Eine Holzbrücke führt über eine Senke nach Char Pouli, einem Dorf, in dem sich Wellblechhütten rund um Moschee und Marktplatz gruppieren. Durch die Lücke einer Wellblechmauer schlüpft man an einem Januartag 2024 in einen Hof, durch den eine Henne mit ihren Küken eilt. Jhorna Khatun tritt aus ihrem Haus heraus auf den Erdboden, ihr rotes Gewand setzt einen farblichen Akzent. Die Mittdreißigerin lässt sich auf einem Plastikstuhl nieder und zieht sich scheu ein Tuch über den Mund. Khatun liebt ihren Ort im Herzen Bangladeschs. Sie arbeitet dort als Näherin, kennt ihre Nachbar:innen, hat Verwandte. Sie will bleiben, unbedingt. Das Problem: Ihr Heimatdorf verschwindet, sukzessive. Und Khatun muss immer weiter zurückweichen.
Khatun lebt am Jamuna, einem Fluss, der sich 240 Kilometer durchs bengalische Tiefland wälzt und den Brahmaputra mit dem Ganges verbindet. Seit einiger Zeit geschieht Merkwürdiges mit ihm: Er dehnt sich immer weiter aus. An manchen Stellen ist er inzwischen so breit, dass von einem Ufer das andere nicht mehr zu sehen ist. Von Jahr zu Jahr frisst er sich tiefer ins Land. Dabei verschlingt er Tausende Hektar Uferflächen und reißt das Zuhause Zehntausender Menschen mit sich. Wie ein hungriges Tier.

Einst hat die Familie von Khatun viel Land besessen, auf dem sie Reis und Linsen anpflanzte. Neunmal musste ihr Vater das Haus abbauen und weiter landeinwärts versetzen. 5.000 Quadratmeter, ein halbes Hektar Land und eine Kuh habe der Fluss ihnen genommen, erzählt sie.Neben ihr haben sich andere Frauen und Kinder gruppiert, mehr als ein Dutzend, und im Haus müssen noch weitere zuhören, denn unterm Wellblech lugt eine ganze Reihe nackter Zehen hervor. Auch nachdem sie geheiratet hatte und mit ihrem Mann in ein eigenes Haus gezogen war, kam der Fluss gefährlich nahe. Sie zogen aufs Grundstück der Schwägerin. Eines Morgens sagte jemand, dass seltsame Geräusche vom Ufer kämen. Khatun rannte hin und sah, wie Uferstücke wegbrachen und unter Getöse ins Wasser klatschten. Ihr Land. Ihre Bäume, Mango- und Jackfruitbäume, die sie gepflanzt und gehegt hatte. Sie trieb die Kühe weg vom Abgrund und sah zu, wie sich der Riss vergrößerte und der unterspülte Boden wegsackte.

Man könnte annehmen, dass sie jetzt nur noch fortwill. Aber das Gegenteil ist richtig.
Reist man am Jamuna entlang, begegnet einem das immer wieder: Der Jamuna raubt den Menschen alles – und doch wollen sie sich nicht von ihm trennen. Sie setzen ihre Wellblechhütten ein paar Meter um, wenn ihr Land erodiert ist, oder ziehen weiter hinein ins Dorf, seltener in den nächsten Ort und noch seltener in die nächste Stadt. Schon gar nicht ins Ausland. Es ist also keineswegs so, wie es in der aktuellen Migrationsdebatte hierzulande oft vermittelt wird: dass sich die Menschen in den Wirren des Klimawandels rasch aufmachen und in Scharen in den reichen Norden fliehen.
Das ist das Ergebnis eines einzigartigen Langzeitprojekts der ETH Zürich. Die Wissenschaftler:innen wollten mit ihm herausfinden, was Klimamigration bedeutet. Normalerweise laufen Studien so ab: Irgendwo auf der Welt erodieren die Flussufer, versalzen die Böden oder verdorren die Landstriche – woraufhin Migrationsforscher:innen dorthin reisen und nach den Menschen suchen, die bereits geflohen sind. Doch das sind nur Momentaufnahmen. Die Klimakrise aber ist ein Langzeitphänomen. Auch ist nicht klar, ob die Geflohenen tatsächlich wegen des Klimawandels umgezogen sind oder aus wirtschaftlichen Gründen. Dazu braucht es eine Langzeitstudie.
