Krisengespräche
Der Journalist Alexander Karam bringt mit seiner Plattform The What If Menschen zusammen, wo kaum noch ein Dialog möglich scheint: in Krisengebieten.
Libanon und Afghanistan: zwei Länder, gezeichnet von Kriegen und Konflikten – Medien und die zivile Öffentlichkeit sind alles andere als frei, die Stimmung ist zum Reißen gespannt. Wie können Menschen trotzdem ins Gespräch kommen? Vielleicht funktioniert das in moderierten Online-Dialogen, sagte sich der Journalist Alexander Karam 2023. Und gründete die Plattform The What If.
„Im Libanon haben die What-If-Dialoge Schiiten und Christen zusammengebracht, zwei religiöse Gruppen, die sich sonst meiden“, sagt Karam. Er ist selbst „halber Libanese“, verbrachte als Kind eines Französisch-Libanesen einige Jahre im Libanon, bis zum Attentat auf Ministerpräsident Rafiq al-Hariri 2005. Die Familie suchte eine sicherere Zukunft in Bayern, doch Karam lässt das Land zwischen Syrien und Israel nicht los: Er studiert Politikwissenschaften in Beirut, schreibt für das Nahost-magazin Zenith. Möchte tiefgründiger über die Region berichten, als es in den üblichen 90 Sekunden als Korrespondent möglich ist. Langfristig Themen vor Ort begleiten.
Dann erfährt er, dass Media for Peace gerade in Beirut unterwegs ist, ein gemeinsames Forschungsprojekt des Media Lab München, der Universität der Bundeswehr München und des Zentrums für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr. Sie untersuchen, wie Frieden und Journalismus zusammengehen. Eine der Säulen ihrer Forschung lautet: Dialoge. 2023 entsteht ein erstes Konzept für eine digitale Plattform für Friedensjournalismus. Karam wird Marketing-Werkstudent, er will unbedingt dabei sein.
Ein Schritt hinaus aus dem Paradies
Ein Jahr später leitet Karam The What If. Seine libanesische Familie kann nicht ganz nachvollziehen, warum er sich so intensiv mit dem Land beschäftigt. „Der wohnt doch im Paradies auf Erden in Deutschland. Wieso will er jetzt freiwillig seinen Lebensunterhalt mit dem Libanon verdienen?“, fragten sie. Karam: „Weil ich daran glaube, dass wir damit etwas verändern können.“
2024 haben vier The-What-If-Moderator:innen im Libanon und in Afghanistan ein Netzwerk vor Ort aufgebaut. Sie sprechen persönlich Leute an, beantworten so lange ihre Fragen, bis sie Vertrauen zur Initiative haben: Keine Agenda aus Israel steckt dahinter, keine Falle – es geht wirklich um sie. Im Libanon sind mittlerweile etwa 90 Menschen aus allen Bevölkerungsschichten und fünf Journalist:innen dabei. In 22 Dialogen haben sie 106 Menschen zusammen ins Gespräch gebracht, online, um die Sicherheit für die Teilnehmer:innen zu wahren. Aus den Dialogen sind neun Artikel und Podcasts entstanden – und erste Lösungsansätze: So soll 2025 eine Plattform online gehen, auf der Afghan:innen in der Diaspora einen geschützten Raum für Austausch finden; mitten im konfliktbehafteten Tayouneh-Viertel in Beirut ist ein realer Raum für Begegnungen geplant. Gerade ruht das Projekt allerdings – 2024 hat Israel Tayouneh bombardiert. Karam will so bald wie möglich wieder nach Beirut reisen: „Nachhaltiger Frieden entsteht im Lokalen.“
Beruhig deine Amygdala
Autorin Diane Hielscher hat nach einer Krise gelernt, wie man Wut und Reizbarkeit überwindet. Auf ihrer Online-Plattform LifeXLab stellt sie Podcasts, Kurse, Dokus zusammen, die anderen zeigen, wie’s geht.
