Der Bahnhof von Mücke sieht aus wie von der Gegenwart vergessen. Die Balken schnaufen unter der Last der Dachschindeln, das Fachwerk hat Risse bekommen, selbst auf den Graffiti an den Mauern liegt Patina. Ein Güterzug donnert vorbei, stumm eilen die Buchstaben über die Digitalanzeige auf der Plattform neben dem Gleis: Abfahrt Gießen, 19.13 Uhr. Niemand wartet hier, nur der Wind treibt eine Bierflasche am Bahnwärter:innenhäuschen entlang.
Da, plötzlich, geht es los.
Ein Auto rollt auf den Bahnhofs-Parkplatz, Lilian und Mo stemmen Bierkisten aus dem Kofferraum, stellen Flipchart, Tisch und Snackboxen auf. Da eilen auch schon Michael und Bodo herbei, schnappen sich Stühle aus der alten Bahnwärter:innenwohnung. Schnell ist der Sitzkreis aufgestellt, sind Getränke rumgereicht, Händeschütteln, Schulterklopfen, Hallo. Frau Brunn von der CDU-Gemeinderatsfraktion ist da, eine Künstlerin aus Hückersdorf, die leise Dame aus Nieder-Ohmen, die „gern anfasst, wo ihr mich brauchen könnt“; Thomas vom Karnevallsverein, Tänzer Frank, „künstlerisch vernetzt von Brasilien bis Ulrichstein“; ein Gewerkschaftskollege, ein Harley-Fan, vierzehn Leute, jung, alt, ein Baby und ein Hund. „Willkommen“, ruft Lilian. „Wie machen wir jetzt aus dem alten Bahnhof einen lebendigen Treffpunkt für uns alle?“
Nach zwei Stunden ist das Flipchart voll, sind monatliche Treffen beschlossen, Sanierungsstufen besprochen, der Kick-off steht: Kunst am Gleis im Oktober, mit Musiker:innen, Kuchen und Kinderprogramm, später vielleicht Techno, Piano und Sprayaktionen. Zu jeder Idee gesellen sich neue, gibt es Kontakte, Querverbindungen, Einfälle. Ich kenn da wen … Könnte man nicht … Da war doch mal … Es ist wie ein Musikstück, das sich vom leisen Auftakt zum tosenden Crescendo steigert. Ach, auch so geht Dorf?
Eine Villa Kunterbunt in Mücke
Irgendwo im Nirgendwo liegt Mücke, eine 9.500-Einwohner:innen-Gemeinde mitten im grünen Hessen. Zwölf Dörfer, ein Bürgermeister, sieben Kitas, drei Schulen, ein Eisladen, ein Rewe, ein Penny, der Grieche Hellas, der Landgasthof Alte Mücke, das Gartencenter Langohr und allerlei mehr. Die Busse fahren, die medizinische Versorgung steht, die Wanderungsbilanz ist positiv. Derzeit ziehen mehr Menschen nach Mücke als weg. Denn es tut sich was im Ort und seinen Teilen. Das Dorf ist im Aufbruch. Und doch zeigen sich hier die Bruchkanten zwischen Stadt und Land, die es in Mücke gibt wie in vielen ländlichen Gemeinden der Republik.
Lilian Lamadieu packt die leeren Getränkekisten ins Auto, schnallt Joy in den Babysitz und zieht die Schultern hoch: „Ohne Auto geht’s hier nicht.“ Der Weg führt durch eine sanfte Hügellandschaft, saftiges Grün, gelbe Ähren, von Alleen gesäumte Straßen. Rechts hinter dem Kornfeld geht es ab nach Ilsdorf, dem zweitkleinsten der zwölf Mücke- Dörfer. 217 Einwohner:innen, ein knappes Dutzend Straßen, zwei Friedhöfe, Pfadfinder:innenverein, Freiwillige Feuerwehr. Der Name auf dem Wegweiser ist rot durchgestrichen, dahinter Baustelle. Einheimische wissen, dass es trotzdem weitergeht, holprig über einen breiten Schotterweg, die Hauptstraße von Ilsdorf. Nach ein paar hundert Metern rechts das alte Dorfgemeindehaus, links eine Villa Kunterbunt. Rosenranken, wilde Blumen, Feuerstelle, pinke Telefonhörer in den Bäumen, Gemälde an den Hauswänden, Skulpturen und Sofas im Gras. Lilian Lamadieus Zuhause.