Deshalb entschied sich das Team um Vally Koubi, Lukas Rudolph und Jan Freihardt für Bangladesch, genauer: den Jamuna. In Südasien führt die Klimaerwärmung dazu, dass die Gletscher im Himalaya abschmelzen, der Monsunregen an Kraft gewinnt und der Meeresspiegel steigt. Letzteres staut das Flusswasser vom Golf von Bengalen bis Hunderte Kilometer ins leicht abfallende Land zurück, was den Abtransport der Sedimente aus den Bergen erschwert. Es bilden sich Sandbarrieren im Fluss. Prallen die Wassermassen aus der Gegenrichtung darauf, krachen sie gegen die Uferbänke. Deshalb brechen in fast jeder Monsunsaison sandig-tonige Uferstellen weg. Wo genau, lässt sich nie im Voraus sagen.

Die ETH-Forschenden wählten 2.200 Menschen entlang des Flusses aus. Auf Satellitenkarten können sie nachverfolgen, wer nach einer Monsunsaison sein Land verloren hat und wer nicht. Freihardt vergleicht sein Vorgehen mit einer medizinischen Versuchsanordnung: Die Hälfte der Gruppe bekommt das Medikament verabreicht, die andere das Placebo. „Dann schauen wir auf den ‚Krankheitsverlauf‘, also wer nach dem Monsun migriert ist und wer nicht.“ Denn wer die Anzahl der Migrant:innen in den Dörfern kennt, in denen es keine Erosion gegeben hat, kann abschätzen, wie viele Menschen aus anderen Gründen weggezogen sind, etwa nach einer Heirat oder für einen Job in Dhaka. So lässt sich bestimmen, wie viele der Menschen in den Dörfern, die von Erosion betroffen waren, tatsächlich wegen der Umweltveränderungen geflohen sind.
Vor Ort befragen nun jedes Jahr Dutzende Student:innen aus Bangladesch für Freihardt die Dorfbewohner:innen; sie waten durch die Arme des Jamuna, durchqueren Maisfelder und legen manchmal alleine Dutzende Kilometer von Dorf zu Dorf zurück. Eine von ihnen ist Ayesa Nazmin. „Dieses Projekt hat mir die Augen für die Realität meines Landes geöffnet“, erzählt die Kunststudentin von der Universität Dhaka. Wie hart das Leben vieler Menschen ist, wie wenig sie besitzen, in Regionen, von denen sie nie gehört hat. „Gleichzeitig berührten mich die Freundlichkeit und Offenheit der Dorfbewohner:innen tief. Heute lebe ich achtsamer und schätze kleine Dinge mehr.“
Die ETH-Forscher:innen Koubi und Freihardt hatten eigentlich erwartet, dass die meisten Menschen, die ihr Zuhause an den Jamuna verloren haben, in die Städte gehen würden, weil es dort mehr Arbeit gibt. Aber wie die vorläufigen Ergebnisse zeigen, gingen nur zwei von zehn Menschen in eine Stadt. Die restlichen zogen in ein anderes Dorf. Die meisten aber blieben in ihrer Gemeinde: Sie bauten ihre Wellblechhütten ab und an einem anderen Platz wieder auf. Freihardt: „Niemand migriert aus freien Stücken.“
Wie Mojammel Haque, Kioskbesitzer im Dorf Salimabad am unteren Lauf des Jamuna. Seinen Kiosk hat der Fluss weggespült. Nun steht er mit einem neuen, provisorischen Kiosk wieder an der Abbruchkante. „Weiter hinten im Dorf würden sich die Leute nichts kaufen“, erklärt er. Tatsächlich ist genau hier der Umschlagplatz, an dem Leute aus Booten Holz und Eier ausladen, am sandigen Uferweg herrscht emsiger Betrieb. Wenn man die Dorfbewohner:innen fragt, warum sie sich dem Risiko aussetzen, sagen sie: „Das ist Allahs Wille. Die Zukunft können wir nicht beeinflussen!“

Aber es gibt auch praktische Gründe, warum die meisten nicht wegwollen: Es gibt schlicht keinen Platz. Bangladesch ist extrem dicht besiedelt. Für Ältere ist die Hürde, woanders hinzugehen, besonders hoch, viele kennen nur ihr Dorf. Und noch etwas Erstaunliches fanden die ETH-Forscher:innen heraus: Sie hatten erwartet, dass mit jeder Flut, mit jeder Ufererosion die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Bewohner:innen ihr Dorf verlassen. Spätestens nach dem dritten Schock, so die Annahme, hätten sie genug. Das Gegenteil trifft zu: Je häufiger die Leute betroffen sind, umso eher bleiben sie. Die Erklärung des Umweltingenieurs Freihardt: Mit zunehmendem Verlust an Land, Besitz und Status fehlen irgendwann die Mittel, um wegzugehen. Und die Menschen hängen an ihrer Heimat, sind mit einem Geflecht aus sozialen Beziehungen verwoben, das sie im Ernstfall auffängt.
