Naturtalent: Bison-Fell

Urban Rewilding – per Schuhsohle?

Eine Londoner Kunststudentin stellt sich Jogger:innen als Bisons vor: Per Schuhsohle sollen sie Pflanzensamen verteilen und damit die Artenvielfalt ankurbeln.

Noch sind die Treter ein Klotz am Bein, doch eigentlich ist es sowieso die Botschaft, die zählt: Rewilding können alle, auch Menschen, die durch die Gegend spazieren. So jedenfalls sieht es die Produktdesignerin Kiki Grammatopoulos. Während ihres Masterstudiums „Future Materials“ an der renommierten Kunsthochschule Central Saint Martins in London hat sie eine Schuhsohle entwickelt, die Menschen Fell und Hufe verleihen soll.

Warum? Rewilding bedeutet, dass Land an die Natur zurückgegeben wird, verwildern darf. Wildtiere kehren aus eigener Kraft zurück oder werden in seltenen Fällen aktiv angesiedelt, weil sie der biologischen Vielfalt in ihrem Ökosystem besonders guttun. Zum Beispiel Wisente (Europäische Bisons), die beim Weiden Pflanzensamen und Nährstoffe über weite Flächen verteilen. Grammatopoulos: „Bei Rewilding geht es oft um große Naturschutzgebiete und ikonische Wildtiere. Für Städter:innen scheint das Thema extrem weit weg. Die wenigsten wissen, wie sie helfen können – das will ich ändern.“

Das Wisent als Schlüssel-Spezies

Die von Grammatopoulos designte Sohle hat viele kleine Widerhaken, wie ein herangezoomter Klettverschluss. Beim Laufen bleiben daran Pflanzensamen hängen, werden mitgenommen und woanders fallen gelassen. Genauso funktioniert das Fell von Wildtieren. „Ich dachte sofort an den Wisent, weil er eine Schlüssel-Spezies ist, also von besonderer Bedeutung für seine Umgebung.“ Die Form der Sohlen spiegelt das wider, Träger:innen hinterlassen auf weicher Erde sogar einen Hufabdruck.

Wisente halten Wiesen oder Heiden offen und sorgen im Wald für Lichtungen, lassen Sonnenstrahlen hinein. Pflanzensamen reisen in ihrem Fell kilometerweit. Wo sie sich suhlen oder herumtrampeln, entstehen Mikrolebensräume für Pflanzen und Insekten. Ihr Dung ist ein Festmahl für Krabbeltiere, die wiederum Vögeln, Dachsen und Fledermäusen schmecken. Damit sich die einst bedrohten Bestände erholen können, wurde Europas größter Pflanzenfresser 2013 auch in Deutschland ausgewildert, im Rothaargebirge in Nordrhein-Westfalen. Verstehen tun sich Mensch und Urvieh allerdings nicht: Baumrinde ist ein Lieblingssnack der Riesenrinder; die Stämme verlieren an Wert und Waldbesitzer:innen die Nerven.

Urban Rewilding: grüne Inseln in der Stadt

Auch darüber macht sich Grammatopoulos Gedanken: Wisente waren zuerst hier, und doch gibt es Krach, wenn sie zurückkommen. „Wir haben den Kontakt verloren zur Natur.“ Ihr dieses Jahr entstandenes Uniprojekt „Rewild the Run“ soll Menschen nicht nur in Samen-Kuriere verwandeln, sondern für ihre Umgebung sensibilisieren. Wildnis gibt’s auch eine Nummer kleiner, im Urbanen. So zeigt eine Studie der Universität Bern von 2015, dass die Biodiversität in Städten höher sein kann als im umliegenden Agrarland. Kleine Grünelemente reichen schon – sofern es viele davon gibt.

Ausgabe #2 als PDF erhalten

Gratis Ausgabe für dich

Die Bestseller-Ausgabe “Von Cyborgs und Chatbots” nimmt das Thema künstliche Intelligenz unter die Lupe – hier kannst du dir die Ausgabe gratis als PDF-Download sichern.

In den Niederlanden etwa werden seit 2015 tennisplatzgroße Flächen in urbanen Räumen mit Bäumen und Büschen bepflanzt und dann in Ruhe gelassen. Bisher gibt es rund 300 solcher „Tiny Forests“. In einem der Winzwälder in Almere wurden in den ersten drei Jahren 240 Tier- und 104 Pflanzenarten gesichtet. Die grünen Inseln bieten nicht nur Flora und Fauna Schutz, sondern filtern die dreckige Stadtluft, speichern Regenwasser und kühlen die Außentemperatur.

Die Frage, wie sich solch wichtige Inseln auf passive Weise bepflanzen lassen, erkundet „Rewild the Run“ künstlerisch statt praktisch. Denn aktuell würde Grammatopoulos niemandem dazu raten, mit den Sohlen zu rennen. Ihr Prototyp ist ein klobiges 3D-gedrucktes Kunststoffplateau, befestigt an einem normalen Sneaker.

Foto: Tom Mannion

Um daraus einen flexiblen, schmalen Überzug für sämtliche Laufschuhe herzustellen, braucht Grammatopoulos, die inzwischen bei einem großen Sportartikelhersteller im Bereich Nachhaltigkeit arbeitet, Zeit und vor allem Geld. Zusammen mit einem Londoner Running Club würde sie dann testen, wie effektiv die Sohle wirklich ist. Denn bisher sind viele Fragen offen. Bleiben die Samen über längere Strecken hängen – und deutlich mehr als bei regulären Schuhen? Wie viel landet auf Asphalt, nicht auf unversiegelten Flächen? Verbreiten sich am Ende vielleicht sogar unerwünschte, invasive Arten? Die Produktdesignerin malt sich eine App aus, die Jogger:innen je nach Jahreszeit die besten Rewilding-Routen anzeigen könnte sowie solche, die sie meiden sollten, um keine invasiven Arten aufzugabeln.

Ob aus dem Kunstprojekt „Rewild the Run“ ein kommerzielles Produkt wird? Gereizt hat Grammatopoulos eher das Gedankenexperiment dahinter: Können sich Menschen bewegen wie Wildtiere, auf passive Weise ökologische Korridore schaffen? Sich hangeln von Grünfläche zu Grünfläche, dazwischen lebloser Asphalt, Beton und rauschender Verkehr, und sich verbunden fühlen mit der spärlichen Wildnis um sie herum? „Meine griechischen Eltern und Großeltern wissen genauestens Bescheid über ihre heimischen Pflanzen, haben kleine Gemüsegärten. Wie kann es sein, dass ich nicht mal die Bäume vor meinem Fenster erkenne?“

Foto: IMAGO / imagebroker

Ein Wisent im Berliner Wildpark Schorfheide

Weiterlesen