Vor sieben Jahren ist sie nach Stationen in Argentinien, Kenia und Konstanz hier hergezogen. Die Liebe zur Natur und die Lust auf ein anderes Leben haben sie nach dem Studium, internationale Entwicklungsstudien, gelockt. 2015 kaufte sie mit ihrem Mann Thomas, Fotograf aus dem französischen Avignon, das große Fachwerkhaus. Eine Idylle mit einem Schuss Kommunenflair, die es schon in den 1980er-Jahren hier gegeben hatte. Heute leben mit ihnen ein Pärchen aus Potsdam, ein pensionierter Pianist und seit 2021 ihre Schulfreundin Mo Kryger mit Mann Florian und Kind. Kryger: „Ich hatte genug von meinem Job in der Kölner Univerwaltung.“ Nun schlendert sie mit Spazierstock und Hut durch Felder und Dörfer und macht Podcasts aus Naturgeräuschen und Zaungesprächen mit der Nachbarschaft – „Zu Fuß zuhören“.
Ländlicher Sehnsuchtsraum
Landauf, landab gibt es sie in der Republik: die neue Lust aufs Land. Eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung von 2023 hat das gerade dokumentiert. „Seit etwa fünf Jahren ziehen mehr Menschen aufs Land, als weg“, bilanziert Studienbetreuerin Eva Eichenauer. Vor allem junge Familien, Menschen, die viel im Homeoffice arbeiten können, oder junge Rückkehrende nach Ausbildung oder Studium zieht es aufs Dorf. Wohnraum ist billiger, ein Hauskauf oft noch realistisch, die Bilder vom Leben und Aufwachsen im Grünen, von Freiräumen und entspanntem Landdasein verfangen. Zwar gleichen Zuzug und Geburten die hohen Sterberaten der überalterten Landbevölkerung laut Eichenauer nicht aus. Doch der Wanderungstrend zeigt, was sich nach Einschätzung von Landforscherin Annett Steinführer vom Tühnen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen in Braunschweig schon seit knapp zehn Jahren andeutet: „Das Land wird nicht mehr als ‚Restraum‘ beschrieben, sondern als Sehnsuchtsraum beschworen – wieder einmal.“
Denn die Wanderungen zwischen Stadt und Land gleichen einer Pendelbewegung. In den 1960er/70er-Jahren trieben Wohlstand, wachsende Mobilität und der Traum vom Eigenheim die Menschen immer weiter raus in die grünen Regionen rund um die Städte. In den späten 1980ern legten die Städte wieder zu, vor allem wegen internationaler Zuwanderung. Nach der Wende war günstiger Wohnraum auf dem Dorf gefragt, egal ob Haus oder Mehrfamiliensiedlung, es folgte ein Trend zur Stadt in den 2000ern und die neue Landlust heute.
Dabei gibt es nicht mal klare Kriterien: Wo hört das Land auf, wo fängt es an. Oder wie Siedlungssoziolog:innen sagen: „die ländlichen Räume“. In seinem Landatlas definiert sie das Thünen-Institut unter anderem anhand von Siedlungsdichte, land- und fortwirtschaftlicher Fläche und Entfernung zu Zentren. Etwa 57 Prozent der Menschen in Deutschland leben demnach auf dem Land. „Aber letztlich sind diese Kriterien nur einige von vielen möglichen“, so Steinführer. „Aus wissenschaftlicher Sicht verschwimmen Stadt und Land längst.“ Lebensstile, Berufe, soziokulturelle Merkmale gleichen sich an. Was die Wissenschaftlerin überrascht: „Unsere Studien zeigen, wie phänomenal wichtig trotzdem die Gegenüberstellung Stadt–Land für die Menschen bleibt“.
