Revolution im Berliner Naturkundemuseum

Der Provokateur

Im Berliner Naturkundemuseum hat Johannes Vogel eine kleine Revolution angestoßen: Der Generaldirektor ist dabei, sein Haus zu einem Ort der politischen Debatte zu machen – über Konsum, Artenvielfalt und die Frage: Wie wollen wir in Zukunft auf der Erde leben? Dafür greift er auch gern zu ungewöhnlichen Mitteln. Besuch bei einem Querhandler

„Da, sehen Sie? Das Pärchen vor dem Brachiosaurus. Es tritt vor, zurück, redet, Blick nach oben, da, der Kopf auf 14 Metern Höhe, wow. Zehn Minuten geht das schon so. Diskutieren, entdecken, diskutieren. Toll, oder?“ Wenn Johannes Vogel die Besucher seines Museums beobachtet, klingt er ein wenig wie ein Radioreporter. Der Generaldirektor sitzt auf dem Sockel des Reptilienskeletts in der Saurierhalle, die Beine ausgestreckt übereinandergeschlagen, die Finger zwirbelnd an den Zipfeln seines Salvadore Dalí-Bartes geparkt, einmal rechts, einmal links, und freut sich. „Wir werden immer mehr zu einem Naturkundemuseum für Erwachsene.“ Diese Besuchergruppe wächst am stärksten.

Tatsächlich, es sind vor allem Erwachsene, die an diesem sonnigen Donnerstagnachmittag durch die Gänge schlendern. „Gut so“, sagt Vogel. „Erwachsene müssen die Verantwortung für die Welt übernehmen.“ Sie will er zum Nachdenken, Debattieren und Handeln inspirieren – „für Natur“. Das ist der neue Slogan seines Hauses, sein Mantra. „Wir können nicht mehr warten, wir müssen tun. Es gibt heute nichts Politischeres als die Natur.“

Seit 2012 ist Johannes Vogel, wiesengrüne Krawatte mit Blumen, Nadelstreifenanzug, blaue Sneaker, rosa Schnürsenkel, Chef des Museums für Naturkunde Berlin. Er hat sich Gewatiges vorgenommen: Er will das Museum zu einer politischen Institution umbauen, zu einem Ort der kritischen Debatte, des fröhlichen und wo nötig scharfen Streits über Naturschutz und Konsum, über Artenvielfalt und die Frage: Wie wollen wir weiterleben auf diesem Planeten? Ein lebendiges Forum für einen Dialog zwischen Bürgern, Wissenschaftlern und Politikern. Demokratisch und offensiv.

Stimmung wie bei der Oscarverleihung im Naturkundemuseum

Vorgenommen? Von wegen. Vogel ist längst mittendrin. Heute morgen zum Beispiel: Girlsday 2018. „Da war hier Stimmung wie bei einer Oscarverleihung“, sagt Vogel. Hunderte Schülerinnen, Familienministerin Franziska Giffey und die Presse drängten sich im Sauriersaal. Thema: Die Zukunft naturwissenschaftlicher Forschung. Im Juni hat Vogel Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner zur Debattenrunde mit der Wochenzeitung Die Zeit eingeladen. Thema: Insektensterben. Vogel will wissen: Was wird sie dagegen tun in ihrer Amtszeit? „Politik, die keine Position bezieht, ist zahnlos“, sagt der Museumsdirektor. Er erwartet „Führerschaft“ und „Mut zur Entscheidung“. „Schauen sie nach Ruanda. Dort sind Plastiktüten seit gut zehn Jahren verboten – seitdem ist die Natur viel sauberer.“

Seine Liebe zur Natur hat Vogel früh entdeckt. Aufgewachsen in Bielefeld begleitet er als Kind seinen Vater auf die Jagd. Tiere beobachten, Pflanzen bestimmen, das hat er von ihm gelernt. Wie kommt es, fragt er sich, dass die Vegetation bei der Großmutter in Bayern so anders aussieht als in Niedersachsen? Fichten statt Buchen, Blumenwiesen statt Grasflächen. Mit 14 tritt Vogel in den Naturwissenschaftlichen Verein Bielefeld ein, später studiert er Biologie, bekommt ein Stipendium für die Universität Cambridge, wird schließlich Chefkurator der botanischen Abteilung am Natural History Museum in London. Dort lernt er auch seine Frau kennen: Sarah Darwin, die Ururenkelin des berühmten Evolutionsbiologen. Was bleibt einem bei so einer Biografie schon anderes übrig, als Großes anzupacken? Nach 23 Jahren in Großbritannien übernimmt Vogel in Berlin eines der sechs wichtigsten Naturkundemuseen der Welt.

