Kino für Osteuropa in Berlin

Das russische Reptil

Seit fast zwanzig Jahren zeigt Gabriel Hageni in seinem Berliner Kino Krokodil osteuropäische Filme, Schwerpunkt Russland. Wie hält er einen Raum für eine Kultur offen, die gerade unter Generalverdacht steht?

Gabriel Hageni findet sein Privatleben irrelevant. Beziehungsweise sieht er nicht ein, was es die Öffentlichkeit zu interessieren hätte. Fragen zu seiner Vergangenheit beantwortet er meist knapp oder gar nicht. Viel lieber spricht er über seine Arbeit. „Ich bin mit meinem Kino verheiratet“, sagt er lächelnd. Wir sitzen an einem heißen Maitag vor dem Eingangsbereich des Kino Krokodil in der Greifenhagener Straße und die Pollen regnen auf uns herab. Der hochgewachsene, hagere Hageni hat ein paar Holzstühle, einen kleinen Tisch und zwei Schalen voll mit gekühlten Heidelbeeren vor das Kino gestellt, damit wir das schöne Wetter genießen können. Das Filmtheater befindet sich in einem rosafarbenen Altbau im Osten Berlins, Prenzlauer Berg. Schon seit 1912 läuft hier mit einigen Unterbrechungen der Projektor, nach der Wiedervereinigung gehörte das Kino mal zur Yorck-Kinogruppe, dann stand es ein paar Jahre leer. 2004 wurde es von Hageni entdeckt und wiederbelebt, damals war er gerade mal Anfang dreißig.

Misstrauen gegenüber allem, was russisch ist

Hageni stammt aus der ehemaligen DDR, ist im sächsischen Freiberg in einem Pfarrhaus aufgewachsen und spricht nach eigener Aussage ein „von wunderlichen Fehlern durchsetztes Russisch“. Nach der Schule studierte er Kunstgeschichte, machte Anfang der Neunziger ein Praktikum bei der evangelischen Kirchengemeinde in Königsberg/Kaliningrad, und lebte ein knappes Jahr in einem Kloster südlich von St. Petersburg, bei Nowgorod Weliki. Auf die Frage, was er dort genau gemacht habe, erntet man nur ein amüsiertes Schulterzucken. „Was ich da gemacht hab? Na, gelebt!” 1994 befand sich in dem Kloster eine Künstler:innenkolonie, noch waren manche vom Krieg zerstörten Gebäude nicht vollständig an die orthodoxe Kirche zurückgegeben, illustre Gestalten versammelten sich in der Ruine. Hageni traf dort zm Beispiel einen Mann, der seit 1948 die religiösen  Fresken unter den Trümmern hervorholte und sie mühsam wieder zusammenpuzzelte.

Vor dem Eingang des Kino Krokodil lässt sich die Hitze besser aushalten. Im Gespräch geht es um die Komplexität von postsowjetischer Identität, und warum es im Kino kein Popcorn gibt. Bild: Morgane Llanque

Zurück in Deutschland verschlug es ihn nach Berlin. „Da fehlte mir der osteuropäische Film. Das ist bis heute so. Dabei sind wir hier  in in Ostberlin schließlich irgendwie immer noch mittendrin im Osten.“ Damit meint er: Bilder. Eine Gedankenwelt. Eine geteilte Geschichte, die erzählt werden will. Also schuf Gabriel Hageni mit Freund:innen das Kino Krokodil. Namensgeber ist ein blaues Reptil, das an der Decke hängt,das Werk eines befreundeten Künstlers, der Anfang der Nullerjahre aus seinem Atelier geflogen war und ein neues Zuhause für das Krokodil suchte. „Wir wollten einen Namen haben, den auch Menschen aus Osteuropa leicht aussprechen können. Krokodil passte da zufälligerweise perfekt“, erzählt Hageni. Unter den wachsamen Augen der Panzerechse hängen nun Filmplakate mit kyrillischen Buchstaben. Der offizielle Untertitel des Kinos lautet: Filme aus Russland und Osteuropa. Es gibt russischen Wodka, russischen Tee und auf einmal: Misstrauen gegenüber allem, was russisch ist.

