Aktivistin für den Iran

Der Garten von Anuscheh Amir-Khalili

Mit einem Heilkräutergarten in Berlin unterstützt Anuscheh Amir-Khalili geflüchtete Frauen und Kinder. Geboren im Iran, macht sie den Kampf der Menschen dort auch hier sichtbar. 

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Berlin-Neukölln, die Hermannstraße an einem späten Oktobernachmittag: hektische Rufe, hupende Autos, hetzende Radfahrer:innen. Nur zehn Minuten zu Fuß entfernt, Wohnblöcke noch in Sicht, gedeihen in einem kleinen Garten auf dem Jacobi-Friedhof Heilkräuter. Thymian, Salbei, Rosmarin und Tulsi trotzen dem Herbst in Hochbeeten aus Holz, dazwischen ein paar Halme bereits abgeernteter Kamille: Hevrîn Xelef heißt der Ort, benannt nach einer kurdischen Politikerin, die 2019 von türkeitreuen Milizen ermordet wurde. In der autonomen nordsyrischen Region Rojava hatte sie sich für Frauenrechte eingesetzt. Darum geht es auch hier in Neukölln.

Etwa 20 Frauen, mit und ohne Fluchterfahrung, kommen regelmäßig in dem Heilkräutergarten zusammen, um zu jäten, zu säen, Raum für sich und für Gespräche zu finden. Hevrîn Xelef ist ein Projekt des gemeinnützigen Vereins Flamingo, der sich für geflüchtete Frauen und Kinder stark macht, etwa mit Rechtsberatungen, Übersetzen und Dolmetschen, Kinderbetreuung, Workshops für Berufsbildung und Selbstverteidigungskursen.

Anuscheh Amir-Khalili im Heilkräutergarten. Polaroidfoto: Astrid Ehrenhauser

Vor sieben Jahren hat Anuscheh Amir-Khalili den Verein gegründet, vor drei Jahren 500 Quadratmeter Garten gepachtet. Flucht und Trauma hat die 44-Jährige selbst erlebt: Im iranischen Bandar Abbas am Persischen Golf als Tochter einer Deutschen und eines Iraners geboren, floh sie mit der Mutter und den zwei Geschwistern als Achtjährige nach Deutschland, in einen kleinen Ort zwischen Bremen und Oldenburg. Die Erinnerungen an ihre Kindheit vor der Flucht: geprägt von der Angst der Eltern, den Zwängen des totalitären Regimes, den Bombardements während des Ersten Golfkriegs. Später in Deutschland: Warten auf den Vater, dessen Suche nach Arbeit, Bangen um eine Rückkehr in den Iran, die nie kommen sollte.

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Knallig orange strahlt Amir-Khalilis Adidas-Kapuzenjacke zwischen den Grün- und Erdtönen. Die schwarzen Haare hat sie zum lockeren Zopf gebunden, sie trägt Sport-Shorts, Leggins und Sneaker. Gerade war sie bei ihrem wöchentlichen Kampfsport-Training, Krav Maga. Flamingo bietet darauf basierte Selbstverteidigungskurse für Finta an, also für Frauen, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans und agender Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen. „Es geht dabei viel um den Einsatz der Stimme und darum, das Selbstbewusstsein zu stärken. Der Sport steht nicht unbedingt im Vordergrund“, so Amir-Khalili. Seit sieben Jahren praktiziert sie selbst Krav Maga, seit vier Jahren ist sie Sportschützin. „Es ist meditativ für mich, wenn ich mit dem Langgewehr im Liegen schieße. Ich muss mich runterregulieren, alles andere ausblenden.“ Die Stimme sanft, ihre flache Hand ruht auf der Brust. „Jedes Mal, wenn ich vom Schießstand weggehe, weiß ich: Jetzt ist alles gut.“ Bereits zwei Mal war sie Landesmeisterin in der Disziplin 100 Meter Präzision. Bescheiden wischt sie weg, wie stolz sie darauf ist. Auch wenn es um ihren Aktivismus bei Flamingo geht, spricht sie lieber über andere, viele sind enge Freund:innen: Zilan, Katja, Sias oder Şermin. Amir-Khalili ist es, die Menschen und Mittel zusammenbringt, wertvolle Netzwerke spinnt.

