Wahlrechtsreformen, Kritik an der Parteiendemokratie, Ruf nach mehr Bürger:innenbeteiligung – trägt unser System der Repräsentation so nicht mehr?
Joachim Behnke: Das glaube ich nicht. Was wäre die Alternative? Studien zeigen, dass repräsentative Parlamente eine Bevölkerung besser vertreten als direktdemokratische, die Entscheidungsfindung hat eine höhere Qualität. Und direkte Demokratie lässt sich heute noch viel schwieriger organisieren als früher, weil die Bevölkerungen in vielen Ländern größer und heterogener geworden sind. Die Themen, die in unseren Demokratien bearbeiten werden müssen, werden immer komplexer …
… es braucht Hintergrundwissen, Zeit, sich in Zusammenhänge einzuarbeiten …
… Berufspolitiker:innen können das immer noch am besten, sonst gewinnt schnell der Populismus. Es ist ja kein Zufall, dass europaweit rechte Parteien für die Direktdemokratie trommeln, Grüne, SPD, Linke hingegen sehen das inzwischen kritischer. Allerdings ist die Art, wie wir in unserer repräsentativen Demokratie die Abgeordneten wählen, bei uns etwas aus dem Ruder gelaufen.
Inwiefern?
Der Bundestag wächst permanent. Ursprünglich hatte der Bundestag 598 Abgeordnete, jetzt sind es 736. 138 Sitze sind Überhang- und Ausgleichsmandate. Abstimmungswege im Parlament werden aufwendiger, Entscheidungen schwieriger, alles braucht mehr Vorbereitung. Schlechtere Qualität zu einem höheren Preis. Das ist kaum zu rechtfertigen.
Wie kommt das zustande?
Wenn eine Partei in einem Bundesland mit den Erststimmen mehr Direktmandate gewinnt, als ihr dort aufgrund der Zweitstimmen zustehen, entstehen Überhangmandate. Um den Proporz zwischen den Parteien wiederherzustellen, bekommen die anderen Parteien Ausgleichsmandate, also zusätzliche Abgeordnete. Das Problem ist: Es braucht immer mehr Überhangmandate und entsprechend viele Ausgleichssitze, denn die direkt gewählten Abgeordneten gewinnen mit immer weniger Stimmen einen Wahlkreis.
Weil die Bürger:innen viele Parteien wählen?
Genau, wir sprechen von einer Fragmentierung des Parteiensystems. Die Wähler:innen entscheiden viel mehr nach der aktuellen Situation als früher. Welche Themen sind gerade für mich besonders wichtig? Welche Spitzenkandidat:innen finde ich gut, welches Programm überzeugt? Parteien sind nicht mehr so tief in den Milieus verankert, starke Loyalitätsbeziehungen gibt es kaum noch …
… Arbeiter:innen identifizieren sich mit der SPD, Landwirt:innen mit der Union?
Schnee von gestern. Die Folge: Während Kandidat:innen in den Sechziger-, Siebzigerjahren mehr als 40 Prozent der Stimmen brauchten, um ein Direktmandat zu gewinnen, reichen heute manchmal 20 Prozent für die relative Mehrheit. Vertritt diese:r Abgeordnete dann wirklich am besten den Wahlkreis? Unwahrscheinlich.
Was also tun?
Wir sollten den Bundestag auf 598 Sitze beschränken. Damit nicht mehr so viele Überhangmandate entstehen, könnte man Wähler:innen eine zusätzliche Stimme bei der Direktwahl geben. Ich wähle dann zwei Kandidat:innen – einen Wunschkandidaten, sagen wir Herrn Meier, und eine Ersatzkandidatin, zum Beispiel Frau Müller. Wenn mein Wunschkandidat Herr Meier dann zwar die relative Mehrheit bekommt, aber das Mandat nicht durch die Zweitstimmen für seine Partei gedeckt ist, würde ja ein Überhangmandat nötig werden. Um das zu verhindern, wird stattdessen meine Stimme f…
Der Bundestag wächst. Das macht Abstimmungswege und Entscheidungen komplizierter. Politologe Joachim Behnke rät, Sitze zu beschränken und Bürger:innenbeteiligung zu stärken. (Symbolbild)