„Mit einem Bein in der Depression“ – so fühlte sich Diane Hielschers Zeit nach der Trennung von ihrem Partner 2017 an. Zwei kleine Kinder musste sie versorgen, als Radiomoderatorin arbeiten – funktionieren. Es war, als habe sie die Schwerkraft nach unten gedrückt, bei Ikea im Keller dann die erste Panikattacke, gefolgt von der nächsten am Berliner Hauptbahnhof. Das Gehirn: überreizt. Genauer: die Amygdala, jene Hirnregion, die Angst, Wut und Reizbarkeit steuert.
Hielscher macht, was sie als Journalistin immer macht: Sie recherchiert. Hunderte Bücher liest sie – zu Achtsamkeit, Gefühlsregulation, Selbstliebe. Verschlingt neuropsychologische Studien, will verstehen, wie das Gehirn und die Psyche funktionieren. Sie probiert Techniken der positiven Psychologie aus, meditiert täglich, schreibt ein Dankbarkeitstagebuch – und erkennt: All diese kleinen Übungen zusammen stellen neue neuronale Verbindungen im Gehirn her, stärken das Belohnungssystem und reduzieren Stress. Die Folge: mehr Ruhe im Kopf. „Und plötzlich konnte ich wieder so etwas Rudimentäres wie Frühstück für meine Kinder machen.“
Hielscher reicht es nicht, sich selbst geholfen zu haben – sie will dieses Wissen für alle zugänglich machen. Also legt sie los. Produziert einen Achtsamkeits-Podcast, schreibt ein Buch – und gründet 2023 die Online-Plattform LifeXLab, „das Netflix der Transformation“ nennt sie es und „das Zuhause für wissenschaftlich Sinnsuchende“. LifeXLab ist ein Mix von Online-Kursen, Podcasts, Dokus, Interviews mit Expert:innen und Porträts. Hielscher und ihr Team verfassen viele Beiträge selbst, andere geben sie bei Journalist:innen und Expert:innen in Auftrag. Die Themen: „Happy Brain – ein gesundes Gehirn“, „Begleiten & Beteiligen – Friedliche Städte“ oder „Wie wir Zukunft gestalten“ – ja, wie denn?
„Transformation beginnt im Inneren des Einzelnen“, sagt Hielscher. Was kann denn eine Person in der Klimakrise, in Kriegen und Konflikten ausrichten? „Man weiß aus der Netzwerkforschung: Wenn eine Person etwas verändert, kann sich etwas im ganzen System tun.“ Entscheidend: dass sich Einzelne als handlungsfähig erleben.
Bei der Auswahl der Beiträge orientiert sich Hielscher deshalb auch an den Inner Development Goals (IDGs), einem Pendant zu den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen. Menschen aus Forschung, Unternehmen und Zivilgesellschaft haben die IDGs 2020 entwickelt. Sie hatten sich gefragt: Wieso schaffen wir es nicht, die SDGs umzusetzen, obwohl klar ist, was zu tun ist? Liegen die Barrieren in uns selbst? Fünf Felder hat die Gruppe herausgearbeitet, in denen wir uns weiterentwickeln sollten: von der Beziehung zu uns selbst über die Sorge um andere bis zur Zusammenarbeit. Die IDGs sollen Menschen befähigen, die Zukunft selbst mitzugestalten. „Denn sie wird nicht kommen, wenn wir uns dauergereizt und auf Adrenalin Angstgeschichten erzählen“, sagt Hielscher. Ganze Teile der Gesellschaft hätten gerade einen Wutanfall, weil sie sich unwirksam, ungehört und unwichtig fühlten. Doch jede:r könne lernen, die Amygdala zu beruhigen – um ins Handeln zu kommen.
Transformation beginnt im Inneren des Einzelnen, so Diane Hielscher, Gründerin von LifeXLab