Unterwegs mit Martin Kowalski

Wenn ein Lokführer Trompete spielt

In Köln trotzt ein Bahnfahrer der Unbill unserer krisenbehafteten Welt – mit Trompetenständchen. Warum macht er das? Und was bewirkt es bei den Mitreisenden?

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Es ist ein verhangener Freitagmorgen, als die S 19 in die Bahnhofshalle „Köln-Bonn Flughafen“ gleitet. Eine Handwerkerrunde diskutiert über Heizungsmontagen und Auftragsstau. Eine junge Frau mit roten Haaren kramt seit Minuten in ihrem Rucksack. Eine Kleinfamilie wiegt ihr unruhiges Baby im Kinderwagen. Knacken im Lautsprecher, kleines Räuspern. „Liebe Fahrgäste, ich bitte Sie alle auszusteigen, bitte steigen Sie alle aus.“ Wie bitte? Die Türen öffnen sich, Gespräche verstummen, leise Irritation. Die Handwerker, die Rucksack-Frau, die Kleinfamilie schauen auf den Bahnsteig. Aussteigen? Was ist los? Nehmen Taschen, Kinderwagen, Werkzeugkoffer und treten hinaus, wie all die anderen im 140 Meter langen Zug. Ganz vorn öffnet sich die Tür. Der Lokführer steigt aus, setzt eine kleine Trompete an – und spielt „Yesterday“.

Es ist einer jener Freeze-Momente, in denen das Leben stehen zu bleiben scheint, als hätte jemand die Pausentaste getippt. Wie in einer Kirche klettern die warmen Töne der Trompete die Betonwände der Bahnhofshalle hinauf bis unter das gläserne Dach, schwingen zurück durch den Raum. Die Fahrgäst:innen, an die hundert werden es sein, stehen neben dem Zug, die Handys in die Luft gestreckt, machen Fotos, Videos. Oder hören einfach zu. Da wagt einer einen kleinen Akt des Widerstands gegen die Unbill der Welt, trotz Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg und sozialer Ruppigkeit, gerade in der Bahn.

„Unglaublich.“ „Was war das denn?“ Applaus.

„So, jetzt geht’s weiter, bitte einsteigen“, sagt der Lokführer und während die S-Bahn weiter nach Köln schaukelt, öffnet sich wieder das Mikrofon. „Wir machen uns oft Sorgen ums Morgen, denken vielleicht viel an die Vergangenheit. Dabei vergessen wir das Hier und Jetzt. Es zu genießen und für andere da zu sein. Ich finde, jeder Tag zählt, daran wollte ich uns alle mit der Schönheit von ,Yesterday‘ erinnern. Und nun werden wir uns natürlich beeilen, damit wir die nächste Station pünktlich erreichen. Sie befinden sich in einer S 19 auf dem Weg nach Düren.“

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Charmant auf den Bahnsteig gelockt

Martin Kowalski heißt der Lokführer und er ist bekannt im Köln-Bonner-Raum. Der Express berichtete, der WDR war da. In den Sozialen Medien werden die Trompetenständchen des 56-Jährigen hundertfach geteilt. Unter #Koeln schwärmen Menschen von dem Lokführer, der sich für gelegentliches Chaos entschuldigt und zum Trost in Ehrenfeld ein bisschen Musik spielt. „Und wir klatschen und lachen. #SavedOurDay“, twittert Bernhard T. Auf Facebook freuen sich andere, wie charmant Kowalski Fahrgäst:innen auf den Bahnsteig lockt: „,Ich bin schon draußen, lassen Sie mich nicht allein.‘ – Was für ein Satz.“

Wer ist dieser Mann? Anruf bei der Deutschen Bahn in Nordrhein-Westfalen. „Ist es möglich, Herrn Kowalski mal zu begleiten?“ „Kein Problem, wenn er mag.“

