Eigentlich wollte Han nur seinen Freund besuchen. Doch als er am Stadtrand von Krakau eine Straße überquerte, bemerkte er, dass ein parkender Autofahrer ihn beobachtete. „Als er mich gesehen hat, hat er den Motor angelassen – und ist in mich reingefahren“, erzählt Han, friemelt eine Zigarette aus der Packung und steckt sie sich zwischen die Lippen. Er verharrt einen Moment, bevor er sie anzündet, und blickt in die Ferne als sehe er dort noch einmal, was ihm vor ein paar Monaten widerfuhr. „Der Typ machte das Fenster runter und starrte mich böse an. Er sagte nichts, bis ich weggerannt war.“
Das Auto hatte nicht genug Geschwindigkeit, um Han ernsthaft zu verletzen. Trotzdem ging an diesem Tag in ihm etwas kaputt: Krakau ist Hans Heimat, hier wurde er geboren. Und doch fühlt sich der 21-Jährige nun nicht mehr sicher. Denn Han möchte sich nicht festlegen, welchem Geschlecht er sich zugehörig und von welchem er sich angezogen fühlt. Bisexuell, non-binär, queer – es gibt viele Labels, mit denen er sich identifiziert. Jedes einzelne ist gefährlich, wenn es die falsche Person in der falschen Ecke Krakaus zur falschen Uhrzeit erkennt – oder sich von seinen auffälligen roten Haaren provoziert fühlt.
Es sind die zwei Seiten einer Stadt, die damit ringt, wer sie ist und wer sie sein möchte. Im Zentrum der 800.000-Einwohner*innen-Metropole gibt es queere Clubs und Regenbogenfahnen hängen in den Fenstern. „Aber wenn ich an die Stadtgrenze gehe, bekomme ich seltsame Blicke, ich werde angeschrien, auf mich wird gezeigt und ich werde verfolgt“, sagt Han, setzt die Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug.
Auch Krakau bei Nacht ist ein anderer Ort als Krakau bei Tag. Sich bloß nicht von der Gruppe trennen, nicht alleine unterwegs sein, nicht auffallen: Han kennt die Regeln, er erinnert seine Freund*innen daran, wenn sie abends gemeinsam unterwegs sind. Muss Han doch mal alleine los, hat er inzwischen eine Dose Pfefferspray bei sich, „nur für den Fall“. Außerdem trainiert er seit einigen Monaten Selbstverteidigung, „weil viele meiner Freund*innen angegriffen worden sind, vor allem in letzter Zeit.“
Mit Messern gejagt
In diesem Jahr häufen sich die Angriffe auf queere Menschen, beobachtet auch Mateusz Gędźba. „Die Gewalt von Bürger*innen gegenüber der LGBTQ-Community wächst. Im Sommer hatten wir einige besorgniserregende Vorfälle, bei denen queere Menschen vor Schwulenbars mit Messern gejagt wurden”, sagt er. Statistiken, die das belegen, gibt es nicht, da die sexuelle Orientierung im Gegensatz zu Herkunft oder Religion nicht als Motiv für Hassverbrechen von den Behörden berücksichtigt wird. Unter anderem deswegen wurde Polen im vergangenen Jahr von der NGO ILGA-Europe zum Land mit den schlechtesten gesetzlichen und sozialen Bedingungen für queere Menschen innerhalb der EU erklärt.
Gędźba ist Vorstandsvorsitzender von DOM EQ, ein Verband, der verschiedenste LGBTQ-Gruppierungen zusammengebracht hat. Gemeinsam versuchen sie, die Situation für queere Menschen in Krakau zu verbessern. Im vergangenen Jahr eröffnete das Team ein Gemeinschaftszentrum. Ein altes Einfamilienhaus, mit Glitzer am Zaun und Regenbogenlichterkette, umfunktioniert zum queeren Hauptquartier Krakaus. Hier treffen sich verschiedene Selbsthilfegruppen, der queere Chor probt in den Räumen und Literaturliebhaber*innen organisieren Gedichtlesungen. Für Gędźba mit am wichtigsten sind die Beratungsangebote, sowohl für Rechtsbeistand, als auch für psychologische Hilfe: „Wenn jemand selbstmordgefährdet ist, lädst du ihn nicht auf ein Bier in einer Bar ein”, sagt der 36-Jährige. Deshalb sei es so wichtig gewesen, einen sicheren Ort wie das DOM EQ zu erschaffen. Aber was ist die Ursache des steigenden Hasses?
