Als Chris Watts die ersten tausend Dollar auf seinem Konto sieht, für die er keinen Finger krumm gemacht hat, greift er zum Handy und kauft online Lebensmittel für seine Mutter. Danach besorgt er sich einen Laptop, den ersten seit über einem Jahrzehnt. Sowohl die Schutzhülle als auch den Rechner hat Watts mit bunten Ölfarben bemalt. Fast alles in seinem WG-Zimmer im Süden San Franciscos, vom Mülleimer bis zur stoffbehangenen Decke, ist mit Hieroglyphen und astrologischen Symbolen bepinselt. Bücher über organische Architektur stehen neben Statuen aus Treibholz.
„Ich würde so gern Häuser entwerfen, die in Material und Bauweise mit der Natur in Einklang stehen. Und die so eingerichtet sind, dass sie den Menschen guttun“,sagt er, als wir uns im Schneidersitz auf dem Boden niederlassen. Watts muss trotz des Geldes, das er jeden Monat überwiesen bekommt, auf einer Baustelle arbeiten, um sich über Wasser zu halten. In der Westküsten-Metropole zahlt man für ein kleines WG-Zimmer mit Nebenkosten locker 1.200 Dollar. Selbst eine Pizza kostet hier gerne mal 30 Dollar. San Francisco ist eine der teuersten Städte der USA.
Watts hat nichts gegen seine Arbeit, er mag es, Dinge zu bauen. Wenn er jedoch könnte, würde er sich zu hundert Prozent auf Kunst und Architektur konzentrieren. „Stell dir vor, wie viel Kunst geschaffen, wie viele Erfindungen erdacht würden, wenn alle Menschen ein Grundeinkommen bekämen, so wie ich. Man schafft Dinge, weil man sie erschaffen will, nicht weil man es muss.“
Watts ist einer von 190 Künstler:innen, die zwischen 2021 und 2022 über ein Programm der Stadt San Francisco und des Kunstzentrums Yerba Buena Center for the Arts 1.000 Dollar pro Monat bekommen. Wie sie das Geld ausgeben, ist ihnen überlassen. Das Projekt läuft in zwei verschiedenen Phasen: In der ersten mussten Bewerber:innen nachweisen, dass sie über kein hohes Einkommen verfügen. In der zweiten wurden Kunstschaffende von einer Initiative aus verschiedenen Organisationen in San Francisco nominiert, die Minderheiten im Kreativsektor vertreten, etwa die Black Freighter Press und das Chinese Culture Center of San Francisco.
Finanziert wird das Projekt in der ersten Phase aus dem Haushalt der Stadt. San Franciscos Bürgermeisterin London Breed ist Mitglied der Initiative Mayors for a Guaranteed Income, eines bundesweiten Zusammenschlusses von Bürgermeister:innen, die in ihren Städten Pilotprojekte zum Grundeinkommen gestartet haben. Zwischen 2019 und 2020 haben in den USA laut Daten des Pew Research Centers 9,6 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren – und damit Lebensgrundlage und Krankenversicherung. Überwiegend betroffen sind People of Color und Frauen. Doch in den USA herrschen nicht erst seit der Coronakrise Armut und Ungleichheit. Zwar ist das Land auf dem Papier die zweitreichste Nation und die größte Volkswirtschaft der Welt, doch dieses Vermögen steckt in sehr wenigen Taschen. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gibt es in den USA die größte Einkommensungleichheit aller G7-Nationen. Eine Analyse der konservativen Financial Times von 2022 bezeichnete die Nation als ein „armes Land mit ein paar sehr reichen Leuten“. Laut aktuellem UN-Ranking, in dem es um die Einhaltung der Ziele für nachhaltige Entwicklung geht, sind die USA weltweit nur auf Rang 41 und belegen damit den Platz hinter Kuba.