Januar 2023. Der Kölner Hauptbahnhof liegt in den letzten Wehen des Berufsverkehrs. Versprengte Pendler:innen hasten die Treppen zu den Gleisen hinauf, Reisende zerren Koffer und Kinder hinter sich her. Das Brummen und Schnaufen von Fernbahnen, Regios und S-Bahnen verschwimmt mit Ansagen und Abschiedsmurmeln. Im Gedränge auf Gleis 10 taucht ein Mann auf. Blaue Jacke, DB-Logo, grau melierter Viertagebart, das ganze Gesicht ein Lachen. „Hallöchen“, ruft Martin Kowalski, „schön, dass Se mitkommen auf meine letzte Fahrt heute.“ Kowalski sieht aus wie frisch gestrichen, dabei hat sein Lokführertag heute um 2.30 Uhr begonnen, „im Auenland“. Auenland? Nun ja, so nennt er den Rhein-Sieg-Kreis um die Ortschaft Au. Kowalski mag es, Bilder im Kopf der Zuhörenden zu erzeugen. Von Hobbits und saftigem Grün, von kleinen Hütten und warmherzigen Wesen, wie er eines ist, das spürt man sofort. Er kommt aus Altenkirchen, zwanzig Autominuten von Au entfernt. Seit 4.20 Uhr fährt er heute die S 12, um halb neun war Pause in Köln.

9.08 Uhr, eine S 12 fährt auf Gleis 10 ein. Kowalski übernimmt wieder. Grüßt den Kollegen, schwingt sich ins Fahrer:innenhäuschen. Richtet den Sitz ein, fährt die Onlineanzeige mit Streckeninfos und Zeitplänen hoch. Trägt Name, Fahrtantritt, Uhrzeit in einen gelben Ordner ein. Schnappt das Mikro, lehnt sich aus dem Fenster: Alle drin? 9.11 Uhr. „Zuuuurückbleiben bitte.“ Kowalski beschleunigt, der Dom verschwindet in der Sichtachse der Seitenfenster, vor der S-Bahn liegen nur noch die schimmernde Schienenstraße und der knallblaue Winterhimmel über dem Gleisbett. „Guten Morgen, liebe Fahrgäste, an Tag zehn des neuen Jahres. Ich wünsche ein wunderbares 2023. Schön, dass Sie heute mit mir fahren.“

Foto: Anja Dilk

Seit 35 Jahren fährt Martin Kowalski Züge durch die Republik. Nach der Ausbildung zum Kfz-Mechaniker hat er sich seinen Traum erfüllt. Lokführer werden, das wollte er schon mit fünf. Kowalski kommt aus einer Bahnfahrerfamilie, der Opa war Eisenbahner, der Vater Grubenfahrer für die Züge in den Bergwerken des Ruhrpotts. Anfangs hat Kowalski Güterzüge gelenkt, später ICEs, seit 15 Jahren S-Bahn und Regionalexpress. Was ihn begeistert? „Das Gewaltige, die Technik, die Landschaft“, morgens im aufsteigenden Nebel, abends in der untergehenden Sonne, die aus dem Rund des Lokführerstandes so majestätisch aussieht. Und natürlich: die Menschen. Er liebt es, seine Lust am Leben mit ihnen zu teilen. „Freude zu schenken“, das ist für ihn „das Großartigste überhaupt“. Warum das so ist, weiß er wohl selbst nicht genau, aber vielleicht hat es auch mit der Musik zu tun, die ihn durch die Welt trägt, seit er ein Kind ist.

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Die Trompete hält die Familie zusammen

Als Kind berauscht ihn der Klang der Trompete, wenn der Cousin im Keller der Eltern übt. Mit neun lernt er von ihm, wie man sie spielt. Er tritt in einen Posaunenchor ein, bei Wartezeiten als Güterlokführer übt er im Fahrer:innenhäuschen. Später bringt er seiner Frau und den zwei Söhnen das Spielen bei. 2010 sucht die Deutsche Bahn in einem internen Wettbewerb „Unsere Superstars“. Er dreht ein Video auf dem Bahnhof Altenkirchen: Mit seiner Familie spielt er das Lummerlandlied von Jim Knopf, dem Lokomotivführer. Sie gewinnen den Preis. Heute tritt die Bläserband Kowalski bei Festen, Hochzeiten, Bahnfeiern auf, immer wieder übt die Familie zusammen bis in die Nacht. „Musik hat uns einander noch näher gebracht.“