Unter anderem die Rhetorik der Katholischen Kirche in Polen. Von einer „Regenbogenpest“ sprach der Erzbischof von Krakau, Marek Jedraszewski, im Sommer 2019. Nicht sein erster Kommentar gegen die queere Community und nicht sein letzter. Regelmäßig stellt er die LGBTQ-Gemeinschaft als eine Ideologie des Westens dar, die bekämpft werden müsse. Was der Erzbischof sagt, hat Gewicht: Etwa 90 Prozent der polnischen Bevölkerung sind katholisch.
„Meine Kirche hasst mich.“ So fasst Karol Szymonik die aktuelle Situation zusammen. Der 26-Jährige ist gläubiger Christ – und schwul. „Ich habe zu Gott gebetet, dass er das von mir nimmt“, sagt er, wenn er an seine Schulzeit zurückdenkt. Karol stammt aus der kleinen Stadt Oświęcim, bei der das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz liegt. In Oświęcim kannte Karol keinen anderen schwulen Mann. Sich einzugestehen, homosexuell zu sein, fiel ihm schwer. „Erst als ich für mein Studium nach Krakau kam, habe ich mich freier gefühlt.“ Dort hörte er das erste Mal von anderen schwulen Männern und vertraute sich seinen engsten Freund*innen an, ehe er sich schließlich öffentlich outete. Am schwersten war es für Karol, gegenüber seinen streng katholischen Eltern offen zu sein: „Sie waren sehr überrascht, sie haben nicht einmal in Erwägung gezogen, dass so etwas möglich ist.“ An das Gespräch mit seiner Mutter kann er sich noch gut erinnern, obwohl es inzwischen vier Jahre her ist: „Als ich mich geoutet habe, hat meine Mutter heftig geweint.“ Seit dem Gespräch wird über Karols Sexualität in der Familie geschwiegen.
Karol arbeitet inzwischen in Krakau als Tierarzt. Hier fühlt er sich wohl, zumindest bis zu einem gewissen Grad: „Es gibt Orte, an denen wir uns gemeinsam treffen können, es gibt Kirchen, in die wir gehen können, wo wir akzeptiert sind – es ist sehr viel angenehmer als auf dem Land. Aber trotzdem gibt es überall Zeichen von Homophobie.“
Ablenken vom Missbrauchsskandal
Karol redet ruhig und konzentriert, nur wenn er über die Ungerechtigkeiten in seinem Land spricht, wird er merklich aufgebrachter, seine Stimme wird schneller, er fängt an, zu gestikulieren.
„Hier in Polen scheinen die Kirche und die LGBTQ-Community das Gegenteil voneinander zu sein und klar getrennt.“ Um das zu ändern, engagiert sich Karol in der Initiative „Glaube und Regenbogen“. „Wir als queere Christ*innen wollen zeigen, dass es möglich ist, diese beiden Identitäten miteinander zu verbinden.“ Mit der aktuellen Kirchenführung fällt das nicht immer leicht, aber Karol hat einen Weg für sich gefunden: „Die Bischöfe in Polen sind die eine Sache, mein Glauben ist etwas anderes. Ich höre nicht so genau hin, worüber die Priester in ihrer Predigt reden – denn das tut mir manchmal weh.”