So gefragt sie jetzt auch sind, viele kleine Gemeinden haben nach wie vor mit altbekannten Problemen zu kämpfen: Der öffentliche Nahverkehr ist oft schwach, Treffpunkte fehlen, Kneipen und Gemeindehäuser schließen, der Dorfladen wird vom Supermarkt im Gewerbegebiet verdrängt, Vereine finden nur schwer Nachwuchs. Das Miteinander bröselt. Bei ihrer Feldforschung hört Soziologin Eichenauer vom Berlin-Institut oft: „Das liegt an den Zugezogenen, die grüßen nicht mal“, erzählt Eichenauer. „Dabei spiegelt sich auf dem Land nur ein Wandel, den es überall gibt.“ Mehr Fragmentierung, mehr projektbezogenes Engagement statt anpacken im Verein etwa.
Bundesweit versuchen daher Länderprogramme und Stiftungen das Miteinander zu beleben. In Hessen etwa gibt es unkompliziert kleine Finanzspritzen für Einzelprojekte, über das Programm „Alter Treffpunkt – neuer Anstrich“ ein Coaching für Erzählsalons, Pop-up-Cafés oder Kulturzentren in ehemaligen Kühlhäusern, Postgebäuden, Kirchen und alten Dorfgemeinschaftshäusern. Wie in Ilsdorf.
„Wir wollen Teil dieser Welt sein“
Sich ins Dorfleben stürzen? Ach nein. Zu unterschiedlich schienen Lilian und Thomas Lamadieu die Lebenswelten, zu sehr waren die Dorfneulinge mit dem Neustart beschäftigt. Doch als die Kinder kamen, heute sind es drei, entschied das Paar: „Wir wollen Teil dieser Welt sein.“ Die Lamadieus meldeten den Nachwuchs in der Dorfkita an, besuchten Laternen- und Feuerwehrfeste. Und fragten sich: Wie können wir mitgestalten? Da entdeckten sie den Schatz des Gustav Magel.
Donnerstagmorgen, Kaffeeduft zieht durch das Untergeschoss der Villa Kunterbunt. Thomas Lamadieu, Werner aus Klein-Eichen und Karl aus Bobenhausen II beugen sich über die letzten drei Kisten aus der Schatzkammer: Glasplatten mit Foto-Negativen – Ilsdorf um 1900. Karl hebt Platte für Platte heraus, viele hat die Zeit miteinander verklebt wie vakuumverpackt. Vorsichtig setzt Werner ein Teppichmesser an. Das Metall knirscht auf dem Glas, die Platten springen auseinander. „Gibt’s ja nicht, das ist ja die alte Schule“, ruft Karl.
