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Als Chris Watts die ersten tausend Dollar auf seinem Konto sieht, für die er keinen Finger krumm gemacht hat, greift er zum Handy und kauft online Lebensmittel für seine Mutter. Danach besorgt er sich einen Laptop, den ersten seit über einem Jahrzehnt. Sowohl die Schutzhülle als auch den Rechner hat Watts mit bunten Ölfarben bemalt. Fast alles in seinem WG-Zimmer im Süden San Franciscos, vom Mülleimer bis zur stoffbehangenen Decke, ist mit Hieroglyphen und astrologischen Symbolen bepinselt. Bücher über organische Architektur stehen neben Statuen aus Treibholz.
„Ich würde so gern Häuser entwerfen, die in Material und Bauweise mit der Natur in Einklang stehen. Und die so eingerichtet sind, dass sie den Menschen guttun“,sagt er, als wir uns im Schneidersitz auf dem Boden niederlassen. Watts muss trotz des Geldes, das er jeden Monat überwiesen bekommt, auf einer Baustelle arbeiten, um sich über Wasser zu halten. In der Westküsten-Metropole zahlt man für ein kleines WG-Zimmer mit Nebenkosten locker 1.200 Dollar. Selbst eine Pizza kostet hier gerne mal 30 Dollar. San Francisco ist eine der teuersten Städte der USA.
Watts hat nichts gegen seine Arbeit, er mag es, Dinge zu bauen. Wenn er jedoch könnte, würde er sich zu hundert Prozent auf Kunst und Architektur konzentrieren. „Stell dir vor, wie viel Kunst geschaffen, wie viele Erfindungen erdacht würden, wenn alle Menschen ein Grundeinkommen bekämen, so wie ich. Man schafft Dinge, weil man sie erschaffen will, nicht weil man es muss.“
Watts ist einer von 190 Künstler:innen, die zwischen 2021 und 2022 über ein Programm der Stadt San Francisco und des Kunstzentrums Yerba Buena Center for the Arts 1.000 Dollar pro Monat bekommen. Wie sie das Geld ausgeben, ist ihnen überlassen. Das Projekt läuft in zwei verschiedenen Phasen: In der ersten mussten Bewerber:innen nachweisen, dass sie über kein hohes Einkommen verfügen. In der zweiten wurden Kunstschaffende von einer Initiative aus verschiedenen Organisationen in San Francisco nominiert, die Minderheiten im Kreativsektor vertreten, etwa die Black Freighter Press und das Chinese Culture Center of San Francisco.
Finanziert wird das Projekt in der ersten Phase aus dem Haushalt der Stadt. San Franciscos Bürgermeisterin London Breed ist Mitglied der Initiative Mayors for a Guaranteed Income, eines bundesweiten Zusammenschlusses von Bürgermeister:innen, die in ihren Städten Pilotprojekte zum Grundeinkommen gestartet haben. Zwischen 2019 und 2020 haben in den USA laut Daten des Pew Research Centers 9,6 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren – und damit Lebensgrundlage und Krankenversicherung. Überwiegend betroffen sind People of Color und Frauen. Doch in den USA herrschen nicht erst seit der Coronakrise Armut und Ungleichheit. Zwar ist das Land auf dem Papier die zweitreichste Nation und die größte Volkswirtschaft der Welt, doch dieses Vermögen steckt in sehr wenigen Taschen. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gibt es in den USA die größte Einkommensungleichheit aller G7-Nationen. Eine Analyse der konservativen Financial Times von 2022 bezeichnete die Nation als ein „armes Land mit ein paar sehr reichen Leuten“. Laut aktuellem UN-Ranking, in dem es um die Einhaltung der Ziele für nachhaltige Entwicklung geht, sind die USA weltweit nur auf Rang 41 und belegen damit den Platz hinter Kuba.
