Es ist erst wenige Tage her, dass Ahmed AlGhariz und Karim Azzam den Gazastreifen verlassen haben, und man merkt den beiden an, dass der laute, aber friedliche Alltag Kairos im Januar dieses Jahres für sie völlig unwirklich ist. Ihre Gedanken sind bei ihren Familien, Freunden und bei den Kindern, mit denen sie in Gaza täglich tanzten, die sie zurücklassen mussten.
„Kein Ort ist sicher in Gaza“, sagt AlGhariz bei Tee und dem ägyptischen Streetfood Koschari, einem Mix aus Reis, Linsen, Nudeln, gerösteten Zwiebeln, Kichererbsen und Tomatensoße. „Für uns ist es ein Genozid, es kann jeden treffen“, sagt Azzam. Es war nicht einfach, ihre Heimat zu verlassen, doch es ging um Leben oder Tod: Für die beiden Tänzer, die Zweitpässe besitzen, war klar, dass sie ausreisen würden, sobald es geht – lebendig können sie mehr tun als innerhalb des belagerten Streifens. Dennoch hoffen sie, bald zurückzukehren, auch wenn nicht mehr viel bleibt. „Gaza gibt es nicht mehr“, sagt AlGhariz.
Am 7. Oktober brach die palästinensische Hamas aus dem Gazastreifen aus, tötete über tausend israelische Zivilisten, verschleppte Hunderte. Israel antwortete mit einer der brutalsten Militäraktionen der Geschichte, in der laut der Washington Post und Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International geächtete Waffen wie weiße Phosphorbomben eingesetzt werden. Zu Redaktionsschluss lag die Zahl der getöteten Palästinenser nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza bei über 30.000 (05.3-2024), die meisten Zivilisten, ein großer Teil von ihnen Frauen und Kinder. Laut UN ist Gaza für Kinder derzeit der gefährlichste Ort der Welt. Eine Hungersnot droht, weil die Region so von Bomben zerstört ist, dass die Herstellung von Lebensmitteln unmöglich geworden ist. Dort mussten die Breakdancer ihre Tanzschule zurücklassen, die in den vergangenen Monaten zum Zufluchtsort der Kinder geworden ist. Täglich führte ihre Crew, die Camps Breakerz, Tanzunterricht und Breakdance Battles durch, um ein bisschen vom Trauma des seit Monaten anhaltenden israelischen Angriffs auf den Gazastreifen abzulenken.
„Jeden Tag, wenn wir die Türen öffneten, warteten Dutzende Kinder auf uns“, sagt Azzam. Normalerweise kamen aus Platzgründen nur acht, neun Tänzer zum Training, doch dann kamen immer mehr, das Bedürfnis nach Aufmunterung, wenigstens nach Ablenkung ist hoch. „Wenn die Kinder zum Tanzzentrum kamen, konnten sie den Krieg ein bisschen vergessen“, sagt AlGhariz, der wie Azzam normalerweise jeden Sommer für die Camps Breakerz nach Gaza geht. Die Proben für eine Choreografie namens „Still alive“ waren fast abgeschlossen, als der Krieg begann. Die Grenze wurde abgeriegelt, sie saßen fest. Dass der Titel der Show bald schon zur Realität werden würde, hätte damals keiner gedacht.
Ventil für die Traumabewältigung
Die Camps Breakerz wurden 2004 von AlGhariz’ älterem Bruder Mohammed aka Funk gegründet, für den Breakdance ein Heilmittel gegen das kontinuierliche Trauma jahrzehntelanger Gewalt ist. Der leidenschaftliche Tänzer spürte, dass ihm die Kombination aus Bewegung und Musik half, die Schwere des Lebens um sich herum zu verarbeiten. Das wollte er an junge Menschen weitergeben.
„Breakdance kennt keine Grenzen“, sagt Funk. „Wir lieben diesen Stil, da er uns erlaubt, unsere Gefühle als Tänzer auszudrücken.“ Die Idee, durch Tanz die Restriktionen der Belagerung zu durchbrechen, steckt auch im Namen der Crew, verbindet ihn mit dem Leben im Lager.
Zwar wurde Breakdance von der Gesellschaft anfangs mit Skepsis beäugt, doch bald waren nicht nur Funks Brüder infiziert, sondern die ganze Nachbarschaft. Junge Menschen jeden Alters trainieren mit den Camps Breakerz, bis zum Krieg gab es auch eine Mädchengruppe. „Es ist ein wichtiges Ventil für die Traumabewältigung“, sagt Ahmed AlGhariz.
