Bikepolo und Rollatorgymnastik

Sportvereine können mehr

Sportvereine können mehr als Turniere und Bierfest. Modernisieren sie sich, sind sie Stützpfeiler der Demokratie, sozialer Kitt und Jugendclub.

Als Angela Verse-Aprile mit zehn Jahren in den „Turnverein von 1861“ einsteigt, hängt noch der Muff alter Zeiten im ehemaligen Männerturnclub des niedersächsischen 30.000-Einwohner:innen-Städtchens Verden. Doch Verse-Aprile liebt das Turnen. Mit fünfzehn schafft sie es zur Trainerin, ein Novum im Verein. Kämpft in den 1980er-Jahren, als die Fitnesswelle durchs Land schwappt, für eine moderne Nutzung der geplanten neuen Vereinshalle, Aerobic, Steptraining, Bauch-Beine-Po-Kurse – Spiegelwand und Musikanlage inklusive. „Wir sind doch keine Disco!“, „Wo bleibt unser Turnsport?“, schimpfen die Alteingesessenen. „Die Welt dreht sich weiter“, entgegnen die Modernisierer:innen. Und gewinnen. Zwei Jahre nach Hallenneubau und Konzeptwechsel hat sich die Mitgliederzahl des Vereins verdoppelt. Das Sich-immer-wieder-neu-Erfinden ist seitdem Teil seiner DNA. Verse-Aprile: „Das macht uns stark.“ Seit 2002 ist sie hauptamtliche Geschäftsführerin des „Turnvereins von 1861“. Mit mehr als 1.000 Mitgliedern ist er heute der größte in der Region.

Das Vereinswesen gehört zu Deutschland wie die Bratwurst und das Schützenfest. Vor knapp 200 Jahren von der Obrigkeit erdacht, um die aufkeimenden Ideen von Freiheit und Gleichheit in unpolitische Bahnen zu lenken, entwickelte sich diese Form des Zusammenschlusses zur urdeutschen Lesart zivilgesellschaftlichen Engagements. Mit dabei war von Anfang an der Sport: Die Turnvereine des Pädagogen Friedrich Ludwig Jahn gehörten zu den ersten Vereinen im 19. Jahrhundert. Zu Tausenden versammelten sich junge Männer zu geselligen, national-patriotischen Leibesübungen. Und heute? Sportverein, das klingt nach dunklen, holzgetäfelten Stuben, Tagesordnung und Kassenwart. Nach rauem Ton, Schweiß und männlichem Machtgerangel. Verstaubt, spießig, überholt. „Seit den 1950er-Jahren wird der Niedergang von Sportvereinen prognostiziert“, sagt Christoph Breuer, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln. „Doch in Wahrheit sind sie eine erstaunliche Erfolgsgeschichte.“ Biegsam und anpassungsfähig an den Geist der Zeit wie der Turnverein Verden.

Die Fotos in diesem Beitrag zeigen die Rugby-Damen des TuS Fürstenfeldbruck, aufgenommen von Elisabeth Leonhard, 2001.