Auch bei Good Impact: Warum der Westen jetzt auf ganz Osteuropa blicken muss

„Für uns stellt sich gerade permanent die Frage: Können wir diese Selbstbeschreibung beibehalten?“, sagt Hageni. „Ist es gerade noch angebracht, russische Filme zu zeigen?“ Mit uns meint er sich und seine Frau und Kollegin, Deborah Fiora, Slawistin aus Italien und Programmleiterin des Kinos. „Mehr als die Hälfte unserer Filme sind Dokumentationen“, erzählt Fiora, als sie sich zu uns in den Pollenregen setzt. Viele davon aus oder über Russland. Im Frühling hat sie im Programm einen Schwerpunkt auf das historische Selbstverständnis von Frauen in Osteuropa gesetzt. Kaum war der Krieg in der Ukraine ausgebrochen, stellten Fiora und Hageni eine Ukraine-Filmreihe auf die Beine, Schwerpunkt Donbass. Im Kinosaal gab es Diskussionen über den Krieg, die blau-gelbe Flagge wurde gehisst.

Die Reihe über Donezk und Luhansk lockte viele Besucher:innen an: Zu dem treuen Stammpublikum des Kinos,das oft aus Slawistik-Studierenden und Russisch-Muttersprachler:innen besteht, gesellten sich auf einmal zahlreiche Menschen, die verstehen wollten, was für sie fremd und unbegreifbar war. Und genau darum geht es Hageni: das einander Begreifen.

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Fokus auf Gemeinsamkeiten, statt auf Unterschiede

„Die Ukrainer müssen jetzt im Vordergrund stehen. Das ist das Wichtigste. Auf der anderen Seite finden wir: Wir sollten uns doch gerade jetzt auch mit dem russischen Film, mit der Gesellschaft und der Geschichte Russlands auseinandersetzen, damit wir verstehen können, wie es zu dieser schrecklichen Situation kommen konnte“, sagt Hageni. Es frustriert ihn, dass immer alle auf die Unterschiede zwischen Ost und West schauen, in Europa, in Deutschland. Nie aber auf die Gemeinsamkeiten. Allein die Biografien der Regisseur:innen, deren Filme im Krokodil gezeigt werden, verdeutlichen die Komplexität postsowjetischer Identität. „Der russische Regisseur und Kreml-Kritiker Witali Manski wurde in Lwiw geboren in der Ukraine, als das Land noch Teil der Sowjetunion war. Nach der Annexion der Krim musste der nach Riga emigrieren“, so Hageni. Er deutet auf das Filmplakat zum Film Garagenvolk von Natalija Yefimkina, einer Filmemacherin, die in Deutschland aufgewachsen ist, als Kind eines russischen und eines ukrainischen Elternteils.

„Soll man die Filme dieser Menschen nicht spielen, nur weil sie in Russland spielen?“ Gleichzeitig, betont Hageni, verstehe er alle Menschen aus der Ukraine, die es nicht ertagen können, wenn derzeit etwas aus Russland gezeigt werde. „Deshalb überlegen wir uns gerade sehr genau, welche Filme wir ins Programm aufnehmen.“

Das Kino will staatliche Verleihe und Archive in Russland in Zeiten des Krieges auf keinen Fall mit Geld unterstützen. Stattdessen will Hageni demnächst selbst einen ukrainischen Film verleihen, etwas Ungewöhnliches für ein kleines Independentkino. Neulich hat das krokodil einen Workshop für geflüchtete ukrainische Kinder angeboten. Die Kinder erstellten zusammen einen eigenen Zeichentrick-Kurzfilm, gezeichnet direkt auf Filmmaterial. Das Thema: Verschwindet, Gespenster! Der Workshop konnte nur durchgeführt werden, weil die Kinder von Russinnen aus einem Verein zur Förderung der russischen Sprache betreut wurden. Hageni sieht seit dem Beginn des Krieges ein Zusammenrücken der osteuropäischen Menschen in Berlin, auch von Russ:innen und Ukrainer:innen.

