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Im Naturkundemuseum hängt der Sound einer Fabrik. Maschinen surren, Kameras blitzen, auf dem kobaltblauen Produktionsband fahren Insekten zur digitalen Durchleuchtung. Links sitzen Wissenschaftler:innen an kleinen Tischen aufgereiht wie an einer Schnur. Tief über die Lichtkegel der Lampen gebeugt ziehen sie Käfer, Schmetterlinge, Flügeltiere raus aus ihrem Nagelbett. Sortieren, zack, weiter gehts in die Digitalisierungsstraße. Schon dreht sich das nächste Schalentier auf der digitalen Kachelwand und offenbart einen virtuellen Blick in sein Inneres. Besucher:innen schauen, staunen, fragen. Am Rande steht eine Frau, groß, lange braune Haare, Ringelpulli, entspanntes Lächeln. „5.000 Insekten pro Tag digitalisieren wir derzeit, Millionen aus unserer Sammlung sollen es mal werden“, sagt sie. „Wir erforschen die Natur, und die Menschen sind mittendrin. Ist das nicht fantastisch?“
Sarah Darwin
In den Fußstapfen des Ururgroßvaters: Naturforscherin Sarah Darwin ist die Ururenkelin des berühmten Evolutionsforschers. Sie will die Kraft ihres Erbes nutzen – als Botschafterin für die Natur.Bild: Wikipedia / Creative Commons
Es ist ein sonniger Oktobermittwoch im Berliner Naturkundemuseum. Die Ringelpulli-Frau führt durch die Hallen. „Schauen Sie“, es geht vorbei an den Affen, „da hinten hat Streetart-Künstler Jim Avignon für unser Bürgerforschungsprojekt über die Nachtigall live gemalt. Und da oben“, sie zeigt einen alten Treppenaufgang empor, „haben Chorsänger nachts im Licht kleiner Laternen ein Konzert gegeben.“ Sie schließt eine schwere Tür zum Forschungstrakt auf, eilt hinauf in ihr Büro, breitet eine nachtblaue Tischdecke aus. „Hier haben Geflüchtete in einem Nähprojekt ihre Geschichten über die Nachtigallen in Berlin hineingestickt.“ Sie lässt sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken, die Sonne kommt heraus, das Grün der Bäume vor dem Fenster schimmert satt. „Ich kann nicht anders, egal wo ich hingehe, überlege ich: Wie kann ich Menschen zusammenbringen für die Natur?“ Die Frau, deren Energie wie ein Heizstrahler am Glühweinstand durch die Flure flutet, heißt Sarah Darwin.
Darwin? Wie der Darwin, Charles also, der mit seiner Evolutionstheorie das Denken der Menschheit auf den Kopf gestellt hat? Sarah Darwin nickt. Die bodenständige, offenherzige Frau ist die Ururenkelin des großen Naturforschers. „Nun ja, lange war mir das selbst gar nicht richtig bewusst.“ Wurde sie nie auf ihren Namen angesprochen, nicht beim Bäcker um die Ecke, nicht in der Schule, als Evolutionsbiologie auf dem Plan stand? „Ich kann mich nicht daran erinnern – vielleicht widerspricht das der englischen Höflichkeit.“
Eine Kindheit in Südengland. Geboren 1964, wächst Sarah Darwin in London auf. Der Vater ist Materialwissenschaftler, die Mutter Hausfrau. Sarah und ihre beiden Brüder gehen auch in London zur Schule. Der Garten des Natural History Museum, in dem die Kids nach Schulschluss spielen, ist der einzig grüne Fleck weit und breit. Die Wochenenden verbringt die Familie oft bei den Großeltern an der Küste: surfen, schwimmen, durch Wälder streifen, stets unterwegs mit Kindern aus der Nachbarschaft. „Bei uns war immer was los.“ Gemeinschaft und eine enge Bindung zur Natur – die Werte ihrer Kindheit werden Sarah Darwin ein Leben lang prägen.
Ein warmer, wilder Alltag
Der berühmte Ururgroßvater ist kein Thema in diesem warmen, wilden Alltag. Niemand aus der Familie hatte ihn je persönlich kennengelernt, auch nicht der Großvater. Es gibt keine Geschichten im kollektiven Gedächtnis. Einmal fragt Sarah ein Gast der Großeltern, woher ihre Familie kommt. „Ich glaub, aus Australien“, sagt sie aus Verlegenheit. Der Vater hatte ihr mal von einem Ort namens Darwin erzählt.
