Wege aus der Obdachlosigkeit

Eine radikale Empathie-Übung

Im Theaterstück „Das halbe Leid“ spielen Schauspieler Obdachlose – und die Zuschauer sind aktiv eingebunden, eine ganze Nacht lang, in einer kalten Fabrikhalle. Was macht das mit einem? Wir haben bei Teilnehmern nachgefragt

Das Wort Empathie stammt aus dem Altgriechischen, es bedeutet Mitgefühl, Verständnis, Einfühlungsvermögen. Jeder weiß das. Denn Empathie ist eine Art Zauberwort, erlebt eine Phase späten Ruhms. Wir leben in einem Zeitalter der Empathie: Experten empfehlen nicht nur Führungskräften, mehr Empathie zu wagen. Bildungspolitiker diskutieren darüber, das Thema Empathie als Lehrstoff einzuführen. Achtsamkeitstrainer beschwören die Kraft des Mitfühlens. Und Psychologen erklären, erst Empathie mache menschliche Beziehungen möglich, sei Voraussetzung moralischen Handelns. Klar: Um ein guter Mensch zu sein, gehört es unbedingt dazu, empathisch zu sein.

Eine radikale Trainingseinheit in Sachen Empathie hat gerade das Hamburger Schauspielhaus angeboten. Rund um Weihnachten, bis in den Januar hinein, gab das dänisch-österreichische Künstlerkollektiv Signa dort ein Gastspiel. Signa ist eine Performance-Truppe, gegründet 2001 von der Dänin Signa Sørensen, heute Köstler.

Seit 2004 leitet sie das Projekt gemeinsam mit ihrem österreichischen Ehemann Arthur Köstler. Das Duo gilt als Marktführer des immersiven Theaters, sprich: einer Spielform, bei der die Zuschauer direkt am Geschehen beteiligt sind. In ihren Performance-Installationen – so bezeichnen Signa und Arthur ihre Arbeiten – kreieren sie in sich geschlossene Welten, die der Zuschauer betreten, erfahren und erforschen kann. Errichtet werden sie in leerstehenden Schulen, alten Fabrikhallen oder auf sonstigen Brachflächen. Dort gibt es keine unsichtbare Wand zwischen Bühne und Parkett. Wer hineingeht, landet mit Haut und Haar in einer anderen Welt. In diesem Fall in der von Obdachlosen.

„Das halbe Leid“ – zwölf Stunden am Stück

Die jüngste Signa-Inszenierung heißt „Das halbe Leid“. 50 Zuschauer waren in jeder der 25 Vorstellungen dabei, insgesamt haben sich auf diesem Wege also 1250 Menschen intensiv mit dem Thema Empathie auseinandergesetzt. Und zwar 12 Stunden am Stück. Eine ganze Nacht verbrachten sie zusammen mit den rund 40 Signa-Darstellern, die „Leidende“ und „Mitleidende“ spielten, in einer alten Fabrikhalle in Hamburg-Barmbek – in einer denkbar unwirtlichen, kalten, lauten und schmutzigen Umgebung. Die Rahmenhandlung der Aufführung ist schnell erzählt: Ein fiktiver Verein, er nennt sich „Das halbe Leid“, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Empathiefähigkeit und Solidarität unter den sogenannten privilegierten Menschen zu fördern. Deshalb bietet er ihnen zwölfstündige Kurse im Mitleiden an. „Wer das Gute sucht“, heißt es in der Ankündigung, „der möge sich hier einfinden.“ Axel Hildebrandt, 40, Projektleiter aus Hamburg, und sein Freund Thomas hatten sich gleich bei Verkaufsbeginn um Karten gekümmert; tatsächlich war die Performance nach ein paar Stunden ausverkauft.

„Wir gehören zur treuen Fangemeinde“, sagt Hildebrandt. Auch bei den beiden früheren Schauspielhaus-Gastspielen von Signa 2013 und 2015 waren Hildebrandt und sein Partner dabei. Die Karten für „Das halbe Leid“ lagen schon bei ihnen zu Hause, als die „Zeit“ eine der Schauspielerinnen der Produktion interviewte. Unter der Überschrift: „Zwölf Stunden Seelenschmerz, Demütigung, Gewalt“. Hildebrandt fragte in seinem Freundeskreis, ob jemand Interesse an zwei Karten hätte. Sie sind dann doch selbst hingegangen.

Ab 19 Uhr an jenem Samstagabend im Dezember waren sie also „Kursisten“, sprich: Kursteilnehmer. Jeder Leidende suchte sich anfangs zwei Kursisten aus; die bekamen dann einen neuen Namen und andere Kleider. Hildebrandt wurde von Rolf ausgewählt, einem Alkoholiker, der um seinen Bruder trauert und Pfandflaschen sammelt. Axel war von da an „Rolf 2“, trug Klamotten, die man ihm in der Kleiderkammer zugewiesen hatte, blieb stets in Rolfs Nähe. Im Männerschlafsaal lag er neben ihm, in der Suppen…

Im Theaterstück „Das halbe Leid“ spielen Schauspieler Obdachlose

Christiane Langrock-Kögel

Weiterlesen