Irgendwann ist da diese Idee: Was uns zusammenbringt, kann doch auch andere zusammenbringen. Und wie erreicht man mehr Menschen, egal welcher Herkunft, Hautfarbe, Nationalität, als mit Musik? Erst recht als Lokführer? „Die Bahn und die Musik haben eines gemeinsam: Sie verbinden Menschen.“ Weihnachten 2012 packt Kowalski zum ersten Mal seine Trompete aus, verlässt für zwei, drei Minuten sein Fahrer:innenhäuschen und spielt.

9.47 Uhr. Die S 12 rollt in Hennef ein, Endstation. Tocktock, eine Frau klopft an die Fahrertür. „Danke für die netten Neujahrswünsche, das habe ich noch nie erlebt“. Kowalski lächelt, sagt „ganz normal“ und „bisschen Zeit haben wir ja“, nimmt die Taschentrompete heraus, stellt sich auf den leeren Bahnsteig und spielt. Die Fenster des Verwaltungsbaus nebenan öffnen sich, Leute schauen heraus, die Frau filmt und freut sich, Applaus, eine Umarmung, schon ist Kowalski am anderen Ende des Zuges. Rückfahrt. Diese kleinen Momente beflügeln ihn ebenso wie die großen. Wie in einer eiskalten Novembernacht um 23 Uhr, als sein Regionalexpress in Troisdorf warten muss: „Leute, steigt mal aus, es gibt jetzt Zucker, Tee und Rum“ und dann auf dem Bahnsteig das Seemanslied „Wellermann“ spielt, das von Zucker, Tee und Rum handelt und plötzlich 200 Menschen mitsingen und mitklatschen.

Ausbrechen, damit der Zauber entsteht

Kowalski weiß: Ein Lokführer, der aus seiner Rolle ausbricht, ist etwas ganz anderes als ein Straßenmusiker, der durch die Waggons tingelt. Doch es braucht auch kleine Geschichten, damit der Zauber entsteht. Jede Woche überlegt er: Was passiert so in der Welt? Was kann ich aufgreifen, erzählen, was dazu spielen? Was berührt, ohne zu belehren, ohne dass die Leute denken, der will nur berühmt werden, sich darstellen. „Ich habe keine Mission. Ich will nur kleine Momente des Innehaltens schenken.“

Köln Airport-Businesspark. „Guten Tag. Wir müssen andere Züge durchlassen, Zeit für eine Überraschung. Bitte steigen Sie aus.“ Kowalski setzt seine Taschentrompete an, „What a Wonderful World“ schallt über den Bahnsteig, Menschen schauen und raunen und applaudieren. „Dieser Song wurde zur Zeit des Vietnamkriegs für Louis Armstrong geschrieben“, erzählt Kowalski bei der Weiterfahrt. „Er erinnert uns an die Schönheit der Welt. Lassen Sie uns das Beste daraus machen.“ „Wow, der traut sich was“, sagt ein Mittdreißiger.

Natürlich, nicht alle mögen Kowalskis Aktionen. „Quatschen Se mich nicht voll“, auch solche Sätze fallen mal. Zuweilen wundert sich Kowalski selbst über seinen Mut. Bloß keine Verspätung riskieren wegen der Musik, da bekäme er auch scharfen Gegenwind von seinen Chef:innen. Kowalski hat seine Strecken genau abgecheckt: Wo sind die Distanzen zwischen den Stationen groß genug, um die Zeit für das Spielen wieder aufzuholen? Zügiger beschleunigen, aber nie zu schnell fahren. Kleine Pausen nutzen. „Gerade die Pendler sind sensibel, ist ja klar.“

Die S-Bahn rollt in Köln ein, sogar der dunkle Dom leuchtet ein wenig in der Mittagssonne. „So Freunde, ich werde hier ausgetauscht. Haben Sie weiter einen schönen Tag. Bis zum nächsten Mal.“

Fotos: Anja Dilk

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