950 Kisten mit Negativen haben die Männer in einer halb zugemauerten Kellernische des Hauses gegenüber entdeckt. Eine kleine Inschrift am Hauseingang hatte Thomas Lamadieu stutzen lassen: Gustav Magel, Fotograf. Ach, ein Kollege, ein Dorffotograf vielleicht? Lamadieu nahm Kontakt mit den Besitzer:innen des Hauses auf, fand das vergessene Foto-Archiv von Gustav Magel und dessen Vater Heinrich, holte später Karl und Werner dazu. Monatelang haben sie Negative digitalisiert, hat Werner die Dörfer der Gemeinde abgeklappert. Kennt ihr jemanden auf dem Foto, die Geschäfte, was hat sich geändert? Werner: „Die Leute haben in Familienalben nach Hinweisen gesucht, Urgroßeltern angerufen, sich umgehört.“ Ach, in diesem Ortsteil wurde mal Erz abgebaut. Schau, hier war der Laden vom Metzger. Guck mal, da gab es einen Fußballverein. Karl: „Die Fotos haben die Sicht auf unsere Heimat geändert, wir sind näher zusammengerückt.“
Schließlich hängt eine Auswahl der Fotos, künstlerisch von Thomas Lamadieu mit Skyart-Illustrationen ergänzt und groß wie Scheunentore, an den Hauswänden von Ilsdorf. Eine riesige Open-Air-Galerie. Das alte Dorfgemeindehaus wird wieder eröffnet, zur Vernissage gibt es Kaffee, Kuchen und ein Erzählcafé mit Zeitzeug:innen. Und alle aus dem Dorf kommen. Die alte Frau Erni, der Ortsvorsteher und der Mann von der Freiwilligen Feuerwehr, der Schweinelandwirt hinter dem Fluss und die Familien aus der Neubausiedlung. Im Anschluss startet eine Ideenwerkstatt: Was wünscht ihr euch noch für unser Dorf? „Neue Räume Ilsdorf“, nennen die Lamadieus und ihre Mitstreiter:innen ihre Initiative, die hessische Landesregierung stellt dem Team ein Jahr lang einen Projektcoach zur Seite: Wie wird aus Ideen Realität, wie kommt man an Fördertöpfe? Das stärkt ihr Standing im Dorf und macht sie zu Profis der Förderlandschaft. „Davon zehren wir heute noch“, sagt Lilian Lamadieu.
In Mücke-Nieder-Ohmen döst das Rathaus der Mittagszeit entgegen. Die Rosenrabatten wippen in der Sonne. Hinter den Fenstern im 80er-Jahre-Bau – Filzboden, Werbebroschürenregal, Krankenkassenschick – grübelt Bürgermeister Andreas Sommer über der neuen Feldpflegewegerichtlinie. Naturschutz ist für den Ex-Förster Top-Thema, „Natur ist ja unser Kapital auf dem Dorf“. Zweites Top-Thema: die Gemeinschaft stärken. „Die jungen Leute der Initiative Neue Räume Ilsdorf sind ein Geschenk für uns“, sagt Sommer, „eine Steilvorlage.“ Er fördert sie, wo immer möglich, egal ob beim Bahnhofsprojekt oder der Sanierung des Dorfgemeindehauses. Natürlich, es gibt auch andere Engagierte, von Freiwilliger Feuerwehr bis zu den Traditionsvereinen. Aber alle mit Elan an einen Tisch zu bringen, gelingt mit Blick von außen leichter. „Leider fehlt bei uns oft dieses Wir“, sagt Sommer und seufzt ein bisschen. In seiner Montagssprechstunde höre er vor allem Klagen von den Ichs: „Herr Bürgermeister, da ist ein Schlagloch vor meinem Haus, das muss weg.“
Andreas Sommer, Anfang 50, liebt das Dorf. Die Felder, die Wälder, das Miteinander – wenn es denn gelingt. Er pflegt Bürger:innennähe. Hat die offene Sprechstunde eingeführt, seine Handynummer online gestellt, informiert über Instagram und Facebook über Gemeindenews. Ausbau von Radwegen, öffentliche Linientaxen, Sanierung der alten Backhäuser, Kitabetreuung auf Stundenbasis. Sommer ist parteilos, wie rund 200 andere Bürgermeister:innen im ländlichen Hessen. „Das ist Trend auf dem Land.“ Bürger:innen wünschen, vermutet Sommer, Persönlichkeiten, die für konkrete Themen stehen, nicht „parteipolitisches Geplänkel“. Im Gemeinderat spiegelt sich die Abkehr von den etablierten Parteien wider: Fast 30 Prozent der Abgeordneten gehören zu den „Mücker Bürgern“, einer lokalen Bürgerbewegung. „Parteilos zu sein, ist ein Vorteil“, sagt Sommer. Er kann Menschen so leichter für eine Entscheidung zusammenholen, wie neulich für die Fluss-Renaturierung im Ort. „Das A und O sind separate Vorgespräche: Zuhören und Kompromisse suchen.“
Generationenübergreifend ins Gespräch kommen
Lilian Lamadieu macht im Grunde nichts anderes. Zuhören, Gemeinsamkeiten finden, Menschen zusammenbringen – und sich dabei nicht als Checker aus der Stadt gerieren. „Das Wichtigste ist Respekt.“ Das Weihnachtssingen ist ebenso wichtig wie Graffitisprühen, die Würstchen verdienen ihren Platz beim Backhausfest genauso wie die Veggie-Patties. „Und letztlich wünschen sich die meisten einfach kleine Dinge, die den Alltag schöner machen.“ Tauschbörsen und Kuchennachmittage, Tanzkurse und Fußballevents. „Wenn man daran anknüpft, ist ganz viel möglich.“
Zum Beispiel die Zusammenarbeit mit engagierten Jungen wie Jonas Naumann, hellblonde Haare, 4-Tage-Bart, BWL-Student.