Dass sich die Rhetorik der katholischen Kirche in den vergangenen Monaten noch einmal verschärft hat, ist für Karol kein Zufall. Ähnlich wie in Deutschland erschütterte auch in Polen ein Missbrauchsskandal der katholischen Kirche die Öffentlichkeit. Die Enthüllungsdokumentation „Aber sag es nur keinem“ zeigte 2019, wie Kirchenoberste missbrauchende Priester schützten und sie beispielsweise in andere Gemeinden versetzten, anstatt sie anzuzeigen. Seitdem kämpft die katholische Kirche mit Ablenkungsmanövern gegen den Imageschaden. Weil mehr Jungen als Mädchen vergewaltigt wurden, müsse es einen Zusammenhang zwischen Pädophilie und Homosexualität geben, so die haltlose Behauptung der Kirche. „Sie musste irgendetwas angreifen und wir als Minderheit in Polen sind leicht zu fassen“, sagt Karol. Besonders für Teenager*innen sieht Karol die Rhetorik der Kirche als große Gefahr. „Jugendliche, die gerade erst verstehen, wer sie sind, die glauben, vielleicht bin ich schwul, wenn sie Worte wie ,Regenbogenpest’ über sich hören, was halten die dann von sich selbst? Ich mag dir das gar nicht vorstellen.“
Mehr als 100 „LGBTQ-freie” Zonen
Besonders schwierig ist die Situation für queere Jugendliche im ländlichen Polen, sind sich Karol und Han einig. Dort gibt es keine Clubs, keine Treffs, keine Gemeinschaft wie in Krakau. „Wenn du auf dem Land als LGBTQ-Person keine Unterstützung deiner Familie hast, bist du ziemlich allein“, sagt Han. Und auch der Druck der Politik auf die LGBTQ-Gemeinschaft ist stärker. Seit 2019 riefen sich mehr als 100 Kommunen als frei von „LGBTQ-Ideologie” aus. „Du kannst doch nicht einfach ein Gebiet für LGBTQ-frei erklären und dann gibt es dort keine queeren Menschen mehr“, sagt Han. „Die Politiker*innen erreichen nur eines: sie verletzen diese Personen.“ Rechtlich gesehen haben die Deklarationen keine Wirkung – bislang. Aber DOM-EQ-Leiter Gędźba blickt mit Bangen nach Russland, wo zunächst ähnliche Erklärungen verabschiedet und dann in einem zweiten Schritt auch die Gesetze angepasst wurden. „Wir befinden uns an einem ziemlich traurigen und empfindlichen Moment, der für ganz Europa gefährlich ist. Bald werden die Probleme auch in anderen Ländern losgehen. Es ist wie Krebs. Wenn wir nicht früh genug dagegen kämpfen, wird es sich weiter ausbreiten.”
Die EU-Kommission strich einigen der homophoben Gemeinden Fördergelder im Rahmen von Städtepartnerschaftsprogrammen. Daraufhin beschloss der polnische Justizminister, diesen finanziellen Verlust mit Mitteln aus der Staatskasse auszugleichen. Man wolle sich einer Ideologie widersetzen, „die mit der polnischen Tradition und dem polnischen Recht unvereinbar ist.“
Auch Fünf der 16 polnischen Woiwodschaften, vergleichbar mit unseren Bundesländern, erklärten inzwischen ein Bekenntnis zu den LGBT-freien Zonen. Darunter auch Kleinpolen, die Woiwodschaft, in der Krakau liegt. Stadtpräsident Jacek Majchrowski betonte daraufhin in einem offenen Brief, dass Krakau eine tolerante und weltoffene Stadt sei: „Alle, darunter auch Vertreter der LGBTQ-Community, sind hier willkommen”, schrieb er.
Gędźba sieht Statements wie dieses kritisch. Er glaubt, hinter der Erklärung stecke vor allem politisches Kalkül. 2023 sollen in Krakau die Europaspiele stattfinden. Das bedeutet viel Aufmerksamkeit und viel Geld für die Stadt. Ausländische Politiker*innen kritisierten den Austragungsort aufgrund der Erklärung Kleinpolens zur LGBTQ-freien Zone und forderten, die Spiele nicht in Krakau zu veranstalten: „Krakau profitiert enorm von den europäischen Geldern. Wenn das Geld zurückgehalten wird, steckt Krakau in großen Schwierigkeiten. Das haben die Politiker*innen recht schnell verstanden”, sagt Gędźba. Mit Blick auf das Ausland unterstütze man die Community, gehe es aber um echte Bekenntnisse, etwa finanzielle Unterstützung, halte sich die Stadt zurück.