Stabile Entwicklung

Die Erfolgsgeschichte belegt schon ein Blick auf die Zahlen: Seit 1982 ist die Anzahl der Sportvereine um fünfzig Prozent gestiegen und in den letzten zwanzig Jahren stabil geblieben. Heute sind etwa 90.000 Sportvereine mit 27 Millionen Mitgliedern im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) organisiert, hinzu kommen Tausende ohne Verbandsanbindung. Laut ZiviZ-Survey (Zivilgesellschaft in Zahlen) des Deutschen Stifterverbands von 2017 ist jeder fünfte Verein der Republik ein Sportverein. Und in keinem anderen Bereich der Zivilgesellschaft engagieren sich die Mitglieder dabei so oft freiwillig für ihren Verein: Jede:r Sechste packt mit an. Es ist längst nicht einfach der Sport, der die Deutschen in Vereine lockt, es ist das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Erst Auspowern, dann mit Bier oder Smoothie zur Plauderrunde ins Vereinsbistro. Wo Kirchen, Parteien und Gewerkschaften an Bedeutung verlieren, werden Sportvereine „immer wichtiger als Orte der freiwilligen Vergemeinschaftung, an denen sich Menschen aus allen Schichten begegnen und etwas miteinander machen“, resümiert Sportsoziologe Breuer. Das belegen viele Studien, allen voran die Sportentwicklungsberichte, die in Deutschland seit 2004 die Vereinslandschaft unter die Lupe nehmen. Längst steht demnach oft nicht mehr Leistung im Vordergrund, sondern die „Gemeinwohlorientierung“. Sportvereine kümmern sich um Senior:innensport in einer alternden Gesellschaft, wie der Turnverein 1848 Erlangen, der Hochbetagte aus den Dörfern der Region einmal die Woche per Minibus zur Rollator-Gymnastik in der Vereinshalle einsammelt. Oder sie bauen auf Wunsch von Geflüchteten in der Region eine „integrative Sektion Cricket“ auf wie der SG Einhalt Halle. Springen unbürokratisch in Krisen ein wie der Verein „I can do“ aus Hannover, der in der Pandemie Konzepte für Sport auf Abstand entwickelte.

Der Vorteil am Sportverein: „Über den Inhalt Sport erreicht man viele Menschen, unabhängig von Bildung und Herkunft“, sagt Olaf Ebert von der Stiftung Bürger für Bürger in Halle. „Die Form Verein liefert einen nützlichen organisatorischen Rahmen: Er sichert die Träger juristisch ab, verschafft Zugang zu staatlichen Fördermitteln, öffentlichen Sportanlagen und über die Sportverbände das Recht auf die Teilnahme am bundesweiten Wettkampfsport.“ Und ein Verein ist leicht zu gründen: ein Vorstand, eine Satzung, sieben Personen und die Anmeldung im Vereinsregister – fertig. „Damit Sportvereine dauerhaft zukunftsfähig bleiben, müssen sie sich allerdings immer wieder neu erfinden“, so Holger Krimmer, wissenschaftlicher Leiter des ZiviZ-Survey. Denn das Ehrenamt hat sich ebenso verändert wie die Erwartungen der Mitglieder. Kassenwart? Vorstand? „Das wollen nur noch wenige machen“, so Krimmer.

Flexibler Sportmix

65 Prozent der Sportvereine finden nur noch schwer Menschen, die langfristige Funktionen übernehmen wollen. Eher helfen sie mal beim Grillfest oder einem Sportcamp. Projektweise, unverbindlich. Genauso flexibel wünschen sich die meisten das Sportangebot: lieber ein Mix von Angeboten als feste Leistungsgruppen zu fixen Terminen. „Viele Sportvereine werden deshalb dienstleistungsorientierter“, sagt Sportsoziologe Breuer. Und zimmern sich ein Repertoire aus Basisangeboten für Mitglieder und kommerziellen Toppings – wie der Turnverein in Verden.

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Viele Sportvereine haben heutzutage Schwierigkeiten Mitglieder zu halten. Neue Sportangebote können helfen.

Auch hier ist die Zahl der Ehrenamtlichen in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich zurückgegangen – um zwei Drittel. Also muss Geschäftsführerin Verse-Aprile mehr Hauptamtliche einstellen, der Vorstand wurde auf vier Personen eingedampft. Die Kursbuchung läuft digital, das spart Arbeitszeit. Um all das zu finanzieren und neue Mitglieder zu locken, gibt es Trendsportarten wie Parkour oder Jump & Fun für Jüngere ebenso wie Gesundheitskurse für Ältere. Gegen Zuzahlung können Mitglieder Minikurse mit Intensivbetreuung buchen, seit Corona gibt es Online- und sogar Hybrid-Angebote. Dann fährt auf Knopfdruck eine große Kamera hinunter zur Freifläche unter der Glaskuppel der Halle und filmt die Trainer:innen beim Biegen und Dehnen vor ihrem Kurs, während die anderen auf dem Wohnzimmerteppich daheim mitmachen. Neuerdings sind Kurse für Menschen mit Handicap und Rabatte für Geflüchtete buchbar, ein Eltern-Kind-Café ist geplant.

