Vor etwa sechs Jahren verliebte sich das Silicon Valley in Seneca. Der römische Staatsmann war Anhänger der antiken Philosophie des Stoizismus, die uns lehrt, dass wir die Eudaimonia, ein ausgeglichenes Leben in „gutem Geist“, nur erreichen können, wenn wir uns an der Tugend ausrichten. Also etwa die eigene Sterblichkeit akzeptieren, unsere Emotionen beherrschen und Komfortzonen vermeiden, zum Beispiel durch kalte Bäder. Aus diesen Werten leiten wir heute auch das Adjektiv „stoisch“ ab, das wir benutzen, wenn jemand auch angesichts von Leid unerschütterlich bleibt.
Business-Gurus wie der US-amerikanische Marketing-Profi Ryan Holiday erkannten sich darin wieder und begannen damit, „Modern Stoicism“ als Selbsttherapie für erfolgreiche Entrepreneur:innen anzupreisen. Holidays Buch „Das Hindernis ist Dein Weg“ wurde zum Verkaufsschlager; berühmte American-Football-Spieler lasen sich medienwirksam in der Umkleidekabine daraus vor. Inzwischen hat Holidays Blog „Daily Stoic“ mehr als eine Million Follower:innen, die ermutigt werden, sich mit Stoiker-Merch einzudecken. Memento-mori-Münze für 26 Dollar gefällig?
Die Interpretation der Philosophie als Selbstoptimierungs-Tool verkauft sich prima. Jedes Jahr erscheinen neue Besteller zu dem Thema, zuletzt im Mai 2021 Stoic Wisdom: Ancient Lessons for Modern Resilience der Philosophin Nancy Sherman. Sie ist jedoch entschiedene Gegnerin eines „Lifehack-Stoizismus“, wie sie den aktuellen Stoizismus-Boom in einem Artikel für die New York Times bezeichnet. Es gehe bei den stoischen Techniken nicht um einen hedonistischen Selbstzweck, sondern um das Ziel, ein besserer Teil der Gesellschaft zu werden. Seneca und Co lehrten, uns nicht nur als Individuum zu sehen. Vielmehr sollen wir durch stoisches Training zu „cosmopolites“, „Weltbürger:innen“ werden, die auch für das Glück der anderen Verantwortung übernehmen. Nur in guter Gemeinschaft mit Mitmenschen könne man glücklich sein.
Der Therapeut Donald Robertson beschreibt in seinem Buch How to Think Like a Roman Emper…
Neben Seneca machte vor allem der römische Kaiser Marcus Aurelius die Denkschule des Stoizismus berühmt.