Mein erstes Mal...

Unterwegs als Drag King

Was passiert, wenn ich mich von meiner Geschlechterrolle befreie? Rahel Lang ist für einen halben Tag in die Rolle eines Mannes geschlüpft. Ein Experiment.

Glitzernde Glastiegel, schillernde Farbpaletten, eine Vielzahl Pinsel und Puder. Ich stehe in einer Kosmetikabteilung und fühle mich etwas verloren. Ich schminke mich kaum noch – höchstens mal zu besonderen Anlässen. Und heute ist durchaus ein besonderer Anlass. Drag Kinging – so lautet meine heutige Mission.

Drag ist ein englischer Begriff und steht für „Verkleidung“, gemeint ist damit, ein anderes Geschlecht zu verkörpern. Als Drag King bezeichnen sich meist Frauen, die in die Geschlechterrolle eines Mannes schlüpfen: mit Make-up und Outfit sowie in ihrem Verhalten. Drag Kinging kann als kunstvolle Performance auf der Bühne stattfinden, aber auch als Alltagsexperiment. Letzteres möchte ich ausprobieren. „Es geht nicht unbedingt darum, ein Mann zu sein, sondern darum, mal eine andere Identität anzunehmen“, meint Stephanie Weber, Drag-Künstler:in und Queeraktivist:in aus Köln, „das erweitert den Horizont und kann Stereotype hinterfragen.“

Stephanie veranstaltet selbst Drag-King-Workshops und gibt mir Umstyling-Tipps. Make-up sei sehr binär, so Stephanie. Ich solle also das Gegenteil von Frauen-Make-up schminken. Ich male Schattierungen unter meine Wangenknochen, meine Lippen und entlang des Kiefers. Dann pinsle ich meine Augenbrauen dick und buschig. „Und Augenringe schminken!“, rät Stephanie. Witzig, bisher wollte ich meine Augenschatten eher kaschieren. Doch es hilft: Ich sehe tatsächlich männlicher aus. Jetzt ist der Bart dran. Ich schneide mir ein paar Haarspitzen ab und klebe sie mit Haargel auf mein Gesicht. Ich drehe meinen Kopf nach rechts und links. Wow! Ich gefalle mir!

Zusammen mit meinem Outfit – weite Jogginghose, lockerer Kapuzenpullover und Kappe – ist mein Erscheinungsbild perfekt. Obwohl ich mit dem Ergebnis zufrieden bin, merke ich, dass ich nervös werde. Auch Stephanie weiß: „Ängste können auftreten.“ Doch wovor habe ich eigentlich Angst? Davor, dass mich Menschen als Frau entlarven und mich komisch anschauen. Davor, Gendernormen zu übertreten. Mein Unwohlsein hat wohl auch mit erlernter Queer– und Transfeindlichkeit zu tun. Schließlich belohnt unsere Gesellschaft diejenigen, die sich entsprechend ihrem zugeordneten Geschlecht verhalten. Doch mit Unsicherheit ist mir nicht geholfen. Wenn ich gleich in die Öffentlichkeit gehe, muss ich mich wie selbstverständlich in meiner Rolle bewegen. Sonst läuft mein Experiment Gefahr zu scheitern. Ich richte mich auf, stelle mich breitbeinig hin, atme tief aus und trete durch die Haustür.

Möglichst gelangweilt schauen

Mit lässigem Gang schlendere ich die Straßen Freiburgs entlang. Von außen wirke ich cool, doch in meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken: Wie trage ich als Mann meine Einkaufstasche? Wie stelle ich mich an die Ampel? Werde ich komisch angeschaut? Interessanterweise scheint mich niemand zu beachten. Geht das wirklich so einfach? Nach ein paar Minuten fühle ich mich schon sicherer. Ich steige in die Straßenbahn, halte mich an einer der Stangen fest. Plötzlich wird mir siedend heiß. Ich starre auf meine Hände: An drei Fingernägeln kleben noch Reste meines Nagellacks. Auch Männer können Nagellack tragen, klar, doch um kein Risiko einzugehen, kratze ich ihn besser ab.

Keinen Artikel verpassen

Hol dir deine Dosis Inspiration – in unserem kostenlosen Newsletter.

Ich treffe mich mit Freund:innen in einem Café. Dort ahme ich die Sitzposen von anderen Männern nach – und mal wieder wird mir bewusst, wie viel Raum diese einnehmen. Im Gespräch versuche ich, meine Stimme tiefer zu stellen und möglichst neutral zu schauen. „Je freundlicher du bist, desto eher besteht die Gefahr, enttarnt zu werden“, meint Stephanie, „immer lächeln und nicken ist weiblich sozialisiertes Verhalten.“ Ich schaue also möglichst gelangweilt und setze das sogenannte „resting bitch face“ auf – wie ich es ausgerechnet bei Männern oft sehe.

Ich gehe in die Bäckerei, bummle noch ein bisschen herum. Kaum jemand scheint mein Auftreten zu hinterfragen. Es scheint, als hätte ich das Patriarchat ausgetrickst. Werde ich heute ausnahmsweise in den Kreis der weißen, mächtigen Männer aufgenommen? Am Abend esse ich in einem Imbiss. Der Verkäufer schaut mich prüfend an, ich halte seinem Blick stand. Schließlich fragt er: „Was darf’s sein, junger Mann?“ Das nehme ich als Beweis: Das Experiment ist geglückt.

Bald werde ich meinen Bart abwaschen und in mein altes Ich zurückkehren. Doch was bleibt von meiner Erfahrung als Drag King? Ich denke an die Überwindung des Patriarchats und an die zerbrechliche Macht von Männern: Geschlechterrollen sind schließlich nichts als bloßes Theater.

Fotos: Rahel Lang, Unsplash / Pawel Czerwinski

Autorin Rahel Lang mit männlichem Make-up und angeklebtem Bart.

Weiterlesen

Good Family Anzeige