Julian Eckmann schätzt, dass sich knapp 20.000 der 90.000 deutschen Sportvereine gerade auf diese Weise modernisieren. „Pluralisierung“ nennt er das. Eckmann ist Vorstand eines Tennisvereins bei Freiburg. Vor drei Jahren entwickelte er das digitale Kursbuchungstool Yolawo. 500 Sportvereine wie der TV Verden arbeiten bereits damit, vor allem von jungen Vereinsvorständ:innen kommen Anfragen: Was können wir noch tun? Dann schlägt Eckmann vor: Bietet doch 10er-Karten für Nichtmitglieder oder Staffelmitgliedschaften an; schafft flexible Angebote für Ü40-Members, die keine Lust mehr auf Wettkampf haben;
denkt ungewöhnlich, warum nicht Fitness und Badminton zu „Fitminton“ verbinden? Fusioniert mit Vereinen aus der Nachbarschaft, das
spart Personal für die Gremien; lockt Freiwillige mit Bonuspunkten; zerlegt große Vereinsposten in kleine Aufgaben. „Der Verein muss zum Menschen kommen, nicht der Mensch zum Verein. Aber vergesst dabei nie die Pflege des Miteinanders.“ Eckmanns Credo. Denn wenn sich ein Sportverein anfühlt wie ein Fitnessstudio, bleiben die Menschen weg.

Demokratie-Übungsraum

Miteinander? Gut so. „Aber Sportvereine können mehr“, meint Rolf Ahlrichs, Professor für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. „Sie sind eine Chance zur Teilhabe und ein wunderbarer Übungsraum für Demokratie.“ Vereine stehen allen offen, jedes Mitglied hat gleiche Mitspracherechte und gleiches Stimmrecht auf Mitgliederversammlungen. „Wenn Kinder und Jugendliche hier erleben, dass sie wirklich mitgestalten können, trauen sie sich später mehr zu.“

„Selbstwirksamkeit“ heißt das im Pädagog:innen-Jargon. Das gelingt nur, wo Vereine neue Strukturen schaffen. Da ist der Badmintonverein, in dem jede Gruppe ein eigenes Finanzbudget bekommt, damit sie selbst entscheiden kann, wann sie neue Bälle oder externe Trainer:innenstunden einkaufen will. Da ist der Kletterclub, der Wahlen mit einer Bouldernight und Kurzvorträgen verbindet: Warum wählen wir eigentlich? Ahlrichs: „Sportvereine sehen sich zunehmend als Ort von Bildung.“ Dabei strecken viele ihre Fühler in die Quartiere aus. Große Player wie der FC St. Pauli oder Eintracht Frankfurt haben längst eigene Jugendabteilungen, die in Workshops und Kampagnen Themen wie Demokratie, Antirassismus oder Menschenrechte und Sport aufgreifen. Die Begegnungsturniere mit Geflüchteten, Mitternachtsfußball im Quartier oder Feste für Mannschaften aus unterschiedlichen Milieus organisieren.

Sterne des Sports

Ahlrichs: „Bei Konflikten im Kiez rufen Bürgermeister:innen inzwischen oft als Erstes den Sportverein an.“ Einmal im Jahr zeichnet der DOSB Sportvereine für ihr gesellschaftliches Engagement aus, die „Sterne des Sports“. Zum Beispiel Congrav New Sports e.V. in Halle. Entstanden, um Skateboard-, Blading- und BMX-Sportler:innen zusammenzubringen, erkannten die Vereinsgründer:innen schnell: Unsere Streetsport-Arten eignen sich super, um auch an Jugendliche aus benachteiligten Familien heranzukommen. Seit 2009 ist Congrav daher nicht nur Sportverein, sondern auch Träger der Jugendhilfe. „So haben wir Zugang zu zusätzlichen Fördermitteln der Kommune und können viel in den Quartieren bewirken“, sagt Mitarbeiterin Paula Herzog. In Halle-Neustadt haben Congrav-Pädagog:innen die Beratungsstelle „Tumult“ eingerichtet, einmal die Woche schwärmen Vereinsmitarbeitende zu Schnuppernachmittagen in die Stadtteile aus, bepackt mit Skateboards, BMX-Rädern oder Cyr-Wheels, und stellen sich den Kids im Kiez vor. „Lust auszuprobieren? Schaut doch auch mal bei uns im Verein vorbei.“ Wer kein Geld für Mitgliedsbeitrag oder Sportgeräte hat, der kann zum Ausgleich ehrenamtlich anpacken, zum Beispiel beim Tresendienst.

