Ein Mann kommt zum Arzt, sagt: „Ich wache immer wieder nachts auf, krümme mich vor Schmerzen, übergebe mich. Schmerztabletten wirken oft nicht. Mein Bauch schwillt zu einer harten Kugel an. Ich habe selten Sex, und wenn, tut es weh.“ Der Arzt stellt keine weiteren Fragen, zum Beispiel, ob der Mann wegen der Krämpfe auch mal bei der Arbeit ausfällt. Oder ob der Schmerz ausstrahlt, in den Rücken oder Kopf etwa. Der Arzt sagt: „Das ist in ihrem jungen Alter normal.“ Es wird knapp acht Jahre dauern, bis der Mann Klarheit hat. Zu dem Zeitpunkt wird er womöglich schon unfruchtbar sein. Diagnose: Endometriose.
Ein unwahrscheinliches Szenario. Nicht, weil Männer keine Endometriose haben können. Aber dazu später mehr.
Endometriose ist eine stille, unsichtbare Volkskrankheit. Eine von zehn Frauen im gebärfähigen Alter ist betroffen, zu Menschen mit anderen Gendern gibt es kaum belastbare Daten. Weltweit sind schätzungsweise 190 Millionen Menschen erkrankt, davon über zwei Millionen in Deutschland. Deutlich mehr als an Diabetes Typ 1 oder Rheuma. Dennoch ist die Krankheit unbekannter. 40 bis 50 Prozent der Frauen, die ungewollt kinderlos bleiben, haben Endometriose.
Verantwortlich sind Gebärmutterschleimhaut-ähnliche Zellen, die außerhalb der Gebärmutter, meist im Bauchraum, einwachsen und sich entzünden. Befallen sie Reproduktionsorgane wie Eierstöcke und Eileiter, stört das die Eizellproduktion und -einnistung. Wachsen die Zellen stattdessen in die Gebärmuttermuskulatur ein, spricht man von Adenomyose; häufige Folge: Fehlgeburten. Je früher eine Endometriose oder Adenomyose also erkannt und behandelt wird, desto besser für Singles und Paare, die einen Kinderwunsch haben. Patientinnen mit unerfülltem Kinderwunsch warten im Schnitt drei Jahre auf eine Diagnose, Patientinnen, die wegen starker Schmerzen zum Arzt oder zur Ärztin gehen, zehn Jahre.*
Wie kann das sein?
Zurück zum Anfangsszenario: Ein Mann kommt zum Arzt – und wird nicht ernst genommen. Unwahrscheinlich, denn männlicher Schmerz ist besser erforscht und wird besser behandelt als weiblicher Schmerz. Obwohl Frauen öfter unter Schmerzerkrankungen leiden als Männer. Das nennt sich Gender-Pain-Gap. Einerseits sprechen Frauen offener über Schmerzen. Andererseits stimulieren Hormone im weiblichen Körper Schmerzrezeptoren stärker als im männlichen. Als Prototyp diente allerdings lange der Mann; Arzneimittel wurden nur an seinem Leib getestet.
„Dieser Gap ist seit mehr als 20 Jahren wissenschaftlich belegt“, sagt Laura Wortmann, Wissenschaftlerin am Lehrstuhl für geschlechtersensible Medizin der Universität Bielefeld. Viel getan hat sich nicht: „Frauen sind auch heute noch unterversorgt, wenn es um Schmerzen geht.“ Zahlreiche Studien des vergangenen Jahres zeigen, so Wortmann, dass Frauen mit akuten Schmerzen in der Notaufnahme später adäquate Medikamente bekommen als Männer. Ihnen werden statt Schmerzmitteln häufiger Psychopharmaka und Antidepressiva verschrieben. Sie werden seltener zu Spezialist:innen und in Rehas überwiesen. Bei chronischen Schmerzen sei die Lage umgekehrt: Frauen erhalten deutlich mehr Schmerzmittel, sogar Opiate, was wiederum das Risiko von Abhängigkeiten erhöht.*
Wer tiefer nach Ursachen gräbt, stößt auf – Hysterie. „Hysterie ist die älteste psychische Diagnose“, erklärt Wortmann. Beschrieben wurde sie schon vor Christus. Offiziell abgeschafft erst Ende des 20. Jahrhunderts. Hysterie stammt von Hystera – Griechisch für Gebärmutter. Dass nur bei Frauen Hysterie diagnostiziert wurde, ist insofern keine Überraschung. Mit ihrem Fortpflanzungsorgan verknüpfte Mann zuletzt folgende Krankheitsbilder: hysterische Neurose (paranoides, hypochondrisches Verhalten) und hysterische Persönlichkeitsstörung (übertrieben theatralisches Verhalten).
Und was hat das alles mit Endometriose zu tun?