Es ist ruhig im „Fairkaufsladen“ nicht weit vom Rathaus entfernt. Die einzige Kundin lässt Bohnen aus den Kunststoffröhren in ihre Box klackern. Seit zwei Jahren gibt es den Unverpackt-Store im ehemaligen Nahkauf. „Der Verein war eine Idee am Abendbrottisch“, erzählt der 25-Jährige. Drei Jugendliche verzweifelt ob der Klimakrise, ein Vater, der irgendwann sagt: „Dann lasst uns doch was tun.“ Fünf Jahre später hat der „Klimafairein“ 800 Mitglieder, macht Baumpflanzaktionen, Umweltbildung in Schulen und Kitas, fährt mit einem „Fairkaufswagen“ über Land und hat mit dem Unverpacktladen einen neuen Treffpunkt im Ort geschaffen. Einmal im Monat ist Feierabendmarkt mit Musik, regelmäßig tagt der Ehrenamtstammtisch der Rentner:innen, samstags trinkt die Damensportgruppe nach ihrem Lauf ein Käffchen, man kommt generationenübergreifend ins Gespräch – Auto oder Umweltschutz, Biomarktpreise oder Supermarktschnäppchen –, „nicht immer leicht, aber wichtig“, sagt Naumann, „und wenn ich für eine Aktion Hände brauche, die anpacken, melden sich sofort vierzig Leute in der Whatsapp-Gruppe – wo gibt’s das in der Stadt?“
Zum Beispiel die Kooperation mit engagierten Alteingesessenen wie Erich Krämer von der Freiwilligen Feuerwehr Mücke-Ilsdorf.
„Hallo, willkommen“, ruft Krämer und grinst wie einer, der weiß: Klar, einen Erich Krämer, das wäre ja gelogen, hat man sich nicht so vorgestellt. Klein, zierlich, schwarze Haare, dunkle Haut. „Die Mutter ist Philippina, der Vater Saarländer und meine Geschwister heißen Hans, Ralf oder Margot.“ Krämer, hauptberuflich im Haus- und Gartenservice tätig, hängt sich nebenberuflich als stellvertretender Ortsvorsteher und bei der Freiwilligen Feuerwehr rein. Stolz führt er zum roten Einsatzwagen in der Garage, zeigt die Spinde mit Anzug, Helm und Stiefeln. Einmal im Monat sind Übungen, der letzte Einsatz war ein brennendes Trafohäuschen. Tischtennisballgroße Hagelkörner tanzen über den Asphalt vor der Garage. Krämer wiegt den Kopf. „Puh, wir haben heute bestimmt noch einen Einsatz.“
Im alten Kühlhaus, wo einst Käse, Wurst und Milch fürs Dorf gelagert wurden, ist jetzt das Vereinsheim. Lange Tafel, Bar, Bühne, die Luftschlangen vom letzten Fest kräuseln sich an den Lampen. An der Schnittstelle zwischen Feuerwehr und Ortsvorstand ist Krämer eine Drehscheibe für soziales Miteinander, jedenfalls im Ortsteil Ilsdorf. Runde Geburtstage werden im Vereinsheim ausgerichtet, Vatertagspaziergänge organisiert, regelmäßig lädt die Feuerwehr zum Backhausfest mit Schmirgelkuchen, Pizza und Würstchen. Krämers Frau gratuliert jungen Dorfmüttern mit Geschenken für Neugeborene, Krämer selbst kümmert sich um die Jugendfeuerwehr, die gerade mehr Zulauf bekommt.