Das Grundeinkommen – so die Hoffnung der Anhänger:innen des Konzepts – soll gegensteuern. Michael Tubbs, der Schwarze Bürgermeister von Stockton, ist noch keine 30, als er 2019 als erste:r in Kalifornien ein 18-monatiges kommunales Grundeinkommen einführt und die Initiative Mayors for a Guaranteed Income gründet. Er beruft sich auf Vorbilder wie Martin Luther King und die Black Panther Party, die für ein Grundeinkommen warben, um Rassismus und Armut zu bekämpfen. 125 Menschen mit einem geringen Einkommen, mehrheitlich Schwarz oder Latinx, erhalten in Stockton zwei Jahre lang bedingungslos 500 Dollar pro Monat, finanziert durch Spenden.
Ein unabhängiges Team von Wissenschaftler:innen wertete den Versuch aus und stellte fest: Im Vergleich zu einer Gruppe, die kein Grundeinkommen erhielt, verbesserte sich die mentale Gesundheit derjenigen, die das Geld bekamen, immens. Tubbs sagt rückblickend: „Das Programm gab den Menschen die Würde, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, die Möglichkeit, ihr Potenzial auszuschöpfen, und es verbesserte die wirtschaftliche Stabilität in den Wirren der Pandemie.“ Und tatsächlich: Zu Beginn des Versuchs hatten nur 28 Prozent der Teilnehmenden eine Festanstellung. Nach einem Jahr mit Grundeinkommen waren es 40 Prozent. Viele Befragte gaben an, dass ihnen das zusätzliche Geld ermöglicht hätte, zum Beispiel eine Ausbildung zu beenden. Mit der zusätzlichen Qualifikation konnten sie schließlich einen Job finden. Die Studie war eine kleine Sensation in den individualistisch geprägten USA, wo der Glaube, geschenktes Geld mache faul, besonders weit verbreitet ist.
Auf einmal klingelten alle Telefone in Stockton. Was im Central Valley Kaliforniens begann, breitet sich überall in Kalifornien und den Staaten aus.
Im Grundeinkommensrausch
Im Herbst 2022 laufen ungefähr 40 Versuche in den USA zum Grundeinkommen, fast jede Woche wird ein neuer angekündigt. Es ist die größte Grundeinkommensbewegung der Welt. Wohlgemerkt geht es nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Nicht alle Bürger:innen können sich um die Teilnahme bewerben, so wie es bei vielen Versuchen in Europa der Fall ist. In den USA richtet sich fast jeder Feldversuch an Menschen, die in Armut leben oder besonders stigmatisiert sind.
Während es in Palm Springs ein Programm nur für Transmenschen gibt, erhalten in Jackson, Mississippi, nur Schwarze Mütter das Grundeinkommen. Ein Versuch in Florida begünstigt Menschen, die schon einmal im Gefängnis saßen und deshalb oft keinen Job mehr finden. Für fast jede benachteiligte Gruppe in den USA gibt es mittlerweile ein Pilotprojekt.
San Francisco und New York City stechen heraus, weil sie in ihren jeweiligen Versuchen Kreative in den Vordergrund stellen. Bei einigen führt das zu hochgezogenen Augenbrauen. Wenn es auch die Wahl zwischen Waisen und chronisch Kranken gibt, warum sollten dann ausgerechnet Kunstschaffende den Zuschlag bekommen?
Im Yerba Buena Centre for the Arts in Downtown San Francisco sind die Wände in Flieder, Türkis und Feuerrot gestrichen. Im Schatten des Innenhofs des Kunstzentrums sitzt Aisa Villarosa, die den Grundeinkommensversuch der Stadt San Francisco mitleitet. „Durch die Gentrifizierung, die hohen Preise und die Pandemie ziehen immer mehr Kunstschaffende weg aus San Francisco. Die Stadt verliert, was sie ausmacht.“ Immer noch, sagt Villarosa, sind die meisten berühmten Kunstschaffenden weiß. Gerade Kunst, die die Identität und den politischen Widerstand von Minderheiten sichtbar macht, werde so systematisch geschwächt. So sieht es auch ein anderer Rezipient des Grundeinkommens, der Schwarze Autor TreVaughn Malik Roach-Carter.
