Gastbeitrag

Was wir von unseren Vorfahren über Sex lernen können

Was, wenn unsere angebliche Veranlagung zur Monogamie eine krasse Fehlinterpretation wäre? Ein Psychologe und eine Psychiaterin begeben sich auf Spurensuche.

In westlichen Kulturen entsteht leicht der Eindruck, wir Menschen seien etwas Besonderes, einzigartig unter allen Lebewesen. Wir wähnen uns über und außerhalb der natürlichen Welt, befreit von den Einschränkungen, die das Leben für Tiere bereithält. Die Natur ist unter unserer Würde, und wo sie doch durchscheint, empfinden wir Scham oder Ekel – als sei sie etwas Übelriechendes und Unordentliches, das man besser hinter zugezogenen Läden verbirgt und mit frischem Minzgeruch überdeckt. In Wahrheit sind wir, genau wie Bonobos und Schimpansen, die triebgesteuerten Nachkommen hypersexueller Vorfahren. Das mag übertrieben klingen, doch es sind schlichte Fakten, die eigentlich zur Allgemeinbildung gehören sollten. Die Konvention der monogamen Bis-dass-der-Tod-euch-scheidet-Ehe droht unter dem Ballast einer falschen Überlieferung zu kollabieren, die uns beharrlich eine andere Identität andichten will.

Unter Androhung der Folter wurde Galileo 1633 von der Inquisition der Römisch-katholischen Kirche zu der öffentlichen Falschaussage gezwungen, die Erde sei das unbewegliche Zentrum des Universums. Dreieinhalb Jahrhunderte später, im Jahr 1992, gab Papst Johannes Paul II. zu, dass der Wissenschaftler recht gehabt hatte – die Inquisition sei aber „gut gemeint“ gewesen. Genau wie die kindisch-eigensinnige Vorstellung von einem Universum, das um die Erde kreist, bietet das Standardnarrativ der prähistorischen Vergangenheit raschen und schlichten Trost. Und wie Papst um Papst jegliche Kosmologie untersagte, die dem Menschen seine zentrale Stellung in den endlosen Weiten des Alls nehmen wollte, so wie Darwin früher (und in manchen Kreisen noch immer) für seine Erkenntnis, der Mensch sei durch Naturgesetze entstanden, verspottet wurde, genauso können manche Wissenschaftler auf Grund emotionaler Widerstände noch immer nicht den Gedanken zulassen, dass es eine Evolution der Sexualität ohne monogame Kernfamilie gegeben haben könnte.

Warum schwindet die Leidenschaft oft schon bald nach der Hochzeit?

Wir leben zwar angeblich in liberalen Zeiten, doch manche auf der Hand liegenden, schmerzhaften Wahrheiten darf man nicht aussprechen. Der Gegensatz zwischen dem, was wir fühlen sollen, und dem, was wir tatsächlich fühlen, ist möglicherweise die Hauptursache von Verwirrung, Unzufriedenheit und unnötigem Leid. Die üblichen Antworten lösen ja nicht das Rätsel, das unser Liebesleben durchzieht: Warum sind Männer und Frauen in ihren Sehnsüchten, Fantasien, Reaktionen und in ihrem Sexualverhalten so verschieden? Warum betrügen wir einander und lassen uns immer häufiger scheiden, sofern wir überhaupt noch heiraten? Woher kommen die Heerscharen alleinerziehender Mütter und Väter? Warum schwindet die Leidenschaft oft schon bald nach der Hochzeit? Wodurch erlischt das Verlangen? Warum fühlt es sich für viele Frauen und Männer an, als stammten wir von unterschiedlichen Planeten?

Sind wir Opfer einer gut gemeinten Inqusition?

Die amerikanische, an Medizin und Wirtschaft orientierte Gesellschaft hat als Antwort auf die anhaltende Krise eine ganze Industrie aus Paartherapeuten, Erektionshilfen, Sex-Kolumnen und gruseligen Vater-Tochter-Jungfräulichkeitsriten hervorgebracht, dazu einen endlosen Strom aufdringlicher Werbemails („Lass dein Liebesmonster von der Leine! Sie wird es dir danken!“). Monat um Monat beliefern uns ganze Wagenladungen von Hochglanzmagazinen mit den immer gleichen Tricks, die unserem Sex neues Leben einhauchen sollen. Ein paar Kerzen, verruchte Dessous, eine Handvoll übers Bett gestreute Rosenblüten, und es wird wieder wie beim ersten Mal sein! Wie – er schaut noch immer anderen Frauen hinterher? Sie wirkt immer noch irgendwie distanziert und enttäuscht? Er ist schon fertig, kaum dass Sie angefangen haben? Na, dann sollen doch die Fachleute herausfinden, woran es hapert – bei Ihnen, Ihrem Partner oder in der Beziehung. Vielleicht braucht er eine Penisvergrößerung, oder sie muss sich ihre Vagina machen lassen. Vielleicht leidet er unter Bindungsängsten oder einem „fragmentierten Super-Ego“, oder – Gott bewahre – am Peter-Pan-Komplex. Sie fühlen sich depressiv? Sie lieben Ihren Partner seit zwölf Ehejahren, fühlen sich aber sexuell nicht mehr so wie früher zu ihm hingezogen? Einer von Ihnen oder Sie beide liebäugeln mit einem anderen? Vielleicht sollten Sie mal versuchen, es auf dem Küchenboden zu treiben. Oder sich dazu zwingen, ein Jahr lang jede Nacht miteinander zu schlafen. Vielleicht durchlebt er gerade eine Midlife-Crisis. Nehmen Sie diese Pillen. Lassen Sie sich eine neue Frisur machen. Irgendetwas muss doch mit Ihnen falsch sein! Haben Sie sich je als Opfer einer gut gemeinten Inquisition gefühlt?

Sex – die wahre Geschichte

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch “Sex – die wahre Geschichte” von Christopher Ryan und Cacilda Jethá. Es ist im März 2019 auf Deutsch im Klett Cotta erschienen und für 25 Euro erhältlich. Es stützt sich auf Forschungsergebnisse aus der Anthropologie, Primatologie, Physiologie und Vorgeschichte.

Für die Unterhaltungsindustrie ist das schizophrene Verhältnis zu unserer wahren Sexualität nichts Neues, man findet hier die gleichen Brüche zwischen öffentlich geäußerten Empfindlichkeiten und heimlich ausgelebten Trieben. So verdient Rupert Murdoch, der Besitzer von Fox News Network und dem Wall Street Journal, der führenden konservativen Zeitung in den USA, mehr Geld mit über Satellitenfernsehen ausgestrahlten Pornos als der Playboy mit all seinen Magazinen und den über Kabel und Internet verbreit…

TITELBILD: GAELLE MARCEL/UNSPLASH

Selbstverständlicher Partnertausch und eine freie, von Schuldgefühlen oder Scham unbelastete Sexualität – so lebten unsere Vorfahren.

Christopher Ryan und Cacilda Jethá

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