Das Grundeinkommen – so die Hoffnung der Anhänger:innen des Konzepts – soll gegensteuern. Michael Tubbs, der Schwarze Bürgermeister von Stockton, ist noch keine 30, als er 2019 als erste:r in Kalifornien ein 18-monatiges kommunales Grundeinkommen einführt und die Initiative Mayors for a Guaranteed Income gründet. Er beruft sich auf Vorbilder wie Martin Luther King und die Black Panther Party, die für ein Grundeinkommen warben, um Rassismus und Armut zu bekämpfen. 125 Menschen mit einem geringen Einkommen, mehrheitlich Schwarz oder Latinx, erhalten in Stockton zwei Jahre lang bedingungslos 500 Dollar pro Monat, finanziert durch Spenden.
Ein unabhängiges Team von Wissenschaftler:innen wertete den Versuch aus und stellte fest: Im Vergleich zu einer Gruppe, die kein Grundeinkommen erhielt, verbesserte sich die mentale Gesundheit derjenigen, die das Geld bekamen, immens. Tubbs sagt rückblickend: „Das Programm gab den Menschen die Würde, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, die Möglichkeit, ihr Potenzial auszuschöpfen, und es verbesserte die wirtschaftliche Stabilität in den Wirren der Pandemie.“ Und tatsächlich: Zu Beginn des Versuchs hatten nur 28 Prozent der Teilnehmenden eine Festanstellung. Nach einem Jahr mit Grundeinkommen waren es 40 Prozent. Viele Befragte gaben an, dass ihnen das zusätzliche Geld ermöglicht hätte, zum Beispiel eine Ausbildung zu beenden. Mit der zusätzlichen Qualifikation konnten sie schließlich einen Job finden. Die Studie war eine kleine Sensation in den individualistisch geprägten USA, wo der Glaube, geschenktes Geld mache faul, besonders weit verbreitet ist.
Auf einmal klingelten alle Telefone in Stockton. Was im Central Valley Kaliforniens begann, breitet sich überall in Kalifornien und den Staaten aus.
Im Grundeinkommensrausch
Im Herbst 2022 laufen ungefähr 40 Versuche in den USA zum Grundeinkommen, fast jede Woche wird ein neuer angekündigt. Es ist die größte Grundeinkommensbewegung der Welt. Wohlgemerkt geht es nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Nicht alle Bürger:innen können sich um die Teilnahme bewerben, so wie es bei vielen Versuchen in Europa der Fall ist. In den USA richtet sich fast jeder Feldversuch an Menschen, die in Armut leben oder besonders stigmatisiert sind.
Während es in Palm Springs ein Programm nur für Transmenschen gibt, erhalten in Jackson, Mississippi, nur Schwarze Mütter das Grundeinkommen. Ein Versuch in Florida begünstigt Menschen, die schon einmal im Gefängnis saßen und deshalb oft keinen Job mehr finden. Für fast jede benachteiligte Gruppe in den USA gibt es mittlerweile ein Pilotprojekt.
San Francisco und New York City stechen heraus, weil sie in ihren jeweiligen Versuchen Kreative in den Vordergrund stellen. Bei einigen führt das zu hochgezogenen Augenbrauen. Wenn es auch die Wahl zwischen Waisen und chronisch Kranken gibt, warum sollten dann ausgerechnet Kunstschaffende den Zuschlag bekommen?
Im Yerba Buena Centre for the Arts in Downtown San Francisco sind die Wände in Flieder, Türkis und Feuerrot gestrichen. Im Schatten des Innenhofs des Kunstzentrums sitzt Aisa Villarosa, die den Grundeinkommensversuch der Stadt San Francisco mitleitet. „Durch die Gentrifizierung, die hohen Preise und die Pandemie ziehen immer mehr Kunstschaffende weg aus San Francisco. Die Stadt verliert, was sie ausmacht.“ Immer noch, sagt Villarosa, sind die meisten berühmten Kunstschaffenden weiß. Gerade Kunst, die die Identität und den politischen Widerstand von Minderheiten sichtbar macht, werde so systematisch geschwächt. So sieht es auch ein anderer Rezipient des Grundeinkommens, der Schwarze Autor TreVaughn Malik Ro…
Milbrae, Kalifornien. Als sie an Krebs erkrankte und ihre Miete nicht mehr zahlen konnte wurde Elizabeth Softky obdachlos. Dank der NGO Miracle Messages aus San Francisco konnte sie ihre Arztrechnungen begleichen und fand wieder eine Wohnung.