Ein Vorhang aus Schnee, dahinter Beton, geformt wie ein Ufo. Vor mir taucht das Technikmuseum Evoluon in Eindhoven, Niederlande, auf. Hier zeigt das internationale Netzwerk NextNature die Ausstellung RetroFuture. Es ist Mitte März, ein paar Grad über dem Gefrierpunkt, die dicken Schneeflocken machen sich am Boden unsichtbar.
Ich betrete den Sockel der fliegenden Untertasse und damit eine offene Halle mit vier Ringen als Etagen, die sich an den Außenwänden emporschrauben. Von der Decke hängen futuristische Elemente aus upgecycelten Musikboxen, ihre Form erinnert mich an Bienenwaben. „The future repeats itself“ prangt an der Balustrade des ersten Rings: „Die Zukunft wiederholt sich.“ Ring für Ring schält sich die Bedeutung des Schriftzugs heraus. Verspielte Installationen erzählen, wie sich Forschende, Skeptiker:innen und Träumende vor vielen Jahrzehnten die Zukunft vorstellten – und damit unsere Gegenwart beeinflusst haben.
Alte neue Ideen
1974 etwa brachte der Industriedesigner und Politiker Luud Schimmelpennink seine „Witkars“ auf die Straßen Amsterdams: elektrische Mini-Fahrzeuge, die untereinander geteilt wurden. Er wollte Autos aus der Innenstadt verdrängen und die Luft verbessern. 1988 war das Projekt tot. Die Gemeinde habe zu wenig Ladestationen genehmigt.
1925 prognostizierte Hugo Gernsback, dass sich Patient:innen bald auf Abstand ärztlich behandeln lassen, durch eine Art Screen namens „Teledactyl“. 1963 erfand der Publizist außerdem eine „Telebrille“ zum Fernsehen, die Bilder stereoskopisch, also mit räumlicher Tiefe wiedergeben konnte und einem VR-Set ähnelte. Über selbstfahrende Autos und Staubsaugroboter wurde zu der Zeit ebenfalls spekuliert. Die Architektin Alice Constance Austin entwarf 1915 Häuser ohne Küchen, um Frauen vom Kochen und Waschen zu befreien, und Richard Buckminster Fuller stellte 1930 ein Tiny House aus flexiblen Modulen vor.
Die Visionen waren ihrer Zeit voraus, manche sind es bis heute. Der Künstler Jean-Marc Côté stellte sich 1900 vor, wie Schüler:innen im Jahr 2000 lernen: Um noch mehr Wissen in kürzester Zeit aufnehmen zu können, werden die Bücher mit einer Art Headset in die Köpfe hochgeladen. Oder: Weil es im 21. Jahrhundert sehr viel Luftverkehr geben wird, müssen auch den Polizist:innen Flügel wachsen, um dort für Ordnung sorgen zu können. Verschiedene Denker:innen vom 14. Jahrhundert bis ins frühe 20. Jahrhundert vermuteten außerdem, dass wir Häuser im Himmel bauen werden – echte Luftschlösser aus Mörtel und Stein auf schwebenden Felsen zwischen den Wolken.
Über die Zukunft zu grübeln, ist typisch menschlich: Zeitlose Träume wie das ewige Leben oder vogelgleiches Fliegen beschäftigten schon Kleopatra oder Da Vinci. Genauso charakteristisch wie Zukunftsvisionen: Zukunftsangst.
Nukleare Aufrüstung, Tschernobyl, Waldsterben, Aids-Epidemie: In den Achtzigern reagierten junge Protestbewegungen mit dem Slogan „No Future“. Als ich über die Forderungen der Demonstrierenden lese, etwa Umweltschutz, tickt im Hintergrund eine Doomsday-Uhr. Ihr gewaltiger Schall verfolgt mich seit dem ersten Etagenring und ihre Bedeutung – Klimakrise, Artensterben, Kipppunkte – seit vielen Jahren. Noch ein paar Stufen, dann bin ich im „Jahrmarkt der Zukunft“, Ring vier. Die Stimmung hier: mehr Dungeon als fröhliche Kirmes. Aus dem „House of Horrors“ dröhnt Gelächter, ein Spielautomat piept schrill und hinten blinkt ein Karussell – die Zeitmaschine.
Reise in die Zukunft
Auf dem Weg dorthin passiere ich einen Warenautomaten. Statt Kitkat und Kaugummi gibt es hier Bauziegel aus Fungi, Leder aus Bakterien, Benzin und Leuchtmittel aus Algen. Dann werde ich von einem Steward begrüßt und in ein Geschirr aus Sicherheitsgurten geschnallt, das am Karussell baumelt. Sobald VR-Brille und Kopfhörer sitzen, höre ich dumpf aus der Ferne „schöne Reise“. Vor meinen Augen verdorrt eine sattgrüne Landschaft im Zeitraffer. Ich blicke auf meine Avatar-Hände und auf den Felsvorsprung unter mir. Aus dem Boden im Tal wachsen Hochhäuser, erst gläserne Klötze, dann begrünte Türme in Erdtönen. Plötzlich heben meine Füße vom Boden ab, ich sinke in die Gurte und schaukel vor und zurück. Viele Millionen Jahre weiter ist der Landstrich geflutet, auch aus dem Wasser sprießen Hochhäuser wie Pflanzen. Gegen Ende meiner Reise tauche auch ich ins Wasser ein, sinke tief ins dunkle Reich der Mikroben, Anfang allen Lebens. Ich richte mich wieder auf, Füße auf den Boden, Kopf schummrig. „Willkommen zurück“, sagt der Steward.
RetroFuture läuft noch bis zum 3. September 2023. Alle Infos: evoluon.com
Digitaler Querschnitt des Austellungs- und Konferenzhauses Evoluon in Eindhoven.