Ob es auch Anfeindungen gegen das Kino gegeben hat, so wie es bei zahlreichen russischen Restaurants in Deutschland der Fall war? „Überhaupt nicht“, sagt Hageni. „Wir wissen, dass es diese Menschen gibt, aber sie gehören anscheinend nicht zu unseren Gästen.“ Dennoch hört man ihm an: Er hadert. Überlegt immer noch, das Russland aus dem Namen zu streichen. Dabei geht es ihm nicht nur um moralische Bedenken: Selbst wenn Hageni einen kritischen, unabhängigen russischen Film neu ins Programm aufnehmen wollte, wie sollte er ihn in Zeiten der internationalen Finanz-Sanktionen gegen Russland bezahlen?

Kino Krokodil: Kein Popcorn, dafür Filme auf Millimeter

Als Nächstes stehen Filme über die slowenische Minderheit in Österreich und Italien an, „auch eine Reihe über die anderen Grenzstaaten, die sich von Russland bedroht fühlen, etwa Moldawien, kann ich mir vorstellen“, sagt Fiora. Im August richtet das Kino in Zusammenarbeit mit dem Osteuropainstitut der Freien Universität Berlin ein jiddisches Filmfestival aus, schließlich waren jüdische Siedlungen in Osteuropa die Wiege dieser heute in Europa bedrohten Sprache. Das alles stemmen Hegeni und Fiora meist zuzweit. „Aber das Kino stützt sich auf einen Verein, einen Freundeskreis, ohne den wir das nicht schaffen würden“, sagt Hageni. Auf die Frage, ob es ihre Mission sei, den Menschen den osteuropäischen Film näherzubringen, winken beide entsetztab. „Beim Wort Mission muss ich an den Ausbildungsort meines Vaters denken. Er hat am Missionshaus in Leipzig studiert“, sagt Hageni.

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Das Duo verzichtet aus Prinzip auf Social Media und Popcorn, alles Kommerzielle ist Hageni fremd. „Wenn man jemanden mit der eigenen Begeisterung anstecken kann, ist das schön. Aber wir wollen niemanden bekehren. Die Leute kommen auch so, auch immer mehr junge Menschen. Die Liebe zum Analogen kehrt zurück.“

Im Innenbereich des kleinen Kinos, nicht weit von dem präparierten Krokodil, steht ein wunderschöner DDR-Fernseher aus den Sechzigern, Marke Atelier. Darauf steht in blauen Lettern: Fernsehen war gestern, Kino ist Zukunft. Es ist eine trotzige Ansage, die gut zu Hageni passt. Er lässt sich nicht von all jenen beeindrucken, die das Kino immer wieder abschreiben. „Im Lockdown habe die Leute das Kino als sozialen Raum vermisst. Sie haben uns mit zahlreichen, unaufgeforderten Spenden unterstützt. Uns sogar Liebesbriefe an unser kleines Kino geschrieben.“ Als das Krokodil während der Pandemie zubleiben musste, stellte Hageni eine Leinwand davor auf und zeigte Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm Nosferatu aus den Zwanzigerjahren auf 35 Millimetern. Er ließ sich selbst in einem Sarg herantragen, um das immer und immer wieder für tot erklärte Kino als unbesiegbaren Untoten zu repräsentieren. Ja, es ist wirklich schade, dass Gabriel Hageni nicht gerne über sich selbst redet. Sein Leben ist mindestens genauso spannend wie sein Kino.

Bild: Morgane Llanque

Gabriel Hageni neben der namensgebenden Gallionsfigur seines Kinos: dem Krokodil.

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