Sein zweites Buch steht kurz vor der Veröffentlichung: ein Fantasyroman über die Aziza, Gestalten der nigerianischen Mythologie. „In allen meinen Geschichten geht es um Menschen wie mich: People of Color und queere. Ich möchte Bücher über sie schreiben, damit sie nicht wie ich nur mit weißen, heterosexuellen Held:innen aufwachsen müssen“, erzählt er an einem kühlen Julitag bei einem Kaffee auf dem Campus der San Francisco State University. Viele seiner Bekannten mussten die Stadt wegen der hohen Lebenshaltungskosten längst verlassen, er kann von dem Grundeinkommen nun 90 Prozent seiner Miete zahlen.
„Wir tun in San Francisco gern so, als wären wir progressiv und weltoffen, aber nur eine bestimmte, homogene Gruppe von Menschen kann es sich noch leisten, hier zu leben“, sagt Aisa Villarosa. „Immer mehr Menschen werden obdachlos. Und die anderen schauen weg.“
Grundeinkommen USA: Armut entstigmatisieren
In San Francisco und der Bay Area gibt es nach New York und Los Angeles die meisten Obdachlosen der USA. Covid-19 hat die Situation noch verschärft. In den Wolkenkratzerschluchten von Downtown sieht man Menschen in ihren Fäkalien auf der Straße liegen. Oft sind sie traumatisiert, drogenabhängig, geistig oder körperlich schwer krank.
Elizabeth Softky war eine von ihnen. Sie arbeitete als Journalistin und Lehrerin, als eine Krebserkrankung ihre gesamten Ersparnisse auffraß, weil sie nicht mehr arbeiten konnte. „Als ich wegen der teuren Chemotherapie die Miete nicht mehr zahlen konnte, wurde ich von meinem Vermieter rausgeschmissen. Ich habe mich geschämt, als ich in eine Notunterkunft kam. Hier um die Ecke war das.“ Wir sitzen in Milbrae, einer Stadt südlich von San Francisco, in einem Café unweit des Bahnhofs. Wenn Softky die Obdachlosenunterkunft beschreibt, in der sie 2019 unterkam, verhärtet sich ihr Gesicht. Dutzende Menschen in einem Raum, immer schrie jemand, geplagt von Alpträumen oder Wahnvorstellungen.
Drogendealer:innen gingen ein und aus. Obwohl Männer und Frauen eigentlich in getrennten Bereichen schliefen, fühlte sie sich bedrängt, konnte kaum schlafen. „Nach den ersten Wochen sagte ich mir: Es gibt einen Grund, warum Gott dich hierher geschickt hat. Ich soll anderen Leuten erzählen, wie es hier ist.“
Als die Pandemie die USA erreichte, wurden die Obdachlosen vom zuständigen County in ein Hotel direkt am Strand versetzt, das sollte eine Massenansteckung verhindern. Dort traf Softky auf Mitarbeiter:innen der San Francisco NGO Miracle Messages, die via Crowdfunding die Projekte „Miracle Friends“ und „Miracle Money“ ins Leben gerufen hat. Von Spenden finanziert bringt die NGO Obdachlose zunächst mit Freiwilligen zusammen, die sie anrufen können, wenn sie einsam sind oder Hilfe brauchen. Nach zwei Monaten wurde Softky von ihrer Miracle Friend Susan für das Grundeinkommen-Programm Miracle Money nominiert: Ein Jahr lang erhielt sie daraufhin jeden Monat 500 Dollar. Durch das Geld konnte Softky ihre Arztrechnungen wieder bezahlen und machte mithilfe der Organisation einen Finanzplan für ihre Zukunft. Mittlerweile wohnt sie in einem sozialen Wohnungsprojekt in Redwood City, ebenfalls in der Bay Area. Sie ist eine Botschafterin des Projektes, spricht in Schulen über ihre Erfahrungen und hält Vorträge.