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Eine Perspektive für die ehrenamtliche Arbeit schaffen

Fast alles läuft ehrenamtlich, ein Hangeln von Förderung zu Förderung, meist Stiftungsgelder oder Spenden. „Wir waren in einer Spirale der Abhängigkeit.“ Immer wieder fragte sie sich: Können wir uns das weiterhin leisten? Doch nicht nur die Aufgaben wurden mehr, sondern auch die Frauen, die auf Flamingo zählten. Amir-Khalili ist Idealistin und weiß doch: „Wir Frauen leisten Care-Arbeit in Vereinen und zu Hause und dabei verdienen wir kaum etwas, sodass wir später in die Altersarmut rutschen. Wenn wir uns bei Flamingo selbst so ausbeuten, hat das mit Feminismus nichts zu tun.“ Vor einem Jahr war daher klar: „Entweder wir hören auf oder wir machen das jetzt richtig, als Business.“ Sie gründen das Social Start-up Band Of Sisters, um online Produkte zu verkaufen, derzeit Pfefferminz-Rosmarin-Balsam, Tee und Naturseifen nach traditionellen Rezepten nordsyrischer Frauen. 20 Prozent der Erlöse sollen in das selbstverwaltete Frauendorf Jinwar in Rojava, Nordsyrien, fließen. Spenden von Flamingo halfen dort bereits, eine Trinkwasserversorgung und ein Gesundheitszentrum aufzubauen.

Dicht wuchern Brennnesseln zwischen den Beeten und über die Trampelpfade, die sich zwischen Fenchelstauden und Brombeer-Hügeln schlängeln, dazwischen wilder Hopfen. „Aus den Brennnesseln machen wir ein Pulver, das ist voller Eisen. Der Hopfen wird zu Beruhigungstee“, sagt Amir-Khalili. Sie zeigt auf ein abgeerntetes Gemüsebeet, das Frauen des kurdischen Frauenrats Dest-Dan pflegen, „Freundinnen des Heilkräutergartens“, wie Amir-Khalili sie nennt. Auch andere feministische Aktivist:innen treffen sich auf dem Grundstück. Zwei Gärtner:innen sorgen einmal wöchentlich für die Grundstruktur. Im Frühjahr möchten sie Lehmbänke für den Garten fertigstellen, denn Stühle wurden immer wieder geklaut. Die Kosten tragen Stiftungen wie die Anstiftung. Dort arbeitet Amir-Khalili nun selbst seit Anfang des Jahres als wissenschaftliche Mitarbeiterin, 30 Stunden pro Woche. Transkulturelle Gärten sind ihr Thema, speziell als Orte für geflüchtete Menschen.

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Der Bauwagen duftet nach Salbei und Thymian, die in feinmaschigen Hängekörben trocknen. Roségoldene Teedöschen stehen in den Holzregalen, manche außen schon leicht angerostet, darauf „Jin, Jiyan, Azadî“, „Frau, Leben, Freiheit“, politischer Slogan der kurdisch-feministischen Freiheitsbewegung. Als die 22-jährige Kurdin Jina Mahsa Amini am 16. September in der iranischen Hauptstadt Teheran auf brutale Weise festgenommen wird und in Polizeigewahrsam stirbt, findet „Jin, Jiyan, Azadî“ international wieder Gehör. „Das macht auch hierzulande sichtbar, was dort schon so lange passiert: ein totalitäres Regime der Scharia, das errichtet wurde, um Frauen und Mädchen zu kontrollieren und zu unterdrücken.“ Amir-Khalili spricht entschieden: „Das sind keine Proteste mehr, das ist eine Revolution, eine feministische.“ Die Kraft der kurdischen Community und der jungen Menschen macht ihr Hoffnung: „Sie gehen raus für ihre Freiheit und sind bereit, ihr Leben zu opfern. Es gibt keinen Weg mehr zurück.“ Wichtig auch die weltweite Solidarität: „Dass 80.000 Menschen auf der Demo in Berlin waren, macht Druck auf den Globalen Norden, nicht weiter Geschäfte mit dem Regime im Iran zu machen.“ Es sind Sätze wie diese und schonungslose Bilder aus dem Iran, die sie täglich auf Social Media postet.

