Schon von Weitem höre ich Musik, als ich in den Hinterhof einbiege: starker Bass und elektronische Melodien, die sich nach 80ern anhören – nur dunkler. Ich folge ihnen und betrete einen Raum mit schwarzen Wänden, großen Lautsprechern und zwei DJ-Pulten. Marlene Wenke steht an einem davon, drückt Knöpfe und schiebt Regler. Das Outfit schwarz, kurze Haare, Piercings. Seit 2018 ist sie DJ Mercy, heute Leiterin des Workshops, der gleich startet. Im Komma, einem Jugend- und Kulturzentrum in Esslingen am Neckar, probiere ich mich das erste Mal als DJ aus.
Meine DJ-Erfahrungen beschränken sich bisher auf den Kampf mit meinen Brüdern um das Aux-Kabel und die Bluetooth-Verbindung im Auto meiner Eltern – und Song-Warteschlangen auf Spotify, die ich mit Freund:innen teile. An einem DJ-Pult stand ich noch nie. Würde ich aber gerne. Weil ich in letzter Zeit immer mehr Frauen kennengelernt habe, die in ihrer Freizeit Musik auflegen, möchte ich verstehen, was hinter dem DJ-Pult passiert – und in einem sicheren, angenehmen Umfeld ausprobieren, ob ich das auch könnte.
DJ-Workshops und Jam-Sessions speziell für FLINTA* gibt es in immer mehr deutschen Städten. Gegenseitige Unterstützung, kein Lachen über schiefe Erstversuche, keine Diskriminierung: Das alles sollen diese Safer Spaces bieten. „Wenn du dich als FLINTA* auf die Bühne stellst, bist du nie frei davon, sexualisiert zu werden“, sagt Bettina Marquardt vom Popbüro Stuttgart, die den Workshop heute mitorganisiert hat und seit 2014 selbst DJ ist. Das schränke Betroffene ein, zu tun, was sie wollen. In der männlich-dominierten Musikbranche ist gleichberechtigt Musik aufzulegen immer noch nicht Realität.
Bevor wir uns an die sogenannten CDJs wagen – das sind digitale Abspielgeräte, die seit den 90ern überwiegend benutzt werden –, schauen wir uns ihre Vorgänger an: die DJ-Decks mit Turntable, also Plattenspieler. Vinyl ist Mercys Spezialgebiet. Bis zu 35 Kilogramm Schallplatten transportiert sie in ihren Rollwagen, wenn sie abends auflegt, das sind mehr als 50 Stück. Die CDJs sind ein Mix von digitaler und mechanischer Simulation der Turntable-Decks: Oben hat das Pult kleine Screens mit digitalen Song-Listen, rechts und links zwei drehbare Teller, dazwischen liegen Knöpfe und Regler für Tonhöhen, Lautstärke, Sound-Effekte. Mithilfe der drehbaren Teller lassen sich Songs so steuern, als spiele man sie von einer Schallplatte ab. Bewegt man sie mit der Hand vor und zurück, kann man zum Beispiel auch digital „Scratching-Effekte“ erzeugen.
„Das erste Mal an einem Mischpult ist, als würde man an einem Flugsimulator stehen“, sagt Mercy. Genauso fühle ich mich. Kopfhörer, Musikboxen, Kanäle, Geschwindigkeit – ich versuche, mir einen Überblick über die wichtigsten Regler zu verschaffen. Um die Songs möglichst flüssig ineinander überlaufen zu lassen, zeigt Mercy uns das „Cueing“: Vorhören, um den richtigen Punkt im nächsten Song zu finden, an dem übergeleitet werden soll. Daher tragen DJs ihre Kopfhörer oft nur über einem Ohr. Mit ihm hören sie in den nächsten Song rein und planen den Übergang, während das Publikum noch zum aktuellen Song tanzt. Als Mercy uns das zeigt, verschmelzen die Songs in meinem Kopf zu einem Chaos. Es fällt mir schwer, sie zu entwirren – ich weiß nicht, ob ich das einen ganzen Abend lang könnte.
Vorhören und Einsetzen übe ich mit der Single „Tainted Love“ von Soft Cell. Damit der Song mit Schwung auf dem ersten Beat startet, soll ich der Platte einen kleinen Schubs geben. Das gelingt mir noch nicht so gut – zu langsam. Es entsteht eine Pause, in der wir alle auf die Schallplatte starren, bis der Song anfängt. Anders ist es beim CDJ: Es gibt mehr Knöpfe und ich muss sie gleichzeitig oder sehr schnell in der richtigen Reihenfolge drücken. Weil das je nach Geschwindigkeit nicht so leicht ist, testen wir manche Übergänge in Zweierteams und teilen das Knöpfedrücken einfach auf.
Bis man vor einem Publikum auflegen kann, muss man alles stundenlang üben – ein einziger Workshop reicht nicht. Trotzdem habe ich Lust dranzubleiben, die Musik aufzudrehen, Übergänge auszuprobieren. Dafür fehlt mir nur ein CDJ – den will das Komma demnächst in einem Proberaum zur Verfügung stellen, damit DJ-Anfänger:innen auch nach dem Workshop kostenfrei üben können. Vielleicht komme ich dafür mal wieder – bis dahin tanze ich aber weiter in der Crowd, zu den Sets von anderen FLINTA*-DJs.
*Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen
Mein erster DJ-Workshop wir von DJ Mercy, die seit 2018 Platten auflegt und heute ihre Leidenschaft weitergibt, angeleitet.