Hysterie war eine Sammeldiagnose für Symptome, die erst mal unerklärlich sind. Auch bei Endometriose ist die Symptomliste lang. Wie stark welche Symptome ausgeprägt sind, variiert extrem. „Viele der Frauen, bei denen im 18. und 19. Jahrhundert Hysterie festgestellt wurde, könnten Endometriose gehabt haben. Denn in den Fallbeschreibungen ist die Rede von extremen Menstruationsschmerzen, starkem Blutverlust und Unfruchtbarkeit“, so Wortmann. „Endometriose ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Hysterie-Denkweise immer noch verbreitet ist.“
Denn: Entdeckt wurde Endometriose schon vor 103 Jahren, erforscht ist sie bis heute kaum. Mehr Aufmerksamkeit bekommt sie, seit Australien 2018 einen Nationalen Aktionsplan gegen Endometriose verkündete und Frankreich 2022 folgte. Medial wird inzwischen viel berichtet – und verallgemeinert. Die Ärztin Nadine Rohloff sagt: „Die Krankheit ist so komplex und untererforscht, dass schnell Mythen und Falschaussagen entstehen.“ Bis 2018 hat Rohloff am Endometriosezentrum in Münster gearbeitet, 2020 entwickelte sie die Endo App: eine zertifizierte digitale Gesundheitsanwendung (DiGA), die Menschen mit Endometriose im Alltag unterstützt.
Rohloff sagt, dass sich einige Mythen auf die allererste Entstehungstheorie zurückführen lassen. Der US-amerikanische Gynäkologe John A. Sampson nahm in den 1920er-Jahren an, dass bei der sogenannten retrograden Menstruation mit dem Periodenblut auch Zellen aus der Gebärmutter durch die Eileiter in den Bauchraum gelangen und sich dort festsetzen. „Aus dieser Theorie entstand etwa der Irrglaube, dass Endometriose nicht wiederkommen kann, wenn sich Frauen die Gebärmutter entfernen lassen“, so Rohloff. Nicht alle Endo-Fälle lassen sich mit Sampsons Theorie erklären.
Inzwischen wissen wir, dass die retrograde Menstruation bei 90 Prozent der Frauen vorkommt, nur haben nicht 90 Prozent aller Frauen Endometriose. Deshalb gehen Expert:innen davon aus, dass an der Entstehung Stammzellen beteiligt sind: Starke Periodenkrämpfe können winzige Verletzungen, „Mikrotraumen“, in der Gebärmutterwand verursachen. Um sie zu heilen, werden dort ansässige Stammzellen aktiviert. Wandern die Zellen ab, kann Endometriose/Adenomyose entstehen. Das Sexualhormon Östrogen tut sein Übriges. Es stimuliert die Zellen versehentlich mit, da sie der Gebärmutterschleimhaut ähneln. So wächst Endometriose. Das bringt uns zum ersten von insgesamt vier Mythen.
Mythos 1: Nur Frauen können Endometriose haben
Endometriose wurde auch bei Männern nachgewiesen. An der Blase, Bauchwand und in der Leistengegend. Betroffen sind meistens Krebspatienten, die eine hochdosierte Östrogentherapie hinter sich haben. Auch wenn die Dunkelziffer vermutlich höher ist – zumal auch Transmänner unter Endometriose leiden –, sind diese Fälle extrem selten. In der Literatur sind weniger als 20 Erkrankungen bei cis-Männern beschrieben. Doch die Fälle untermauern eine Erkenntnis der Wissenschaft: Je mehr Östrogen im Körper, desto höher das Endometrioserisiko. Östrogen regt also das Wachstum der Entzündungsherde an. Umso seltsamer ist: Frauen, die unter Endometriose leiden oder im Verdacht stehen, sie zu haben, werden mit östrogenhaltigen Pillen (Antibabypillen) behandelt. Wie kann das sein? Auf zum nächsten Mythos.
Mythos 2: Die Antibabypille ist ein Medikament gegen Endometriose
Verhütungspillen sind nicht als Medikamente gegen Endometriose zugelassen und werden daher auch nicht von den Krankenkassen übernommen. Östrogenfreie Präparate dagegen schon: Mittel wie Endovelle, die nur das Hormon Gestagen enthalten. Gynäkolog:innen sollen sie anderen Hormontherapien vorziehen. Wird Gestagen nicht vertragen, greifen viele auf sogenannte Kombipillen zurück. Diese enthalten Gestagen – und Östrogen. Zwar weniger als andere Antibabypillen, aber: Werden sie falsch eingenommen, kann der Östrogengehalt im Körper steigen und eine Endometriose verschlimmern. Falsch heißt: nicht täglich, sondern mit Unterbrechung. Nur wenn der Körper täglich synthetische Hormone zugeführt bekommt, senkt er dauerhaft seine eigene Östrogenproduktion. Dann steigt der Östrogenspiegel insgesamt nicht an, trotz östrogenhaltiger Pille. Doch hat man sie früher leider anders verschrieben, sagt Expertin Sylvia Mechsner: 21 Tage einnehmen, sieben Tage pausieren (oder sieben Placebo-Pillen schlucken, je nach Hersteller). „Frauen, die schon starke Regelschmerzen hatten, entwickelten danach häufiger eine schwerwiegende Endometriose.“ Mechsner leitet das Endometriosezentrum an der Charité Berlin und forscht zur (Schmerz-)Entstehung von Endometriose.