Ein neues Konzept der Mitgliedschaft kann helfen, Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien für das Vereinswesen zu begeistern. So dienen Sportvereine auch als Jugendhilfe.

Inzwischen hat sich der Verein mit zwanzig anderen Trendsportarten – von Breakdance über Quidditch bis Bikepolo – im Netzwerk Trendsportring zusammengeschlossen. Einmal die Woche gibt es offene Trainings für alle Sportarten. „Das Zusammenspiel von flexiblem Netzwerk und strukturiertem Verein als Dachorganisation ist für unsere mobilen Sportarten perfekt“, sagt Herzog. „Gemeinsam bauen wir nun eine alte Obstsortierhalle in der Stadt zu einer Trendsporthalle aus – mit unseren Jugendlichen.“

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Henning Harnisch geht noch einen Schritt weiter: Er will Sportvereine in Schule und Stadtteil verankern. Harnisch war einst Basketballnationalspieler und Europameister, heute ist er Vizepräsident des Bundesligisten Alba Berlin und setzt sich dafür ein, die Integrationskraft des Sports für Benachteiligte zu nutzen: „Der Schulsport kann das Scharnier in die Kommunen sein.“ Grundsätzlich, so Harnisch, stoße er damit offene Türen auf. „Konkret aber wissen die meisten Sportlehrer:innen nicht mal, welche Vereine es in ihrer Umgebung überhaupt gibt.“

2021 hat Henning Harnisch die Initiative „Sport vernetzt“ mit angeschoben, um Kooperationen zwischen Sportvereinen, Kitas und Grundschulen in „strukturschwachen Sozialräumen“ aufzubauen. Trainer:innen und Pädagog:innen aus lokalen Sportvereinen gehen an die Schulen und machen dem Nachwuchs mit einem Strauß von Bewegungsangeboten Lust auf Sport – mit und ohne Basketball, spielerisch, spaßorientiert. Die Stiftungen Auridis und Beisheim fördern die Initiative, inzwischen sind Vereine aus ganz Deutschland dabei, von Werder Bremen bis Eintracht Stadtallendorf. Nur: „Mit Ehrenamt allein kommen wir langfristig nicht weit“, sagt Harnisch. „Wir brauchen ein anderes System.“

Im Zweifelsfall muss der Verein die Sache selbst in die Hand nehmen. An der Albert-Gutzmann-Grundschule im Berliner Stadtteil Wedding hat Alba 2021 das komplette Hortangebot übernommen – als Träger. Dreißig festangestellte Alba-Erzieher:innen arbeiten eng mit den Lehrkräften im Unterricht zusammen, bieten am Nachmittag eine Fülle von Sport-AGs, gruppenübergreifende Angebote und eine Bewegungszeit, knüpfen Kontakte zu Sportvereinen in der Nachbarschaft und bauen Organisationen wie den Safe Hub auf, der eine Fußball-AG mit Trainings für Sozialkompetenz unterstützt. Und wenn Topbasketballer:innen vom Alba-Team zu Besuch kommen oder die Kids beim Spiel in der brodelnden Berliner Mercedes-Benz Arena zur Pause selbst auf dem Feld dribbeln dürfen, dann ist es da – das Gefühl, dass Sport verbindet.

“Das Vereinswesen gehört zu Deutschland wie die Bratwurst und das Schützenfest.”

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