Dass Softkys Geschichte fast etwas zu perfekt klingt, liegt wohl daran, wie sehr die NGO ihr und anderen obdachlosen Menschen aktiv geholfen hat, statt wie in anderen Grundeinkommensversuchen aus der Distanz zu beobachten, was die Empfänger:innen mit dem Geld anfangen. Alkohol, Waffen oder Drogen zum Beispiel durften sie nicht mit dem Grundeinkommen kaufen.
Somit konnte das Programm nach seiner ersten Phase keine aufschlussreichen wissenschaftlichen Daten liefern, was die Grundeinkommenforschung angeht. Nun geht der Versuch jedoch in die zweite Runde: Diesmal sollen Obdachlose 18 Monate lang 750 Dollar monatlich bekommen, die University of Southern California begleitet das wissenschaftlich, es wird außerdem auf die Stadt Los Angeles erweitert. All diese Programme verfolgen dasselbe Ziel: Durch die Sammlung von aussagekräftigen Daten und Storytelling wollen sie Amerika beweisen: Armut ist oft unverschuldet. Sie betrifft überproportional People of Color. Aufstieg ohne eine finanzielle Grundversorgung ist praktisch unmöglich. Kurz: Es geht um die Dekonstruktion des amerikanischen Traums.
„Unser Mythos des Selfmade-Man, der sein eigenes Glück schafft, beeinflusst unsere Gesellschaft immer noch mehr als alles andere. Aber um Arnold Schwarzenegger zu zitieren: Niemand ist ein Selfmade Man“, sagt Miracle-Messages-Gründer Kevin Adler an einem Nachmittag in den Headquarters der NGO in Downtown San Francisco. „Jeder, der Erfolg hat, hatte Hilfe.“ Sein Onkel hat Adler zur Gründung der Organisation inspiriert. Immer wieder landete der aufgrund psychischer Probleme auf der Straße. Das Beispiel der eigenen Familie zeigte ihm, wie ignorant und ungnädig in den USAmit Menschen umgegangen wird, die aus der Mittelschicht herausfallen. „Wir müssen endlich das entsetzliche Stigma beenden, das arme Menschen in Amerika umgibt“, sagt Adler.
15 Millionen vom Twitter-Gründer
Sponsor der zweiten Runde von Miracle Money ist zu einhundert Prozent: Google. Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass die meisten Versuche zum Grundeinkommen in Kalifornien vom Silicon Valley finanziert werden. So entschied sich das Yerba Buena Center for the Arts in der zweiten Phase seines Grundeinkommensversuchs für Kunstschaffende für eine Finanzierung durch die Start Small Foundation des Twitter-Gründers Jack Dorsey. Dorsey spendete 15 Millionen Dollar an Mayors for a Guaranteed Income. Dieses Geld teilen sich nun 30 Städte auf, jedes Projekt erhält 500.000 Dollar. Auch das erste Grundeinkommensprojekt in Stockton finanzierte sich zu einem großem Teil aus Geldern des sogenannten Economic Security Project, das von Co-Facebook-Gründer Chris Hughes ins Leben gerufen wurde. Ein anderer Grundeinkommensversuch in Oakland bei San Francisco wurde von Y Combinator finanziert, vielleicht der wichtigste Start-up-Geldgeber überhaupt im Silicon Valley.
Dabei sind es gerade diese Firmen, die für die horrenden Mieten und die Gentrifizierung in der Bay Area zu einem guten Teil verantwortlich sind.