Schon vor der aktuellen Eskalation war das Trauma der Kinder in Gaza groß. Die Organisation Save the Children veröffentlichte 2022 einen Bericht mit dem Titel „Trapped“, „gefangen“, in dem sie sich mit dem psychischen Zustand der jungen Menschen in der Enklave beschäftigte. Die Ergebnisse wurden mit der letzten Befragung aus dem Jahr 2018 verglichen: 84 Prozent der Befragten gaben an, sich ängstlich zu fühlen (50 % im Jahr 2018), knapp 80 Prozent fühlten sich nervös (55 %), deprimiert (62 %) oder traurig (55 %).
Es ist bekannt, dass sich kumulatives Durchleben chronischer Gewalt, wie es die Menschen in Gaza seit Jahrzehnten tun, auf die psychische Gesundheit und die Entwicklung der Kinder auswirkt. Studien wie die von Save the Children belegen auch, dass sie, selbst wenn sie desensibilisiert wirken, tiefgreifend betroffen sind und dies auch bleiben – es sei denn, sie bekommen eine Chance, sich davon zu erholen.
Beim Tanzen den inneren Frieden spüren
Hier kommt der Tanz ins Spiel. Ahmed AlGhariz hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht: Er absolvierte eine Ausbildung zum Traumaberater und Tanzpädagogen, was ihm ermöglicht, sein intuitives Verständnis von Trauma und Bewegung professionell umzusetzen.
Es hat Wirkung: „Einer der Jungen, Karim, sagte uns in dieser Zeit, dass er inneren Frieden spürt, wenn er tanzt“, erzählte Funk. Ein anderer junger Tänzer, Jo, sagte: „Mir war vor diesem Workshop langweilig. Als ihr kamt, fühlte ich mich viel besser.“
Direkt zu Beginn des Angriffs gingen AlGhariz und Azzam in die zu Flüchtlingslagern umfunktionierten UN-Schulen in Nuseirat, wo sie mit Tanzworkshops und Shows für ein bisschen gute Stimmung sorgten.
Doch die Arbeit dieses Mal ist schwieriger als in den Kriegen zuvor. Inzwischen ist sie sogar fast unmöglich. „Der Einzige, der jetzt noch bleibt, ist Moussa. Er ist 18 Jahre alt und versucht weiterzuarbeiten, aber es ist unglaublich schwierig“, sagt Ahmed AlGhariz. Alle sind verstreut nach der Flucht, von einigen der jungen Tänzer fehlt jede Spur. Das Telefonnetz ist zusammengebrochen. „Moussa tanzt mit neuen Kindern, von denen wir wissen, wo sie sind.“
Nach fast vier Monaten sickert langsam auch das Ausmaß der Bombardierungen durch. „Nie hätten wir gedacht, dass so etwas passieren kann, dass ganz Gaza-Stadt zerstört wird“, sagt Funk. Alles ist kaputt: Krankenhäuser, Schulen, Bühnen.
Es blieb nicht bei der physischen Zerstörung von Kulturstätten. Die Camps Breakerz erlitten auch persönliche Verluste. Walid, ein elfjähriger junger Tänzer, der die Tanzschule regelmäßig besuchte, wurde mit seiner Familie bei einem israelischen Raketenangriff getötet. „Es gibt unzählige traurige Geschichten“, sagt Funk, der aus der Ferne hilft, Spenden für die Crew zu sammeln und Bewusstsein über die Lage in Gaza zu schaffen. Am 23. Februar bombardierte Israel die Straße der Campsbreakerz. Dabei wurden zwei kleine Mädchen, die in der Schule tanzten, und ihre Familien getötet. Das Tanzzentrum wurde zu großen Teilen zerstört.
Die Tänzer wissen, wie wichtig ihre Interventionen sind, auch wenn es oft für sie selbst schwer ist. „Wir müssen unsere psychische Gesundheit stabil halten und versuchen, uns ein wenig zu konzentrieren“, sagt AlGhariz. Er ist sich bewusst, dass die mentale Gesundheit der Erwachsenen stabil sein muss, um die psychische Gesundheit der Kinder aufrechtzuerhalten.
„Keiner weiß, was als Nächstes passiert“, sagt Azzam. Ein Ende ist nicht in Sicht, sie leben von Tag zu Tag, hoffen, dass ihre Leute überleben. Jetzt, wo nur Moussa verbleibt, ist jede Instagram-Story von ihm ein Zeichen: „We’re still alive.“
Das Trauma der Kinder in Gaza ist groß – Bewegung kann helfen