Die Utopie

Psychotherapie ohne Wartezeit

Nicht alle Therapeut:innen dürfen über die gesetzliche Krankenkasse abrechnen. Auch die regionale Versorgung unterscheidet sich immens. Das führt oft zu monatelangen Wartezeiten für Patient:innen, die auf der Suche nach einem Platz sind. Doch es gäbe und gibt kurz- und langfristige Lösungen.

Das ist das Problem

Viele Psychotherapie-Praxen sind überlastet. Je länger die Wartezeit auf einen Therapieplatz, desto höher der Leidensdruck und das Risiko, dass psychische Erkrankungen schlimmer oder chronisch werden. Rund 50 Prozent der Suchenden warten derzeit länger als einen Monat auf ein Erstgespräch. Gut sechs Monate verstreichen, bis ihre Therapie tatsächlich beginnt, so ein Report der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) vom Oktober 2022.

Das liegt nicht daran, dass es zu wenige Psychotherapeut:innen gibt, sondern an der begrenzten Anzahl an Kassensitzen in Deutschland. Heißt: Nicht alle Therapeut:innen dürfen über die gesetzliche Krankenkasse abrechnen. 2021 hatten 33.000 dieses Recht. Und die regionale Versorgung unterscheidet sich immens. Wie viele Therapeut:innen wo nötig sind, wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegt. In Sachsen-Anhalt kamen 2018 auf 100.000 Einwohner:innen etwa 22 Therapeut:innen, in Berlin 72.

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Das ist der Impuls

Im Koalitionsvertrag kündigte die Regierung im November 2021 eine Reform der Bedarfsplanung an, um „Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten deutlich zu reduzieren“. Die Ampelkoalition hätte hier die zentralen Knackpunkte erkannt, kommentierte die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK).

Zuletzt stiegen die wöchentlichen Anfragen in Kassenpraxen vom Vor-Corona-Januar 2020 bis Juni 2022 um 42 Prozent, in Privatpraxen sogar um 62. Deshalb startete der Verein Deutsche Depressionsliga, der Patient:innen vertritt, Anfang Oktober 2022 eine Petition unter dem Hashtag 22WochenWarten. Mehr als 110.000 Menschen unterstützten die Forderung an die Bundesregierung, ihr Reformversprechen einzulösen.

Das ist die Lösung

Ein wichtiger Schritt ist die Strukturreform des G-BA als Reaktion auf die langen Wartezeiten: Sie verpflichtet Therapeut:innen seit 2017 wöchentliche Sprechstunden durchzuführen, um einen schnellen Erstkontakt zu ermöglichen. Dabei kann auch auf alternative Hilfsangebote verwiesen werden, etwa stationäre Behandlungen, Beratungsstellen oder Selbsthilfe. Um das Kapazitätsproblem zu lösen, fordern Verbände, die Anzahl der Kassensitze per Region „morbiditätsorientiert“, also nach soziodemograischen Merkmalen und Häufigkeit der psychischen Erkrankungen zu planen.

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Ein Gutachten des G-BA kam 2018 auf knapp 2.400 fehlende Sitze, die es zu ergänzen gilt – bisher wurde davon etwa ein Drittel aufgestockt. Eine kurzfristige Lösung sind Kostenerstattungen: Warten Kassenpatient:innen länger als drei Monate, dürfen sie sich theoretisch an Privatpraxen wenden. Laut einer Umfrage der DPtV werden aber etwa 48 Prozent der Erstanträge nicht bewilligt. Hier braucht es einen toleranteren Kurs. Um die Wartezeit zumindest zu überbrücken, könnten digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) hilfreich sein. Einige Online-Kurse werden bereits von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, etwa von HelloBetter (Stress und Burnout) und Selfapy (Depression).

Foto: IMAGO / Zoonar

Zuletzt stiegen die wöchentlichen Anfragen in Kassenpraxen vom Vor-Corona-Januar 2020 bis Juni 2022 um 42 Prozent, in Privatpraxen sogar um 62.

Linda Kerbl

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