Aisa Villarosa vom Grundeinkommensprojekt in San Francisco leugnet das nicht. „Ja, es ist wie eine Reparationsleistung von der Tech-Elite. Und doch haben wir uns aus guten Gründen für diese private Finanzierung entschieden.“ Zum Beispiel: Wird ein solches Experiment aus Steuergeldern finanziert, dann ist es gesetzlich verboten, die Empfänger:innen nach Kriterien von Race oder Gender auszusuchen, um Diskriminierung vorzubeugen. „Wir leben aber in einem Land, in dem es einen stark ausgeprägten, systematischen Rassismus gibt“, sagt Villarosa. „Deshalb fördern wir vor allem Menschen, die nicht weiß sind.“
Der US-amerikanische Digitalisierungs-Forscher Jathan Sadowski sieht es kritisch, dass ausgerechnet die Tech-Imperien in so großem Stil in die Utopie Grundeinkommen investieren. In einem Essay, der unter anderem im Guardian erschienen ist, schreibt er: „Anstatt dass Projekte umgesetzt werden, die zum Gemeinwohl der Menschen beitragen, können die Eliten des Silicon Valley Kritiker:innen abschütteln, indem sie auf das bedingungslose Grundeinkommen als die Lösung hinweisen.“
„Welfare for Capitalists“ nennt Sadowski das, eine Art Wiedergutmachung dafür, dass Angestellte der Tech-Empires, wie zum Beispiel Uber- oder Amazon-Driver, für unerträglich niedrige Löhne durchs Land fahren müssen und die Firmen die Gründung von Gewerkschaften unterdrücken.
Eine kapitalistische Lösung
Auch manche, die selbst von den Spenden der Tech-Riesen profitieren, sehen die Utopie mit zwiespältigen Gefühlen. Wie die junge Empfängerin des Yerba Buena Grundeinkommens in San Francisco, die anonym bleiben möchte: „Ich bin dankbar für diese Hilfe, ich wüsste nicht, wie ich letztes Jahr ohne das Grundeinkommen überlebt hätte. Aber es bleibt für mich eine kapitalistische Lösung für ein kapitalistisches Problem. Daher bezweifle ich, ob es das System wirklich verändern kann, denn es behandelt ja nicht die Ursachen von Armut.“
Für die Initiator:innen der Experimente sind die Finanzspritzen des Valley ein notwendiger Zwischenschritt, solange sie sich nicht auf Regierungsgelder verlassen können. Derweil träumen sie von einem Grundeinkommen, das in den Kammern der amerikanischen Legislative verabschiedet wird, auch auf nationaler Ebene. „Wir wurden vor dem Kongress bereits zu unserem Projekt befragt“, erzählt Aisa Villarosa. Die Demokratin Nancy Pelosi, die San Francisco im US-amerikanischen Kongress vertritt, lässt die Tragfähigkeit des Grundeinkommens als möglichem Hebel einer neuen amerikanischen Sozialpolitik gerade von einem Ausschuss untersuchen.
In Washington, D.C. soll bereits eine starke Thinktank-Lobby für das Konzept trommeln. Auch global wächst das Interesse. Die Postfächer der Programm-Manager:innen lokaler Grundeinkommens-Initiativen quellen über von Anfragen aus allen Kontinenten. In einem Land wie den USA, in dem es keine Grundkrankenversicherung gibt, schwache Mietrechte, kaum bezahlten Urlaub und nur beschränkte Krankentage, hat das Grundeinkommen einen anderen Impact als in Ländern mit einem starken Sozialstaat wie Deutschland. Dennoch bleibt eine große Skepsis. In einer nationalen Umfrage des Pew Research Center 2020 antwortete eine knappe Mehrheit in den USA, dass sie gegen ein nationales Grundeinkommen sei. Einer der am meisten geäußerten Zweifel: Wie soll man das finanzieren?