Ein Gegengewicht zur Homophobie
Gleichzeitig gehen kirchliche, rechts-konservative Gruppen immer aggressiver vor, um auch die etwas besser geschützten LGBTQ-Gemeinschaften in den Städten anzugreifen – wie in Krakau. Regelmäßig fahren Trucks mit großen Lautsprechern durch die Städte des Landes und rufen homophobe Propaganda aus. Damit schüren sie in den Großstädten den Hass und verunsichern queere Menschen. Im November 2020 hatte Han endgültig genug davon. Mit ein paar anderen queeren Aktivist*innen Krakaus schloss er sich zur Bewegung „Der Regenbogen ist nicht tot“ zusammen. Gemeinsam starteten sie eine Petition, in der sie den Stadtrat auffordern, das Fahren dieser Trucks durch Krakau zu verbieten. Dafür sammelten sie Unterschriften, organisierten Veranstaltungen und versuchten, ein Gegengewicht zur Homophobie von Politik, Kirche und Medien zu schaffen: „Das wichtigste ist es, Aufmerksamkeit zu erzeugen, die Bevölkerung aufzuklären und ein Bewusstsein für die LGBTQ-Community zu erzeugen“, sagt Han. Große Erfolgschancen rechnet sich DOM-EQ-Sprecher Gędźba für die Petition nicht aus: „Um ehrlich zu sein, bin ich mir ziemlich sicher, dass der Stadtrat den Bürgervorschlag ablehnen wird – aber trotzdem hat es etwas Gutes: Es wird eine Diskussion angestoßen, die die Stadt weiter unter Druck setzen wird, etwas gegen die Trucks zu unternehmen.”
Queere Menschen in Polen: Optimistisch trotz allem
Je stärker der Gegenwind, desto selbstbewusster wird die Gemeinschaft, meint Gędźba: „Vor ein paar Jahren waren wir eine soziale Gruppe hier in Krakau. Aber wir hatten keine gemeinsame Identität. Mein Eindruck ist, dass Initiativen wie DOM EQ dabei geholfen hat, so eine gemeinsame Identität entstehen zu lassen.”
Wenn Han an die Zukunft denkt, ist er vorsichtig optimistisch: „Es gibt viele junge Personen, die aufstehen, ihre Stimme erheben und Pride-Proteste organisieren – schon mit 15 Jahren. Ich bin so stolz, dass sie vieles in die eigene Hand nehmen und viel motivierter sind, als ich es in ihrem Alter war.“ Und nicht nur die Jugend macht ihm Hoffnung für die Zukunft: „Ich sehe auch Menschen über 40, die sich auf einmal outen und sagen: Ich habe genug von dem Scheiß, die protestieren gehen und sich zeigen.“
Auch Karol will sich nicht länger verstecken: „Ich versuche, sehr extrovertiert zu sein. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns als LGBTQ-Personen den anderen Menschen zeigen. Wenn sie uns nicht sehen, dann denken sie auch nicht über uns nach.“ Seit diesem Jahr bietet er in Krakau Tanzkurse für gleichgeschlechtliche Paare an und ist damit polenweit ein Vorreiter. „Bei heterosexuellen Paaren ist klar, der Mann führt. Aber wie ist das bei gleichgeschlechtlichen Paaren? Das bringe ich ihnen bei“, sagt er. Bis Karol coronabedingt pausieren musste, betreute er zwölf Paare. Das Feedback sei sehr positiv, berichtet Karol. Wenn er von seinen Tanzkursen spricht, erzählt er mit einer Freude, dass man meinen könnte, als schwuler Christ Tanzkurse für gleichgeschlechtliche Paare im streng katholischen Krakau anzubieten, sei das normalste auf der Welt. Und vielleicht ist es das bald auch. Aktuell ist in Polen einiges in Bewegung. Die Menschen gehen auf die Straße, um gegen das Abtreibungsverbot zu demonstrieren und damit auch gegen die Regierung, gegen die Einmischung der Kirche in die Politik, für Menschenrechte. Karol macht eine kurze Pause, als müsse er über die nächsten Worte gut nachdenken. Als er sich entschieden hat, bringt er diese Sätze mit einer Überzeugung zum Ausdruck, dass man ihm am liebsten glauben will: „In den Köpfen der Leute passiert etwas – langsam gibt es eine Veränderung.“
Auch im Februar 2021 demonstrieren in Krakau Frauen und queere Menschen gegen den Staat und die Kirche in Polen.