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Eine Tür in ein verborgenes Reich

Johannes Vogel zieht einen Schlüsselbund heraus, stößt eine Tür am Ende des Kosmos-Saales auf und führt in ein verborgenes Reich. Zehn Meter hohe Säle, dicker, bröselnder Stuck, hunderte Meter Schränke, Vitrinen, deckenhohe Regale voll ausgestopfter Vögel, Nagetiere, Amphibien. Der Weg führt durch ein Geäst von Gängen und Treppen tief in den Bauch dieser fast 130 Jahre alten Institution, vorbei an den Sammlungen Alexander von Humboldts, durch schroffe Hinterhöfe mit morbidem Charme – Vogel: „Schreit das nicht nach Events? Hätt’ ich nur das Geld dafür.“ – hinunter in die Keller unter dem Dinosauriersaal.

Dort wird sortiert, restauriert, geforscht. 200 Wissenschaftler analysieren mit High-Tech-Ausstattung alte Gewebe, entziffern Papyus, durchleuchten Funde, suchen Antworten auf Fragen wie: Warum können Seesterne ohne Augen sehen? Vogel reißt ein Regalrollo hoch, Elefantenköpfe aus Afrika. Daneben Hunderte Antilopentrophäen. Insgesamt 30 Millionen Fundstücke, nur ein Bruchteil kann ausgestellt werden, viele Räume sind nicht nutzbar. Dringender Sanierungsbedarf. Der Etat von 16 Millionen im Jahr reicht gerade für den Erhalt. Immerhin, mit Mitteln des Bundes und des Landes kann Vogel bald 4400 Quadratmeter zusätzlich nutzen. „Wenn es in dem Tempo weitergeht, brauchen wir noch 120 Jahre, bis die nötigsten Baumaßnahmen fertig sind.“

Wie macht man aus so einer Institution ein modernes „Veränderungsermöglichungsinstitut“, wie es Vogel nennt? Erstens: Indem man Aufmerksamkeit erregt. „Nur wer kommt, kann die Faszination unseres Hauses entdecken“, sagt Vogel. „Also habe ich Tristan nach Berlin geholt.“ Das erste vollständige T.-Rex-Skelett in Europa, eine Sensation.

Zweitens: Indem man aus einer „begehbaren Enzyklopädie der Natur“ eine spannende Mitmachlandschaft macht. Erklären statt belehren. Wenig Text, viel Staunen. Indem man Besuchern eine Virtual-Reality-Brille in die Hand drückt, die den Brachiosaurus zum Leben erweckt. Schnaufend stampft er durch die Dinohalle. Indem man Künstler holt, die Irritationen schaffen. Was macht der Turm abgeschabter Frachtgutkisten im Dinosaal? Was soll das Zelt mit Feldbett, Taschenlampe, Laborfläschchen unterm Brachio-Schwanz? „Haben Sie schon mal über den Alltag der Feldforschung nachgedacht?“, fragt Vogel. „Eben.“ Die Installation „Field Guide“ von Mark Dion könnte das ändern.