Grundeinkommen USA: 876 Milliarden Kosten
Das Economic Security Project, das den Oakland-Versuch finanzierte, sponserte 2021 die Ausarbeitung eines Papiers, das genau diese Frage untersucht: In „A Guaranteed Income for the 21st Century“ schlagen Ökonom:innen des Institute on Race and Political Economy der New School vor, ein bundesweites garantiertes Grundeinkommen durch eine negative Einkommenssteuer zu finanzieren. Jede erwachsene Person, die weniger als das nationale Durchschnittseinkommen von ungefähr 65.000 Dollar verdient, soll abhängig vom Einkommen bis zu 12.500 Dollar Steuern pro Jahr erstattet und in monatlichen Beträgen ausgezahlt bekommen. Um das zu finanzieren, müsste es gleichzeitig eine progressive Einkommenssteuer geben, so wie sie in den USA bis in die 1980er-Jahre hinein existierte. Alles in allem würde das Programm schätzungsweise 876 Milliarden Dollar kosten. Im Vergleich: Seit Beginn der Coronakrise hat die US-amerikanische Regierung in drei Runden sogenannte Stimulus Schecks in Höhe von fast 850 Milliarden Dollar an die Bevölkerung ausgezahlt, um die Menschen in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und Inflation zu unterstützen. Dazu kommt der sogenannte Child Tax Credit von 3.000 bis 3.500 Dollar, den alle Eltern von Kindern bis 16 Jahren in den USA seit 2021 erhalten – viele im Land nehmen das als ein Grundeinkommen wahr.
Doch eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Harris Poll Anfang des Jahres zeigt, dass 60 Prozent der befragten Bürger:innen das Programm für zu teuer und unnötig halten. Ein Autor der New York Times erklärte das Ergebnis mit der Beobachtung: „Die Kritik an bedingungslosen Leistungen stigmatisiert oft ärmere Amerikaner:innen und Alleinerziehende oder ist von rassistischen Narrativen beeinflusst, wie dem Stereotyp der ,Welfare Queen‘.“ Selbst Empfänger:innen des Geldes äußerten in einer Studie den Verdacht, dass Familien das Geld nutzen könnten, um sich zu bereichern. Andere Kritiker:innen fanden es wiederum ungerecht, dass nur Eltern Anrecht auf diese Unterstützung hatten, es also nicht universell genug sei.
„Es wird immer darüber gesprochen, wie teuer das Grundeinkommen wäre“, sagt Aisa Villarosa. „Wenn wir aber zulassen, dass Menschen psychisch und physisch krank werden, dass sie süchtig werden oder auf der Straße landen, kostet das letztendlich viel mehr Geld. Wir sollten öffentliche Gelder endlich nutzen, um diese Dinge zu verhindern.“
Für Professor Darrick Hamilton von der New School, New York City, der einer der Autoren des Papers über die Finanzierung eines Grundeinkommens ist, ist das Basic Income ein wichtiger Eckpfeiler für die Bekämpfung von Armut, reicht aber nicht allein aus. „Wir brauchen in den USA wirtschaftliche Grundrechte. Das Recht auf Wohnen und das Recht auf Bildung und Gesundheit. Einkommen ist außerdem nicht dasselbe wie Wohlstand. Für Wohlstand braucht ein Mensch auch ein gewisses Grundkapital.“ Aus diesem Grund unterstützt Hamilton unter anderem auch das Konzept der sogennanten Baby Bonds, bei denen für neugeborene Kinder vom Staat oder Bundestaat Geld angelegt wird, auf das sie mit Erreichen des Erwachsenenalters Zugriff haben, um es zum Beispiel in ihre Bildung zu investieren.
Davon erhofft sich Hamilton inbesondere auch mehr Chancengleichheit für nicht weiße Menschen. „Wir haben in den USA historisch viele Beispiele für eine Politik, in der der Staat Menschen direkte Ressourcen gibt, um wirtschaftlichen Wohlstand für sich selbst und die Gemeinschaft zu schaffen. Der New Deal ist eines davon. Wir haben bei solchen Maßnahmen jedoch immer Schwarze Menschen ausgeschlossen. Deshalb müssen die wirtschaftlichen Reformen und Rechte, die ich mir wünsche, inklusiv sein, und benachteiligte Gruppen miteinschließen.“
In San José, dem Herzen des Silicon Valley, sitzt Veronica Vieyra in einem gläsernen Hochhaus, das der Lokalregierung des Santa Clara County gehört. Als ihre Mutter starb, wurde die heute 26-Jährige Teil des Foster-Care-Systems. Sie wurde zu Zieheltern gegeben und erhielt jeden Monat eine staatliche Unterstützung, die an viele Kontrollen und Auflagen gebunden war. Während die meisten Kinder in den USA für ihre Ausbildung auf Ersparnisse der Eltern angewiesen sind, stehen Vieyra und andere Pflegekinder ohne finanzielle Mittel da, sobald sie volljährig sind. „Ich wohnte in einem Studierendenheim meiner Uni, als es 2021 auf einmal hieß: Ihr müsst wegen Covid-19 ausziehen.“ Sie hatte Angst, auf der Straße zu landen.