Sieben Tage Hormonpause ist für Betroffene noch aus einem anderen Grund gravierend: Durch den plötzlichen Östrogenentzug kommt es zu sogenannten Abbruchblutungen und Krämpfen. So ist der Körper regelmäßig im Regenerationsmodus, muss winzige Verletzungen heilen, Stichwort „Mikrotraumen“. Weitere Zellen können dabei abwandern.
Behauptungen wie „Nur ein Zyklus mit Blutung ist natürlich und gesund“, sieht Mechsner daher kritisch. „Wir sind nicht auf der Welt, um zu bluten. Es geht dabei um Reproduktion. Noch vor 100 Jahren haben Frauen nur 40 Mal in ihrem Leben geblutet, weil sie schwanger waren, gestillt haben, wieder schwanger waren. Heute bluten sie 400 Mal. Das heißt natürlich nicht, dass wir ständig schwanger sein sollten. Wir sollten uns nur klarmachen: Je mehr Zyklen jemand hat, desto höher das Risiko für Erkrankungen wie Endometriose, aber auch Brust- und Eierstockkrebs.“
Mythos 3: Wer eine Diagnose will, muss sich operieren lassen
In vielen Medienberichten heißt es, die einzige Diagnosemethode sei eine Bauchspiegelung. Dabei werden unter Vollnarkose vier Schnitte gemacht, um den Bauchraum mit Kamera und Instrumenten nach Endometrioseherden abzusuchen und sie direkt zu entfernen. De facto ist die OP Teil der Behandlung – und auch das nur in Einzelfällen. Mechsner: „Es kommt viel zu häufig zu unnötigen Operationen. Das ist ein Fehlanreiz im Gesundheitssystem: Eine OP wird eher bezahlt als ein Gespräch.“ Die Expertin empfiehlt OPs nur, wenn schwanger werden nicht klappt, Hormontherapien nicht vertragen werden oder die Schmerzen trotz Therapie nicht aufhören. Denn Endometriose und Adenomyose lassen sich auch am Ultraschall (oder MRT) erkennen, in Kombination mit einem ausführlichen Gespräch, der Anamnese.
Das könnten auch Gynäkolog:innen in ihren Praxen leisten, nicht nur Spezialist:innen in zertifizierten Endometriosezentren. Theoretisch. Praktisch gibt es zwei Hürden: fehlende Erfahrung und Zeit. „Niedergelassene können für Beratung und körperliche Untersuchung 6 Euro, mit Ultraschall maximal 47 Euro abrechnen“, so Mechsner. Nehmen sie sich also genug Zeit für Anamnese und Ultraschall, arbeiten sie quasi umsonst. Bei einer vernünftigen Anamnese wird hinterfragt, wie sich Symptome und Schmerzen auf den Alltag auswirken.
„Jahrzehntelang wurde Frauen gesagt, es sei völlig normal, wenn sie während der Monatsblutung am Boden liegen, brechen und Durchfall haben“, so Mechsner. „Jetzt, wo wir alle verstanden haben, dass derart starke Regelschmerzen nicht normal sind, müssen wir endlich die richtigen Bedingungen schaffen, damit niedergelassene Gynäkolog:innen Endometriose begleiten können“, heißt: mehr Geld und Schulungen. Mechsners Endometriosezentrum in Berlin bekomme 40 Anfragen pro Tag. Auf einen Termin warte man ein Jahr. Fachkräfte stehen unter Druck. Zwischen 2012 und 2022 stieg die Anzahl der Diagnosen um 65 Prozent.
Kann der Speicheltest Abhilfe schaffen?
Seit Anfang 2023 können Gynäkolog:innen in ihren Praxen einen Speicheltest zur Endometriose-Erkennung durchführen. Der funktioniert ähnlich wie ein Covidtest. Revolutionär, wäre da nicht die maue Studienlage und der Preis für Patient:innen: 800 Euro. Außerdem kann der Test bislang nur Endometriose und keine Adenomyose erkennen. Wie viele davon betroffen sind, ist noch schwer zu sagen. Dennoch: Ein solches Diagnosetool, sobald bezahlbar und verlässlich, würde Patient:innen im jetzigen System auf deutlich angenehmere, schnellere Weise Klarheit bringen.