Vogel liebt solche Brüche. Eine Mikro-Oper im Fischsaal. Ein Film über die Unsicherheit wissenschaftlicher Annahmen. Und wo nötig eine kompromisslose Provokation. Am Ende der Ausstellung über Ara-Papageien im südamerikanischen Regenwald baumelt eine Schweinehälfte aus Kunststoff von der Decke, darauf leuchtet eine Zahl: 74 Kilogramm. So viel Schwein isst jeder Deutsche durchschnittlich im Jahr. Für das Soja im Tierfutter werden Regenwälder zerstört – das Todesurteil für den Ara. „Deshalb steht neben dem Schwein ein Mittagstisch mit Kartoffeln, Rotkohl und Ara statt Schweinebraten auf dem Teller“, sagt Vogel. „Der öffentliche Diskurs über Natur braucht Emotion. Nur wenn wir bewegen, können wir verändern“.

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Johannes Vogel setzt auf Elektro-Mix mit Nachtigallgesang

Genauso ist Vogel überzeugt: Der Naturschutz braucht die Bürger als Forscher. „Beuys hat gesagt, jeder ist ein Künstler“, so Vogel. „Ich sage: Jeder ist ein Forscher.“ Der Generaldirektor weiß, wie wichtig es ist, die Entdeckungslust der Bürger zu nutzen. Es waren Krefelder Hobby-Entomolgen, die 2017 zum ersten Mal mit einer Langzeitstudie das dramatische Ausmaß des Insektensterbens dokumentieren konnten. Und, natürlich, wer selbst forscht, lernt die Natur besser verstehen. Im vergangenen Jahr schickte Vogel Hunderte Berliner mit Einwegkameras durch die Stadt. Es entstand eine Bilderwand, in der sich der Besucherblick leicht verfängt: blühende Gärten, karstige Ecken im Park. Im nächsten Monat will er eine kleine Forschungsstation neben dem Tristan aufbauen. Dann können Besucher Wissenschaftlern des Museums bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Regelmäßig lädt Vogel zum Bürgerdialog: Was bewegt euch? Woran sollen wir forschen? Vogel ist überzeugt: „Wissenschaft muss zuhören lernen.“

Bis zu 60.000 Berliner über 18 nehmen jährlich an solchen Veranstaltungen teil. Die Zahl der Museumsbesucher ist seit 2014 von 500.000 auf 800.000 im Jahr geklettert. Keine Frage, Johannes Vogel trifft den Zeitgeist. „Doch wer ihn auf Dauer treffen will, muss den Bürgerdialog immer wieder neu suchen.“ Zum Beispiel mit dem Nachtigallprojekt.

Es ist nachtdunkel im Museum. Mit Laternen geleiten die Mitarbeiter die Besucher in den Kosmos-Saal. Kerzen brennen, Blumen duften. Eine Sopranistin singt Lieder über die Nachtigall. Brahms, Grieg, Dick Charles. Ein Chor stimmt an. Weit trägt das Gemäuer seine Stimmen den alten Treppenaufgang empor. Nebenan inszeniert ein Musiker einen Elektro-Mix aus Nachtigallgesang, Tierstimmen und Geräuschen. Die „NachtiGala“ ist Auftakt zu einem neuen Experiment: Die Erforschung der Nachtigall in Berlin, wo so viele von ihr leben wie sonst nirgends auf der Welt. Wie lebt sie? Wo singt sie? Was braucht sie? Mit der App „Naturblick“ auf dem Smartphone  können die Berliner nun ausschwärmen, fotografieren, filmen, aufnehmen oder auf Exkursionen durch die Parks mit den Nachtigallforschern des Museums diskutieren. Vom „Spirit of Mitmachen“ schwärmt Projektleiterin Sarah Darwin.

Johannes Vogel wippt auf den Füßen vor und zurück. Er beobachtet das Publikum. „Meinst du in unserem Hinterhof gibt es Nachtigallen, Schatz?“, fragt ein junger Mann. „Keine Ahnung, wir checken das nachher mit der App.“ Vogel lächelt in sich hinein. Jep, mal wieder hat er die Besucher gekriegt. Sein Plan für Natur scheint aufzugehen.

Titelbild: Alexandre Debiève/Unsplash

Essen wir in Deutschland Fleisch, sterben dafür Aras in Südamerika. Denn der dortige Sojaanbau nimmt den Tieren ihren Lebensraum. Solche Zusammenhänge will Johannes Vogel aufzeigen

Anja Dilk

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