Erst in der Schule, da ist sie vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt, tritt der berühmte Vorfahre zum ersten Mal in ihr Leben. Sie muss ein Referat halten. „Mach doch etwas über Charles Darwin“, rät ihre Mutter, „das ist dein Ururgroßvater und er hat tolle Naturreisen gemacht.“ Gemeinsam besuchen sie sein langjähriges Wohnhaus.
Down House, Surrey, Südengland. Ein zugiger Ort, kaum beachtet von der Öffentlichkeit. Gartenhaus, Wohnzimmer, Arbeitsraum. „Willst du mal auf seinem Stuhl sitzen?“, fragt die Verwalterin. Der Stuhl hat Rollen, Sarahs Beine baumeln, der Schreibtisch ist dunkel und schwer. Warum genau kann sie gar nicht mehr sagen, aber „das war ein ganz besonderer Moment für mich“. Eine Ahnung vielleicht, dass ihre Familiengeschichte eine besondere ist.
Der nächste Moment kommt in Australien, nach dem Kunststudium. Sarah Darwin besucht ihren Bruder und arbeitet auf einer Bananenfarm. Irgendwann steht sie im Regenwald, steht einfach da, mittendrin. „Es war, als würden die Pflanzen meine Beine hochwachsen, die Natur ergriff jede Faser meines Körpers. Ich war total überwältigt.“ Einige Tage später bekommt sie von ihrer Mutter einen Brief mit einem Zeitungsartikel über Charles Darwin und seine Liebe zum Regenwald. Es ist ein Aha-Moment. Beide teilen dasselbe Erleben: Natur und Mensch, das ist kein Gegensatz. Beide beschäftigen dieselben Fragen: Sind wir nicht alle eins? Warum sollte ein Schöpfer so eine Vielfalt schaffen? „Da habe ich angefangen, mich ernsthaft mit seinen Theorien zu beschäftigen.“ Sie ist fasziniert von seinem Werk Die Entstehung der Arten (1859), begreift, wie grundlegend die Arbeiten ihres Ururgroßvaters sind. Beginnt, Pflanzen zu illustrieren, und entscheidet sich zu einem zweiten Studium: Botanik. Australien wird zum Wendepunkt in ihrem Leben.
Der Weg durch das Naturkundemuseum geht vorbei an deckenhohen Regalen. In Hunderten Gläsern wabern Föten und Fische in Konservierungslösung wie in Frankensteins Labor. Sarah Darwin zeigt ihre Lieblingsstücke. Da ist der Helmkasuar, ein Vogel groß wie ein Strauß, vom Aussterben bedroht, für sie eine Erinnerung an jenen australischen Regenwald, der sie einst so bewegt hat. Da ist die zwölf Meter lange Biodiversitätswand, mit 3.000 präparierten Arten von den Pfeilschwanzkrebsen bis zum Zwerg-lori. Nichts ist hier beschriftet. Es geht ums Entdecken, ums Fühlen, nicht um museale Wissensflut. Sarah Darwin hält inne, atmet kurz durch. „Es gibt niemanden, den diese Vielfalt nicht berührt, oder?“
Forschen auf Galapagos
Auf ihren Reisen nach Galapagos hat Sarah Darwin die Vielfalt selbst erforscht. Galapagos, die Pazifik-Inseln tausend Kilometer vor der ecuadorianischen Küste, fern der Zivilisation. Mehr als fünfzig Prozent der dortigen Pflanzen- und Tierarten gibt es nirgendwo sonst auf der Erde. Hier machte Charles Darwin die entscheidenden Beobachtungen, die ihn später zu seiner Theorie zur Entstehung der Arten inspirierten. Hier erkannte er, dass unterschiedliche Spottdrosseln von einem Urahn abstammen mussten und sich jede Art erst im Laufe der Zeit an die Bedingungen einzelner Inseln angepasst hatte, um bestmöglich zu überleben – survival of the fittest.
