Die reichsten zehn Prozent der Haushalte besitzen in Deutschland zusammen etwa 60 Prozent des Gesamtvermögens, die Zahl der Millionär:innen steigt ebenso wie Einkommensungleichheit und Armut. Nun will die Bundesregierung das Bürgergeld durch eine Art abgespeckte Grundsicherung ersetzen. Frau Spannagel, ist unser Sozialstaat noch gerecht?
Dorothee Spannagel: Gerechtigkeit hat viele Dimensionen. Welche Kriterien legt man an? Wer mehr leistet, soll mehr haben? Wer mehr braucht, soll mehr bekommen? Unser Sozialstaat ist im Grundgesetz verankert, berücksichtigt Aspekte von Bedarfsgerechtigkeit – wer braucht was – ebenso wie Aspekte von Leistungsgerechtigkeit – wer verdient wie viel? Wer mehr in das Rentensystem eingezahlt hat, erhält auch mehr. Aber in den letzten Jahrzehnten wurde der Sozialstaat erheblich zurückgebaut, zumindest in Teilen. Das ist ein internationaler Trend, auch in Frankreich oder UK etwa. Gerecht ist vieles keineswegs.
Dorothee Spannagel
ist Soziologin und promovierte über Reichtum in Deutschland. Seit 2014 leitet sie die Abteilung Verteilungsanalyse und -politik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit und die Verteilung von Armut. Sie ist Mitherausgeberin des Buches „Grundsicherung weiterdenken“ (2021).Zum Beispiel?
Spannagel: 563 Euro im Monat gibt es für die erste erwachsene Person in einem Haushalt (plus Geld für Wohnen und Heizen). Das ist viel zu wenig, um davon zumindest grob am allgemeinen Wohlstand wie Mobilität, Kultur, Sozialleben teilhaben zu können. Eine systematische Fehlsteuerung. Auch jenseits der Grundsicherung sehe ich Schieflagen: So werden Frauen immer noch benachteiligt, Care-Arbeit wird wenig honoriert, die Folge ist oft Altersarmut. Bei Vermögen und Einkommen geht es eher um steuerpolitische Gerechtigkeit …
… Sozialstaat im engen Sinne meint, dass der Staat sich um soziale Gerechtigkeit und Sicherheit bemüht, indem er soziale Leistungen und Schutz vor Risiken wie Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Pflege sicherstellt …
Spannagel: … der Ansatz basiert auf dem Prinzip der Solidarität, alle Bürger:innen zahlen Beiträge, um die Leistungen für diejenigen zu finanzieren, die sie brauchen. In der internationalen Forschung umfasst Wohlfahrtsstaat auch Bildung, aber hierzulande zählt sie nicht im engen Sinn zum Sozialstaat. Ich habe nie verstanden, warum. Bildungserfolg hängt in Deutschland extrem von sozialer Herkunft ab. Laut Bildungsbericht 2024 erwerben Kinder aus Akademiker:innenfamilien dreimal so häufig einen Hochschulabschluss wie Kinder aus Nicht-Akademiker:innenfamilien. Das hat viele Gründe, aber einer ist die strukturelle Benachteiligung.
…Dorothee Spannagel (links), Expertin für soziale Ungleichheit der Hans-Böckler-Stiftung, Dirk Assmann (rechts), Volkswirt und Experte für Sozialpolitik bei der Friedrich-Naumann-Stiftung