Wir haben angekündigt, verstärkt die Entstehung und Verbreitung sozialer Innovation zu beleuchten und die Social Entrepreneur*innen vorstellen, die neue Ideen vorantreiben. Und: Wir wollen sie zu ihren Ideen befragen. Im Zuge dessen haben wir mit Raúl Krauthausen über die Wheelmap gesprochen. Die Geschichte des Projekts zeigt, wie sich eine gute Idee nachhaltig verbreitet hat. Aus der Startversion mit 100 Einträgen wurde eine weltweite Institution, die Menschen mit und ohne Behinderung einfach Hilfe bietet.
Raúl, mittlerweile sind weit über eine Million Einträge auf der Wheelmap vermerkt. Sie ist in 32 Sprachen verfügbar und längst ein vielfach prämiertes Servicetool. Wie habt ihr das seit 2010 geschafft?
Raúl Krauthausen: Mit einer Mischung aus Glück und Zeitgeist haben wir ein freundliches Monster geschaffen (lacht). Nein, der Erfolg hat insbesondere damit zu tun, dass wir Komplexität nach einem einfachen Prinzip reduziert haben. Man trägt auf der Wheelmap mit Hilfe eines Ampelsystems ein, ob ein Ort, etwa ein Restaurant, voll, teilweise oder eben gar nicht rollstuhlgerecht ist. Ein einfacher Pitch, der User*innen ein Erfolgserlebnis verschafft, das unmittelbar anderen hilft. Wir haben ein kostenloses Produkt gebaut und gelauncht, das von der ersten Stunde an funktioniert hat – mit der Prämisse: Wir sind eine Gemeinschaft. Darauf sind wir stolz.
Auch bei Good Impact: „Behinderte Menschen sind sexuell – und auch queer!“
Basis der Wheelmap ist OpenStreetMap, ein Projekt, das seit 2004 frei nutzbare Geodaten sammelt, aufbereitet und als interaktive Karte vorhält. Warum diese Lösung?
Wir verstehen uns nicht als Monopolist*innen, sondern als Lobbyist*innen für freie, offene Daten und wollen so wenig Daten wie möglich von unseren User*innen. Insofern kann und soll jede*r ohne Registrierung mitmachen. Täglich kommen 300 Bewertungen hinzu. Wir wissen auch nicht, ob mehr oder weniger Einträge von Menschen mit oder ohne Behinderungen kommen. Das ist nicht wichtig. Alle leisten einen wichtigen Beitrag für eine barrierefreie Gesellschaft, wenn sie Daten für die Wheelmap sammeln. Und der Ansatz war und ist immer ein konstruktiver: Niemand soll an den Pranger gestellt werden, weil ein Ort noch nicht hundertprozentig barrierefrei ist. Die App ist ein kleines Helferlein auf dem Smartphone. Sie ist eine positive Hilfestellung.
Wie wichtig ist für euch Feedback?
Das Prinzip, nach dem wir arbeiten, heißt Design Thinking. Unser Fokus liegt auf den Anwender*innen und den Fragen nach ihren Bedürfnissen und Erwartungen. Dazu gehören auch Menschen mit Rollatoren und Familien, die mit dem Kinderwagen unterwegs sind. Unsere primäre Zielgruppe sind aber natürlich Rollstuhlfahrer*innen. So ist ein einfacher Hinweis, ob ein Ort über eine rollstuhlgerechte Toilette verfügt sehr wichtig, denn damit verdoppelt sich die Reichweite eines behinderten Menschen. Sonst muss man den Weg nach Hause zwischendurch zusätzlich einplanen. Ein anderer wichtiger Punkt sind Fotos des Ortes, so kann man am besten beurteilen, wie viel Platz zur Verfügung steht oder welche Höhen, Kanten und Abstände zu beachten sind.
Wie finanziert ihr Euch?
Die Wheelmap ist ein Projekt des Sozialhelden e.V. Wir finanzieren uns durch Fördergelder, Spenden und Beratungstätigkeiten – etwa für die Deutsche Bahn oder den Verkehrsverbund Berlin Brandenburg (VBB). Mit dem VBB kooperieren wir im Rahmen des Projekts „Broken Lifts“. Menschen mit Gehhilfen oder Rollstühlen können hier nachschauen, welche Aufzüge im Verkehrsverbund momentan außer Betrieb sind.
Mittlerweile zählt auch Google.org, die firmennahe Stiftung, zu euren Förder*innen. Wann haben die sich gemeldet?
Wir nahmen im Sommer 2015 bei der „Google Impact Challenge“ der Stiftung Google.org teil und gewannen eine Förderung über zwei Jahre für die Entwicklung eines neuen Wheelmap-Backends, der accessibility.cloud. Glücklicherweise stellen viele große Unternehmen heutzutage eigene Fördertöpfe für soziale Projekte zur Verfügung. Wir haben früher, auch ob des Nischenthemas, viele Klinken putzen müssen. Mittlerweile sind wir mit den Großen wie Google und Apple regelmäßig im Austausch. Deren Entwickler*innen finden unser Projekt super. Unabhängig davon ist und bleibt unser Ziel, uns so schnell wie möglich überflüssig zu machen, spätestens dann, wenn Hinweise auf rollstuhlgerechte Orte ein allgemeiner Standard sind.
„Unser Ziel ist, uns so schnell wie möglich überflüssig zu machen, spätestens dann, wenn Hinweise auf rollstuhlgerechte Orte ein allgemeiner Standard sind“, sagt Raúl Krauthausen (Symbolbild).