Lesbos, November 2010: Anuscheh Amir-Khalili dreht einen Dokumentarfilm mit geflüchteten Minderjährigen auf der griechischen Insel. Sie ist ausgebildete Kamerafrau, hat Iranistik und Anthropologie studiert. „Lesbos war ein Knackpunkt für mich. Ich habe gemerkt: Zu diesem Aktivismus zieht es mich.“ Zurück in Deutschland lässt sie sich schulen, in Rechtsberatung für Geflüchtete, übernimmt wenig später die Vormundschaft für einen zwölfjährigen afghanischen Jungen, Yahya, seine Eltern ermordet von den Taliban. Doch gerade hat sie selbst ihr erstes Kind geboren. Als ihre Tochter erkrankt, strauchelt sie, denkt: „Ich schaffe das nicht.“ Doch Yahya braucht sie. Bis heute haben sie eine enge Bindung, seine Tochter ist nach der ihren benannt.

Anuscheh Amir-Khalilis Weg in die Öffentlichkeit

New York, Mai 2022, eine Preisverleihung: Runde Tische, gedeckt für eine Gala, Scheinwerfer erstrahlen die Bühne. Die Singer-Songwriterin Milck spricht: „Unsere nächste Preisträgerin setzt sich unermüdlich für Frauen und Mädchen ein, deren Leben durch ethnische Spannungen, politische Auseinandersetzungen, Hungersnöte, Klimawandel und Terrorismus zerstört wurde.“ TV-Journalist Scott Evans ergänzt: „Sie ist auf einer Mission, geflüchtete Frauen und Kinder zu empowern.“ Amir-Khalili schreitet auf die Bühne, nimmt den Global Citizen Award für Deutschland entgegen. Die international tätige NGO ehrt Aktivist:innen, schafft Aufmerksamkeit für deren Arbeit und die nachhaltigen Entwicklungsziele der UN. Seither findet Amir-Khalili immer mehr ihre öffentliche Stimme, schreibt etwa auf der Website von Global Citizen: „Die iranische Regierung repräsentiert das barbarischste und faschistischste System, das ich kenne.“ Und: „Ich kämpfe mit den Tränen, denn manchmal weiß ich nicht, was mieser ist: Menschenrechte so zu missachten, wie es die Regierung Irans tut, oder sie zu hintergehen, wie es von Europa getan wird.“ Im Kräutergarten wurde Ende November ein Maulbeerbaum gepflanzt, „Jina“ – als Herz eines Gedenkorts für feministischen Widerstand, mitgestaltet von kurdischen und iranischen Künstler:innen.

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„Anuscheh!“, eine Person in Trainingsjacke und blond-blauen Haaren kommt strahlend näher. Steph Wintz gärtnert im angrenzenden Prinzessinnengarten Kollektiv, hilft auch bei Hevrîn Xelef mit. In der Hand eine Porzellanschale, darin eine kleine Portion Getreide, Rotkohlgemüse und Joghurt. „Ich habe gerade Essen geschenkt bekommen, möchtest du es haben?“ Zeit zu essen hatte Amir-Khalili heute nicht, seit 9 Uhr morgens war sie unterwegs, doch sie winkt ab: „Nein, nein, ich esse gleich zu Hause was.“ Sie muss los, abends steht eine Live-Diskussion auf Twitter an, für Global Citizen. Worum es geht? Natürlich: die politische Lage im Iran.

Fotos: Astrid Ehrenhauser

Mit dem Heilkräutergarten hat der Verein Flamingo einen Ort für geflüchtete Frauen und Kinder geschaffen, mitten in Berlin-Neukölln. (Symbolbild)

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