Dann bekam sie eine E-Mail vom Santa Clara County, dem Distrikt, zu dem San José gehört: Sie wurde für die erste Kohorte ausgewählt, mit der 18 Monate lang ein Grundeinkommen getestet werden soll. Sie musste nur zustimmen. Vieyra zögert nicht lange. Mithilfe des Grundeinkommens kann sie nun überfällige Rechnungen bezahlen, sich ein WG-Zimmer suchen und die Kaution decken. Sie kann ihr kaputtes Auto reparieren lassen. Erst nach einem Jahr, als sie ihr Studium beendet und einen Job hat, gönnt sie sich selbst etwas.: „Ich gehe manchmal zu Starbucks“, sagt sie. Jahrelang hat sie nie auswärts Kaffee gekauft oder gegessen.
63 Prozent der anderen Empfänger:innen, die an den freiwilligen Befragungen des Santa Clara County teilnehmen, nutzen das Grundeinkommen, um Schulden abzuzahlen und zu sparen. Der andere Teil verwendet es zum großen Teil, um die Miete stemmen zu können. 2021 wird Vieyra per Videocall im kalifornischen Senat befragt. Und hält ein leidenschaftliches Plädoyer: „Ich sagte ihnen: Wenn Sie nicht wollen, dass jedes Jahr mehr Pflegekinder und Jugendliche die Schulen und Colleges ohne Abschluss verlassen, müssen Sie etwas dagegen tun.“ In den USA ist der Anteil der Pflegekinder unter den Schulabbrecher:innen überproportional hoch. Außerdem landen Pflegekinder häufiger in der Obdachlosigkeit, werden schneller kriminell und haben öfter psychische Krankheiten.
Mittlwerweile ist das Santa-Clara-Programm offizielles Vorbild für Kalifornien. Der Bundesstaat beschloss 2021, nicht nur die zweite Kohorte des Programms zu finanzieren, sondern auch das erste Grundeinkommensprojekt für ganz Kalifornien auf den Weg zu bringen. Zielgruppe: Pflegekinder und Schwangere. „Selbst wenn wir kein nationales amerikanisches Grundeinkommen erreichen“, sagt Melanie Gimenez Perez, die Programm-Managerin des Santa-Clara-Versuchs, „glaube ich, dass wir mit unserer Arbeit viele in der Regierung überzeugen konnten, dass benachteiligte Menschen Geld nutzen, um zu überleben, nicht um sich zu bereichern.“
Auch Chris Watts ist optimistisch. Er fertigt gerade eine neue Statue aus dem Holz des Küstenmammutbaums, dem Wahrzeichen Kaliforniens. Er durfte die Bretter aus dem überschüssigem Material seiner Baustelle mitnehmen.„Wir Amerikaner sind im Herzen nicht schlecht. Wir müssen uns nur wieder darauf besinnen, dass wir nicht ständig miteinander konkurrieren dürfen, sondern einander helfen müssen.“
Die Recherchereise für diesen Artikel wurde im Rahmen des Transatlantic Media Fellowship von der Heinrich Böll Stiftung finanziert.
Milbrae, Kalifornien. Als sie an Krebs erkrankte und ihre Miete nicht mehr zahlen konnte wurde Elizabeth Softky obdachlos. Dank der NGO Miracle Messages aus San Francisco konnte sie ihre Arztrechnungen begleichen und fand wieder eine Wohnung.