Jhorna Khatun ist da ein Paradebeispiel. Kürzlich musste sie ihr Haus erneut umziehen, auf das Grundstück ihres Schwiegervaters: Der Jamuna hatte auch das Land ihrer Schwägerin genommen. Ein Viertel des Dorfs war inzwischen weggerissen. Der Verlust ihres Landes hat Spuren hinterlassen: Khatuns Familie musste Kredite aufnehmen, ihr Mann arbeitet jetzt als Tagelöhner auf Feldern anderer, sie selbst in der Weberei im Ort. Zumindest konnte sie im Dorf bleiben, wo sie die Menschen kennt.
Natürlich ließen sich die Ergebnisse nicht eins zu eins auf andere Länder übertragen, betont Freihardt. Auf Länder, die aufgrund ihrer Wirtschaft, ihrer Regierung, ihres Sozialgefüges oder ihrer Demografie besser oder schlechter auf die Veränderungen der Umwelt reagieren können. Mehr solcher Studien seien nötig.
Was lässt sich unternehmen, um jenen, die bleiben wollen, zu helfen?
Fragt man die Menschen vor Ort, bekommt man fast immer die gleiche Antwort: Uferbefestigungen. In Char Pouli wurde damit begonnen, zunächst mit Sandsäcken. Die Regierung hat einen Schutzwall aus Beton versprochen, aber frühestens in drei Jahren. Ob das die Senf- und Reisfelder, die Schule und die Häuser wie das von Jhorna Khatun noch retten wird, ist ungewiss. Und selbst wenn die Befestigung kommt: Für alle Siedlungen entlang des Jamuna wäre es schlicht zu teuer.
Eine weitere Option ist Umsiedlung. Tausende, die in ihren Dörfern keine Unterstützung mehr fanden, sind ins Hinterland geflohen und haben neue Dörfer gegründet. Von der Regierung ist dabei nur wenig Hilfe zu erwarten. In manchen Gegenden versuchen NGOs, Gebiete zu identifizieren, die vorerst nicht von Erosion bedroht sind, und errichten dort Häuser, Schulen und Krankenhäuser für die Flussflüchtlinge. Doch der Platz ist beschränkt und das Geld knapp. Und die Erosion am Jamuna ist beileibe nicht das einzige Problem des Klimawandels in Bangladesch. Gletscherseen in den Bergen brechen aus und führen zu katastrophalen Überflutungen, der Meeresspiegelanstieg bedroht die Küste, versalzt den Boden, und dann ist da noch die Hitze. Bangladesch ist deshalb angewiesen auf technische und finanzielle Unterstützung aus Europa und den USA.
Doch die Trump-Regierung hat US Aid ein Sparprogramm verordnet. „Mehr als 100 Projekte mussten hier gestoppt werden“, sagt Shariaj Shuprio, einer der Studierenden, die Dorfbewohner:innen interviewt haben. Umso mehr sei jetzt Europa gefragt, insbesondere Deutschland mit seiner Wirtschaftsstärke. Schließlich müssen die Menschen in Ländern wie Bangladesch die Folgen des Klimawandels ausbaden, für den sie kaum etwas können.
„Es gibt viele Möglichkeiten, vor Ort zu helfen“, sagt Shuprio. Er muss es wissen, seit zwei Jahren arbeitet er für die Stiftung Sajida, die Gemeinschaften in Bangladesch dabei unterstützt, ihre Häuser im Ernstfall zu schützen, Hochbeete anzulegen oder Getreidesorten anzubauen, die besser mit Überschwemmungen klarkommen. Die Sajida-Mitarbeiter:innen erhöhen Brunnen, bauen Latrinen, erklären, wann man sich die Hände wegen Infektionsgefahr waschen soll. „Einfache, aber lebensrettende Praktiken“, sagt Shuprio. Für Menschen, die alles verloren haben, bieten sie psychologische Beratung und „emotionale erste Hilfe“, wie es Shuprio nennt. „Wir wollen, dass sie die Unterstützung bekommen, die sie brauchen, um in Würde und Stabilität zu leben.“ Menschen wie Jhorna Khatun, die ihre Heimat nicht aufgeben wollen. Die ihre Kultur wahren und um ihr Land kämpfen möchten, statt fortzuziehen in die Fremde. „Ich möchte so lange bleiben, wie ich kann“, sagt sie. „Egal, was passiert.“
Wenn sich der Fluss ins Land gräbt: Haus an der Abbruchkante des Jamuna