Erst ist es die Neugier auf ihre Familiengeschichte, die Sarah Darwin nach Galapagos zieht. Als sie das Eiland betritt, fühlt es sich „fast an, wie es damals gewesen sein könnte“, sagt sie. „Kein Internet, kaum Telefon, als sei man der erste Mensch, der seinen Fuß auf diesen Flecken Erde setzt.“ Dann illustriert sie für einen Naturführer die Pflanzen auf den Inseln und stößt auf eine Tomatenart, die gar nicht zu den wissenschaftlichen Beschreibungen passen will – die Galapagos-Tomate mit haarigen kleinen Blättern. Hatte sich eine invasive Art mit einheimischen Sorten vermischt? Es wird ihr erstes, großes Forschungsprojekt und Galapagos zu einem ihrer Lebensorte, an den sie immer wieder zurückkehrt.
Spätestens seitdem ist der Vorfahre aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken. Auch wenn sie – und dazu muss man Sarah Darwin nicht lange beobachten – weit davon entfernt ist, nur Ururenkelin zu sein. Sie ist eine starke Frau, voller Neugier und Ideen. Am Londoner Natural History Museum promoviert sie über die Galapagos-Tomate, arbeitet mit ihrem späteren Mann, Johannes Vogel, zusammen. Sarah Darwin wird eine erfolgreiche Biologin, eine Frau, die ihr Erbe, so scheint es, lässig trägt wie ein Hipster sein Bauchtäschchen. Für sie ist es Inspirationsquelle, Verpflichtung und Chance, die Kraft dieses Erbes zu nutzen – als Botschafterin für die Natur.
Plymouth, September 2009. Im Hafen liegt das Segelschiff Stad Amsterdam. Musiker:innen, Wissenschaftler:innen, Redakteur:innen sind schon an Bord. Ein niederländisches TV-Team will die Reise von Charles Darwin mit der MS Beagle nachstellen, die ihn von 1831 bis 1836 rund um die Welt führte. Eine echte Darwin soll dabei sein – Sarah Darwin. Er war damals 22, halb so alt wie seine Nachfahrin, die ihm nun folgt. Zehn Monate lang geht es von Kap Verde nach Brasilien, rund um Feuerland, nach Australien und Südafrika. Die Gischt im Gesicht, den Wind in den Haaren, sieht Sarah Darwin, was ihr Ururgroßvater fast 200 Jahre vorher gesehen hatte. Und erfährt dabei so unmittelbar, so „absolut außergewöhnlich“, wie sich die Welt seither verändert hat. Wohl nirgends ist das so spürbar wie in Brasilien.
„Ich wandere durch den Regenwald (…) so ein Tag bringt mehr Freude, als ich je zuvor in meinem Leben gehabt habe und je wieder haben werde“, schreibt Charles Darwin am 29. Februar 1832 in sein Tagebuch. Er ist wie im Rausch, überwältigt von der Fülle der Geräusche und Gerüche im wilden Wald. Dem Zirren, Tschilpen, Pfeifen von Vögeln und Insekten, die er nie zuvor gehört, dem Duft der Blumen, Blätter, feuchten Rinde, verrottenden Vegetation auf dem Boden, den er nie zuvor gerochen hat.
Die Worte aus Darwins Tagebuch hallen in Sarah Darwins Kopf, als sie im Hafen von Salvador da Bahia aussteigt – doch diese Welt ist weg. Motorenlärm statt Insektenkonzert, Abgasgestank statt Blumenduft, Hochhäuser statt Mammutbäume. Eineinhalb Stunden Fahrt braucht das Team, um ein kleines Stück Regenwald zu finden. In ihm ist noch immer das Rauschen der Straße zu hören wie hinter einer Lärmschutzwand. „Damals habe ich begriffen, wie weit wir uns längst von dieser vibrierenden Verbundenheit alles Lebendigen entfernt haben.“
Umso beeindruckter ist Sarah Darwin in Feuerland, einer kargen Region, in der beißender Wind über die Ebenen jagt. „Dort sah es vermutlich noch aus wie damals – weil es kaum Menschen gibt.“ Es ist Frühling, die Blätter kommen aus den Zweigen, „wenn wir ruhig genug waren, konnten wir sie wachsen hören“.