Anfangs sei er etwas skeptisch gewesen mit der Initiative der Zugezogenen. Was macht das mit uns? Dann habe er gemerkt, „dass die Jungen sich integrieren wollen. Und solche Menschen nehmen wir gerne auf, mit all ihren Wünschen, Vielfalt, vegetarisch und so“. Heute sagt Krämer: Das Fotofest, die Belebung des alten Dorfgemeinschaftshauses, der Ideenworkshop – das habe richtig Wumms ins Dorf gebracht, nach Ilsdorf, nach ganz Mücke. Konkurrenz für ihn als Ortsvorsteher? „Ach was, ist doch super, wenn’s klappt.“ Nur die Alten dürfe man nicht vergessen, die Jagdgenossenschaft und die Landwirt:innen. „Beim Kulturprojekt am Bahnhof Mücke habe ich da noch ein bisschen Zweifel.“
Keine zweihundert Meter von Krämer entfernt, gleich hinter dem Ilsbach, zuckt Schweinelandwirt Julian Olbricht gelassen mit den Schultern. „Ich find’s schön, dass unsere ollen Güllesilos jetzt bunt angesprüht werden.“ Auch das hatten sich die Bewohner:innen bei der Ideenwerkstatt gewünscht. Eine Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Aktion, auch als Wertschätzung für die Bauern und Bäuerinnen.
Mittzwanziger Olbricht hat den Schweinemasthof vom Vater übernommen, 1.400 Schweine in konventionellem Betrieb. Das beißende Ammoniak in den Stallungen riecht er längst nicht mehr. Opa und Vater wollten vielleicht auf Bio umstellen, der Sohn hat Nein gesagt. „Wie soll das gehen, schon fürs Futter, wenn dann der Schädling aufs Feld kommt?“ Olbricht ist einer, der nicht viel spricht oder vielleicht nur, wenn er wirklich etwas zu sagen hat. „Das Leben ist angenehm hier, man sagt hallo und kennt sich.“ Die Schweine, die Sitzbank, die Gartenhütte hinterm Hof für Gespräche mit den Nachbar:innen. Was will man mehr?
Am Abend knistert das Feuer vor der Villa Kunterbunt. Lilian Lamadieu, Thomas, Mo und Florian sitzen auf alten Stühlen um das Licht. Sicher, manchmal fehlt das Wilde der Anfangszeit, ohne Kinder, als sie noch unter sich waren. „Doch wichtiger ist das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein“, sagt Lilian. „Es gibt freundliche Blicke, wir sind Teil der Gemeinschaft.“ Ja, dass viele hier mit der AfD sympathisieren (später, bei den Landtagswahlen im Oktober, wählt sie fast jede:r Vierte), macht ihnen Sorge. „Aber urteilen hilft nicht, über den Alltag ins Gespräch kommen ist unser Weg.“
Ende des Jahres wird die Bahnhofssanierung abgeschlossen sein, für alles Weitere sind Fördermittel beschafft. „Wir haben noch viele Ideen“, sagt Lilian. „Überall sind Baustellen, auf den Straßen, in den Köpfen“, sagt Mo. „Man wird ständig überrascht, fast mehr als in der Stadt.“ Und das ist erst der Anfang.
Das Team der Initiative Neue Räume Ilsdorf: Florian Krämer und Mo Kryger, Lilian, Joy und Thomas Lamadieu (von links), Hund Malina