Mythos 4: Schwangerschaft kann Endometriose heilen
Immer skeptisch machen sollte das Wort „heilen“ in Verbindung mit Endometriose. Nadine Rohloff: „Wir kennen bis heute die Ursache für Endometriose nicht, daher lässt sich die Krankheit mit den verfügbaren Methoden auch nicht an der Ursache bekämpfen, also nicht heilen.“ Hormontherapien können die Symptome etwas lindern und das Wachstum der Herde stoppen. Zusätzlich finden Betroffene in Apps wie period. (mitentwickelt von Sylvia Mechsner) und Rohloffs Endo App Tipps für ihren Alltag, von Entspannungsübungen bis Ernährung.
Was allerdings stimmt, ist: Während der Schwangerschaft steigt der Progesteronspiegel, einige Betroffene haben weniger Beschwerden. Die Stillphase ist noch günstiger – keine Blutung, kein Eisprung, eine Art künstliche Menopause. Nach der Stillphase reguliert sich der Hormonhaushalt aber wieder, und die Beschwerden kehren zurück.
Und jetzt?
Immerhin: Auch wenn sich noch viele Mythen um die Krankheit ranken, ist das Bewusstsein gestiegen. 2022 wurden 65 Prozent mehr Diagnosen gestellt als noch 2012. Patient:innen und Mediziner:innen sind sensibilisierter. Plus: Immer mehr Frauen gehen in die Medizin – sie machen heute 70 Prozent der Student:innen und Gynäkolog:innen aus.
Doch dieser Effekt dürfte Grenzen haben. Zu tief hat sich der Gender-Pain-Gap ins Gesundheitssystem gebrannt, sagt Laura Wortmann von der Universität Bielefeld. Die oftmals männlichen Professoren und Chefärzte leben bis heute Denkmuster vor, wie: „Patient:innen mit Menstruationsschmerzen in der Notaufnahme? Vollkommen übertrieben“, erinnert sich Wortmann, die bis 2020 selbst Medizin studiert hat. „Diese Strukturen dekonstruieren sich nicht allein dadurch, dass es mehr Ärztinnen gibt.“
Also? Die Endometriose-Vereinigung Deutschland setzt sich für einen Nationalen Aktionsplan ein, Vorbilder sind Australien und Frankreich. Auch auf EU-Ebene ist sie aktiv. Neben deutlich mehr Sichtbarkeit würde das vor allem mehr Gelder bedeuten.
Australien hat seit 2018 knapp 53 Millionen Euro in die Forschung, Aufklärung und Versorgung von Betroffenen investiert, konkret etwa in Bildungsprogramme, die Schüler:innen der 10. Klasse über Endometriose unterrichten. 2022 hat Frankreich 25 bis 30 Millionen Euro versprochen. Das trägt offenbar erste Früchte: Aus Frankreich stammt der Speicheltest zur Diagnose; australischen Forschenden ist es erstmals gelungen, Gewebe der verschiedenen Endometrios-Arten zu züchten. So lassen sich Behandlungsmethoden testen.
Und Deutschland? Investiert seit 2023 fünf Millionen Euro pro Jahr, fünf Jahre lang. Ein großer Sprung von 500.000 Euro in den 20 Jahren zuvor. Aber immer noch ein „Tropfen auf den heißen Stein, bei einer bislang vollkommen untererforschten und hoch komplexen Erkrankung wie Endometriose“, kritisiert die deutsche Endometriose-Vereinigung. Anträge auf mehr Gelder wurden von der Regierung zuletzt 2023 abgelehnt. Noch nicht angekommen zu sein scheint: Endometriose ist kein „Frauenproblem“. Weil sie sich auf das Sexleben von Paaren auswirken und unfruchtbar machen kann, betrifft sie alle Geschlechter. Ganz zu schweigen von der volkswirtschaftlichen Dimension: Wer sich vor Schmerzen krümmt, fällt bei der Arbeit aus. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nennt Endometriose daher richtigerweise „ein gesellschaftliches Problem“. Und Greg Hunt, Australiens damaliger Gesundheitsminister, entschuldigte sich 2017 öffentlich bei allen Betroffenen. „Diese Krankheit hätte schon früher anerkannt werden müssen. Und sie wird nie wieder in Vergessenheit geraten.“
* Zu Menschen, die anderen Gendern angehören, gibt es kaum belastbare Daten.
Endometriose kann zum Beispiel mit einer Bauchspiegelung diagnostiziert und behandelt werden. Dafür werden mehrere Schnitte am Bauch gemacht.