Sand von der großen Reise
Im Naturkundemuseum eilt ein Mann heran. Groß, Anzug, bunte Krawatte, Einstecktuch, Salvador-Dalí-Bart mit langen, gebogenen Zipfeln. „Kommt mal, ich will euch was zeigen“, ruft Generaldirektor Johannes Vogel, Sarah Darwins Mann. Neben der Büste von Charles Darwin, gleich um die Ecke der Biodiversitätswand, zieht Vogel ein Röhrchen aus einer Plastiktüte. „Schaut, das ist der Sand, den Darwin damals von den Segeln der Beagle gekratzt hat – als Erinnerung an seine große Reise“, erklärt Vogel. „Hier“, er kramt ein Briefchen aus Pergamentpapier hervor, „der Expeditionsleiter hatte es nach Darwins Tod an den damaligen Museumsdirektor geschickt.“ Sarah Darwin kichert und zieht die Brauen hoch. „Na, da hast du ja wieder was ausgegraben.“
Seit 2012 lebt das Duo nun in Berlin und kämpft dafür, den Menschen jenes „tiefe Verbundenheitsgefühl mit der Natur wiederzugeben“, dessen Bedeutung Sarah Darwin während ihrer Reisen so eindringlich erfahren hat. Indem sie Linien aus Vergangenheit und Gegenwart sinnlich erfahrbar zusammenführen wie mit jenem Röhrchen Sand von den Segeln der Beagle. Indem sie Menschen in Citizen-Science-Projekten zusammenbringen. 7.000 Nachtigallstimmen haben Bürger:innen mit der Museums-App „Naturblick“ für Sarah Darwins Nachtigallprojekt gesammelt, 450 persönliche Geschichten über den Singvogel wurden zusammengetragen. Indem sie Wissenschaft mit Kunst verbinden. „Denn“, fragt Sarah Darwin, „geht es nicht bei beiden darum, die Fundamente des Lebens zu erkunden? Und ist Kunst nicht herrlich geeignet, um wissenschaftliche Erkenntnisse in Emotionen zu übersetzen?“ Kunst und Theater, Wissenschaftsdebatte und Feldforschung sind aus dem Museumsalltag nicht mehr wegzudenken.
Vor zwölf Jahren war Familientreffen. Etwa hundert Nachfahr:innen aus aller Welt versammelten sich, um ein doppeltes Jubiläum zu feiern: 200 Jahre Geburtstag von Charles Darwin, 150 Jahre Veröffentlichung von On the Origin of Species. Darwins Geburtshaus in Surrey ist heute Nationalkulturerbe. Sarah Darwin sagt: „Popularität kommt in Wellen, in meiner Kindheit interessierte sich kaum jemand für ihn, jetzt stecken wir mitten in einer populären Phase.“ Die Theorien des berühmte Urahns waren wohl nie so aktuell, nie so relevant wie heute. Nicht nur der Beutelwolf und das Quagga-Zebra, deren letzte Exemplare ausgestopft im Naturkundemuseum stehen, sind ausgestorben. Wir stecken mitten in einem katastrophalen Artensterben, dem sechsten auf dem Planeten. „Und es ist das erste Artensterben, in dem eine Spezies das Überleben der anderen gefährdet.“ Was können wir also von Darwin lernen? „Dass die Liebe zur Natur der Schlüssel zu ihrem Schutz ist. Dass wir begreifen und wieder fühlen lernen sollten, dass Mensch und Natur eins sind – und Verantwortung übernehmen.“
Im Nachtzug wird Sarah Darwin später zum Klimagipfel in Glasgow fahren, um den Präsidenten von Ecuador zu treffen und neue Kontakte für den Galapagos Trust Fund zu schmieden, dessen Präsidentin sie ist. Und um zu verstehen: Wie lässt sich die Politik aufrütteln, wie ist die Stimmung an der Basis, bei all den jungen Menschen vor allem, die dort auf die Straße gehen? Sie beobachtet: Es gibt Bewegung. Es lohnt sich, weiterzumachen. Was auch sonst?
Es ist Abend geworden. Die Stuhlreihen neben dem Brachiosaurus sind eng besetzt, das DJ-Pult ist aufgebaut, auf der Leinwand ploppt das Thema des heutigen Events auf: „Mikro-Orgasmen überall“. Ein junges Publikum hat sich versammelt, nur wenige sind älter als dreißig. Sarah Darwin hat recht: Natur zieht wieder. Gastwissenschaftler und Techno-Künstler Dominik Eulberg dreht die Beats auf und startet einen Videotrip in die Welt der Insekten in millionenfacher Vergrößerung. Sarah Darwin ist da schon längst zu Hause, an ihrem nächsten Projekt arbeiten: ein Kinderbuch – über Evolution.
Duo für die Natur: Sarah Darwin und ihr Mann Johannes Vogel, Generaldirektor des Berliner
Naturkundemuseums, in der wissenschaftlichen Sammlung.