Wie bist du zur Idee von Vertical 52 gekommen?
Marcus Pfeil: Eher zufällig. Ein Kollege, Michael Anthony, hatte sich jahrelang mit Ernteausfallversicherungen in Indien beschäftigt. Dafür analysierte er Daten von Wettervorhersagen, damit sich die Bauern besser absichern können. Ich war eher im technisch getriebenen Journalismus unterwegs, habe als Redakteur beim Handelsblatt im Finanzressort gearbeitet und mich 2012 auf Storytelling in Digitalmedien spezialisiert. 2021 fragte mich der Bekannte, ob ich mir vorstellen könnte, das zu verbinden. Als der Krieg in der Ukraine losging und die Bilder aus Butcha in der New York Times erschienen, wurde mir klar: Man kann Geschichten aus dem All erzählen – und forensisch beweisen. Satellitenjournalismus ist eine ganz eigene Disziplin.
Was ist das eigentlich genau?
Satellitenjournalismus bietet eine völlig neue Perspektive für die Recherche – eben von oben. Man sieht Dinge, die sonst verborgen bleiben, weil man zum Beispiel nicht hinkommt, wie nach Nordkorea. Oder, weil man damit Frequenzbereiche im Multispektralbereich sichtbar machen kann, die das menschliche Auge nicht sieht – von Klimaveränderungen bis zu Abgasen oder Waldbrandgefahr. Wir können uns jeden Ort der Welt zu jeder Tageszeit von oben ansehen. Am besten funktioniert das natürlich, wenn es zu den Bildern eine tiefgründige journalistische Analyse gibt. Deshalb arbeiten wir eng mit Redaktionen zusammen: Sie überlegen sich die Fragestellungen, wir schauen dann, welche Bilder etwas dazu erzählen können.
Was können Satellitendaten zeigen, was mit anderen Bildern nicht deutlich wird?
Zum Beispiel, ob Baumwolle in der Nähe der Uiguren-Camps in China mit der Hand oder mit Maschinen geerntet wird. Ein Besuch vor Ort wäre viel zu gefährlich. Mithilfe von Satellitenaufnahmen konnten wir nachweisen, dass 96 Prozent händisch geerntet werden. Dafür mussten wir die Vegetation über längere Zeiträume präzise analysieren. Wenn Maschinen ernten, dann sieht das von oben viel strukturierter aus. Ein anderes Beispiel: Im Juni griffen ukrainische Drohnen russische Militärbasen an. Den Vorfall konnten wir mithilfe von Radarbildern rekonstruieren – denn die können auch durch Wolken durchgucken.
Wie lässt sich Satellitenjournalismus nutzen, um auch positive Entwicklungen sichtbar zu machen, die sonst schnell übersehen werden?
Man kann zum Beispiel Aufforstungen zeigen und belegen oder stadtplanerische Entwicklungen. Die meisten unserer Anfragen beschäftigen sich allerdings leider mit Missständen, im Bereich Umweltkriminalität, militärischen Konflikten oder Menschenrechtsverletzungen.
Woher bekommt ihr denn die Daten?
Mexar Technologies, Planet Labs und Airbus sind die drei großen Satellitenbetreiber, bei denen wir unsere Daten bestellen. Hochauflösende Bilder aus dem All für den kommerziellen Gebrauch gibt es erst seit etwa 2013 – auch, weil Satelliten immer günstiger werden in der Herstellung. Der amerikanische Geheimdienst hat sowas natürlich schon seit den 70er Jahren.
Deine Highlights der vergangenen Monate?
Als sich bei der Ernennung des Papstes mehr als 10.000 Menschen auf dem Petersplatz versammelten. Das sah schon verrückt aus. Oder als 2022 die Nord Stream Pipeline gesprengt wurde. Da haben etliche investigative Medien gleichzeitig angerufen, um ein verschwommenes Bild aus dem Rostocker Hafen zu bekommen. Bevor ich mit dem Job angefangen habe, wusste ich gar nicht, dass man sowas mit Satellitenbildern zeigen kann. Das alles ist auch für mich immer noch ein Lernprozess.
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Beobachtungen aus dem All: Staellitenbilder sind Quellen für neuen Datenjournalismus