Mein erstes Mal...

Beim Aktzeichnen

Die nackte Wahrheit kann schön sein – und meditativ. Vor allem, wenn man sie zeichnet. Manchmal verändert sie sich dabei fast unbemerkt. Tanika Trum hat es selbst erlebt

Der Stuhlkreis ist schon gut belegt, als ich leicht durchnässt vom plötzlichen Sommerregen den hellen Raum betrete. Teilnehmende unterhalten sich oder kramen in ihren Taschen nach Stiften. Auf einem Tisch eine Spendenbox, eine Obstplatte, Zeichenmaterialien. Decken, die mit Klebeband an den bodentiefen Schaufenstern – wir befinden uns im Hochparterre eines Altbaus – befestigt sind, schützen vor Blicken. Inmitten des Stuhlkreises thront ein Tisch, bedeckt mit einem beigefarbenen Tuch. Hier wird gleich ein Model Platz nehmen – nackt. Ich bin heute hier, um Akt zu zeichnen.

Ich zeichne gerne, nur leider viel zu selten. Meine letzten Skizzen sind während des ersten Corona-Lockdowns entstanden. Als meine Mitbewohnerin mir eines Abends ihre Skizzen vom Aktzeichnen präsentierte, wurde ich neugierig. Eine echte Person vor sich haben und diese zeichnen? Das wollte ich selbst ausprobieren. Auf Instagram wurde ich fündig: Jeden Dienstagabend trifft sich im Leipziger Osten eine Gruppe Kunstbegeisterter im Pöge-Haus, einem Raum für kulturelle und gesellschaftliche Projekte. Aber wieso eigentlich gerade zum Aktzeichnen?

Das frage ich Liza, sie hat Kunst studiert und ist eine der Organisator:innen. „Es kommen einfach mehr Menschen als für Porträt oder Stillleben“, antwortet sie und lacht. Irgendwie hatte ich von ihrer Antwort mehr erwartet. Dass es darum gehe, Körper in all seinen Formen zu zelebrieren vielleicht. „Aber das ist doch selbstverständlich“, sagt Liza. Kein Körper wird hier bewertet, jede Person, die sich meldet, darf modeln. Eine Freundin von Liza hat den Aktzeichen-Treff im Februar 2023 ins Leben gerufen. Sie wollte einen kreativen Raum schaffen, der allen zugänglich ist. Die Teilnahme ist ohne Anmeldung und auf Spendenbasis möglich. Die kleine Gruppe wuchs schnell. Gerade in tristen Wintermonaten versammeln sich schon mal 70 Leute dienstagabends im Pöge-Haus.

Ich schnappe mir ein Klemmbrett mit ein paar Bögen Papier und setze mich auf einen freien Stuhl. Insgesamt gibt es zwölf Runden, in denen das Model unterschiedliche Posen einnimmt: Die kürzeste dauert zwei und die längste fünfzehn Minuten. Unser Model heißt Ivan. Er ist groß, hat dunkelbraune kurze Haare und trägt einen schwarzen Umhang aus Leinen, den er jetzt aufknotet. Reflexartig wende ich meinen Blick von ihm ab. Wie dämlich. Schließlich bin ich hier, um ihn zu zeichnen. Ich hebe meinen Blick wieder. Der schwarze Stoff liegt am Boden und Ivan sitzt nackt im Schneidersitz vor mir. Kurz ist es mir unangenehm, dass ich ihn so anstarre. Noch nie habe ich so intensiv eine Achselhöhle angeschaut. Dann gibt Liza den Startschuss für die erste Runde und meine Verlegenheit wechselt in Überforderung. Wo fange ich überhaupt an? Ich schaue zu Ivan, dann wieder auf mein Klemmbrett. Unbeholfen setze ich den ersten Strich an. Mein erster Ivan entsteht als kleines, unfertiges Wesen in der linken Ecke meines Papiers.

Jede Runde, jede Pose, jede neue Zeichnung ist ein Erlebnis. Die Zeit verfliegt, meine Hemmungen schwinden. Die Bilder werden größer, die Striche stärker. Ich bin fokussiert, nehme außer Ivan und meinem Blatt Papier nichts von meiner Außenwelt wahr. Ivans Körper ist ein einziges Gefüge aus Linien und Schatten. Als die letzte Runde endet, brauche ich einen Moment, um aus meinem Tunnel zurückzukehren.

Erstaunlich, was die anderen in so kurzer Zeit geschaffen haben. Ihre Ivans haben sogar Gesichter. Teilweise zumindest. All unsere Ivans unterscheiden sich ein bisschen, stelle ich mit Blick auf meine besonders muskulös geratenen Waden fest. Kunst ist eben nie nur ein Spiegel dessen, was da ist. In meinen Ivans steckt halt immer ein bisschen Tanika. Auch das Model selbst schaut sich die Abbilder an. Als Zeichner war er schon unzählige Male hier, Modell gestanden hat er heute zum ersten Mal, aus Dankbarkeit den anderen Models gegenüber und weil er selbst mal so mutig sein wollte: „So aufgeregt war ich zuletzt als kleines Kind, aber nach zwei Minuten hab ich mich echt wohlgefühlt.“ Wird er es wieder machen? Definitiv.

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Für mich waren diese zwei Stunden eine Kur. Schon lange nicht mehr habe ich mich so sehr auf eine Sache konzentriert und alle anderen Gedanken ausgeblendet. Mir raucht der Kopf vor Konzentration, aber ich fühle mich irgendwie ganz ruhig und ausgeglichen. Für mich steht fest: Ich komme wieder.

Foto: Tanika Trum

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Tanika Trum

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