief die Kulturmanagerin und Mediatorin Boushra Adi das Projekt gemeinsam mit der humanitären Hilfs- und Entwicklungsorganisation Basmeh & Zeitooneh ins Leben. Die Vision: den Bewohner:innen von Shatila die Möglichkeit zu geben, selbstbestimmt Kunstwerke in Auftrag zu geben, die ihre eigenen Geschichten und Anliegen widerspiegeln.
„Es geht darum, den Menschen das zu geben, was ihnen zusteht – eine Stimme“, erklärt Adi. Die Bewohner:innen von Shatila entscheiden selbst, welches Thema sie aufgreifen wollen und wie es dargestellt wird. Es ist eine radikale Umkehrung der Kunstproduktion und ein Akt der Selbstermächtigung: Die Gemeinschaft von Shatila ergreift die Verantwortung und nimmt die Künstler:innen in ihren Dienst, um den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben.
Im Basmeh-&-Zeitooneh-Zentrum in Shatila sitzen elf Menschen an weißen Plastiktischen, ihre Blicke sind konzentriert, die Stimmen klingen durcheinander, sie diskutieren: Was wollen wir im Lager als Erstes ändern? Die marode Infrastruktur? Den fehlenden Zugang zu Bildung und Arbeit? Oder doch endlich öffentliche Räume schaffen, in denen wir uns treffen können? Die Ideen sprudeln, manche Vorschläge werden schnell wieder verworfen, andere weiterentwickelt. Die Gruppe feilt an Details. Kulturmanagerin Adi hilft ihnen, den Auftrag zu konkretisieren.
Nach einem Monat, acht Treffen und unzähligen WhatsApp-Nachrichten steht fest: Die Kunstwerke sollen sich um den Platzmangel in Shatila drehen. Schaffen sollen sie Künstler:innen, die die Geschichte des Lagers kennen und ein Verständnis für die Region und ihre Kultur haben. Basmeh & Zeitooneh sagt zu, ein Kunstwerk zu finanzieren. Die Auftraggeber:innen stimmen ab: Als Erstes soll ein Lied entstehen, das den Platzmangel in Shatila in Worte fasst, ein Video soll das Ganze begleiten.
Der Ansatz von Masahatu*na basiert auf der ursprünglich in Frankreich entstandenen Bewegung der Neuen Auftraggeber, die es mittlerweile an vielen Orten der Welt gibt. Anfang der 1990er-Jahre beauftragte die Fondation de France den belgischen Künstler François Hers, ein Konzept zu entwickeln, das die Kulturförderung demokratisieren und stärker am Gemeinwohl orientieren sollte. In Deutschland brachte dieser Ansatz beispielsweise das Projekt Die sieben Künste von Pritzwalk hervor. Die Bewohner:innen der Brandenburger Kleinstadt Pritzwalk beauftragten dafür das Künstlerduo Clegg & Guttmann, ein Konzept gegen den Verfall des historischen Zentrums zu entwickeln. Am Ende stand eine temporäre Kunstaktion, die leerstehende Ladenlokale der Stadt mit Kunst, Fotografie, Mode, Theater, Sprache, Musik und Tanz bespielte. Mit Masahatu*na brachte Adi diesen Ansatz in die Levante. Es war das erste Projekt dieser Art in der Region.
Die Wahl der Bewohner:innen fiel auf El Far3i, wie Tareq Abu Kwaik mit seinem Künstlernamen heißt. Er ist in Amman in Jordanien aufgewachsen, ein Teil seiner Familie wohnt in Jenin in Palästina. „Ich habe zwar nie selbst in einem Geflüchtetenlager gelebt. Aber ich tue dies für meinen Vater, der in einem aufgewachsen ist, und meinen Onkel, der in einem anderen zum Märtyrer wurde“, sagt der Musiker.
Sommer 2023. Abu Kwaik besucht Shatila und tauscht sich mit den Bewohner:innen aus – drei Tage lang, bis zu sieben Stunden am Tag. Er spaziert mit den neuen Auftraggeber:innen durch das Lager. Immer wieder ertönt ein Hupen und Menschen schlängeln sich auf ihren Rollern dicht an der Gruppe vorbei, drängen sich durch die überfüllten Gassen. Die Gruppe besucht Projekte, in denen sich die Auftraggeber:innen engagieren: Captain Majdi stellt seine Basketballmannschaft vor. Anderswo tanzen Leute Dabke. Ihre Füße stampfen und hüpfen im gleichen Rhythmus auf dem Boden. Immer wieder sprechen sie über das Leben im Camp, auch nachdem der Musiker längst wieder zu Hause ist – oft über WhatsApp. Die Eindrücke, die er gesammelt hat, seien direkt in die Lyrics des Songs eingeflossen, erinnert sich Abu Kwaik heute. „Ich habe die Leute gebeten, Shatila in einem Satz zu beschreiben und diesen aufzunehmen. Die Stimmen der Menschen aus Shatila habe ich als Audiocollage verwendet und mit dem Song gemischt“, erklärt er. Wortfetzen wie: „Wenn sie lachen, bricht es mir das Herz“ „Ich bin groß und die Wohnungen um mich herum sind klein“, „Schöne Erinnerungen“. Zusammen spiegeln die Menschen sich in den kraftvollen, oft melancholischen Zeilen wider, Geschichten von Hoffnung, Schmerz und ungebrochenem Widerstand. Das Ergebnis ist Yousana – ihre Stimmen geben in dem Lied aus Shatila den Takt an.
Im Sommer veröffentlichte Abu Kwaik alias El Far3i Yousana. In kürzester Zeit erreichte das Lied allein auf YouTube rund 190.000 Menschen, auf Instagram nannte der Musiker es seine größte Veröffentlichung des Jahres. Der Erfolg hat in Shatila neue Hoffnung geweckt. Neben Yousana sollen nun noch weitere Gemeinschaftswerke entstehen. Die Bewohner:innen von Shatila haben andere Künstler:innen mit der Produktion eines Theaterstücks, literarischer Werke und eines Wandgemäldes beauftragt. Die Künstlerin Saba Innab ist eingeladen. Sie soll eine kreative Lösung für den Mangel an öffentlichen Räumen im Lager finden. Noch konnten diese Projekte nicht realisiert werden. Es fehlt das Geld.
Als Captain Majdi El Far3i zum ersten Mal Yousana auf einer Bühne in Beirut singen hört, ist er überwältigt: „Es war ein großartiges Gefühl. Wir haben einen Ort gefunden, an dem unsere Stimmen gehört werden.“ 600 Menschen besuchten das Konzert, 9.000 US-Dollar kamen dabei für Shatila zusammen. Für Captain Majdi und viele andere Bewohner:innen des Lagers war es ein Moment, in dem sie ihre jahrzehntelange Isolation endlich selbst durchbrochen haben. „Es hat uns mit der Welt verbunden“, sagt Captain Majdi. „Jetzt wissen mehr Menschen, wie wir hier leben.“
Treffpunkt Shatila: Tareq Abu Kwaik alias El Far3i (li.), Kulturmanagerin Boushra Adi (mit gelber Tasche), Sporttrainer Majdi Majzoub (im Trikot), Anwohner:innen und Projektteilnehmende