Zusammenhalt trotz Dauerkrise

Diese Initiativen stärken die Demokratie

Ob die Gesellschaft in Deutschland auseinanderdriftet, ist umstritten. Sicher ist: Es gibt ein wachsendes Bedürfnis nach Zusammenhalt, gerade jetzt in der Dauerkrise. Und überall blühen Demokratie-Initiativen auf, die etwas dafür tun.

Lange Jahre waren die Werte stabil: „Guter sozialer Zusammenhalt, hohe Werte in puncto Qualität sozialer Beziehungen, Vertrauen, starkes Zugehörigkeitsgefühl zur Gesellschaft“, sagt Kai Unzicker, Leiter des Projekts „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh. Die Projektgruppe hat Daten seit 1990 ausgewertet, seit 2016 ergänzt um eigene Erhebungen. Anfang 2020 gab es erste Hinweise auf Veränderungen, die sich 2022 in Nachfolgeumfragen bestätigten: „In allen Dimensionen sind die Werte zurückgegangen“, so Unzicker. „Die Menschen fühlen sich weniger verbunden, das Vertrauen in die Institutionen schwindet, Netzwerke werden kleiner.“

Erfolgreiche Demokratie-Initiativen: Vier Beispiele

Was mit Corona begann, habe sich in den folgenden Krisen – Ukraine-Krieg, Inflation – verfestigt. Unzicker: „Zum ersten Mal sehen wir eine Delle nach unten – und dagegen sollten wir etwas tun.“ Mit Vernetzungen vor Ort, kleinen Initiativen, die Menschen zusammenbringen. Mit neuen Ideen, um den Austausch zu fördern, die demokratische Kultur zu stärken. Ansätze gibt es überall. Hier sind vier Beispiele und ein wunderbares Buch, das Lust macht auf mehr wir.

Sprechen & Zuhören: Gefühle zulassen, nicht fighten

Programme wie „Deutschland spricht“ oder „Streitgut“, in denen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen zum gepflegten Austausch gebeten werden, gibt es mittlerweile einige. Und der respektvolle Argumente-Battle ist eine gute Sache. Hinter dem neuen Format „Sprechen & Zuhören“ des Vereins Mehr Demokratie aber steckt etwas anderes: „Wir wollen den Emotionen Raum geben, die Menschen mit einem Thema verbinden“, erläutert Projektleiterin Anne Dänner. „Denn zum einen gehen Menschen, die nicht so eloquent sind, im Schlagabtausch von Argumenten schnell unter. Zum anderen fehlt die Auseinandersetzung mit Gefühlen in unserer politischen Kultur – und sie ist nicht weniger wichtig als die sachliche Debatte selbst, wenn wir ein besseres Miteinander in der Demokratie wollen.“

Und das funktioniert so: Etwa eine Stunde lang bittet der Verein Mehr Demokratie zum Austausch – meist online, aber es gibt das Format auch als Live-Veranstaltung – über ein politisches Thema, vom Ukraine-Krieg bis zu Klima und sozialen Fragen. Meist nehmen 30 bis 150 Leute teil. Zum Auftakt gibt es Lockerungsübungen: tief atmen, Arme und Beine schütteln, dehnen. „Um innere Spannungen loszuwerden und den Fokus auf den Körper und das Fühlen zu richten, statt sich auf das Kognitive zu konzentrieren“, so Dänner. Dann geht es in Fünfer-Gruppen in Breakout-Rooms, wo meist in zwei Runden diskutiert wird. Das Orgateam gibt die Leitfragen vor, zum Beispiel: Wie fühlst du dich mit dem Thema Inflation? Was macht dir Sorgen? Reihum hat jede:r drei Minuten Redezeit, währenddessen sind keine Nachfragen, keine Kommentare erlaubt. Einfach mal zuhören – und aushalten. Über die Einblendfelder im Zoomfenster wachen die Moderator:innen über die Zeit, läuten die nächste Runde ein und sind für Rückfragen da. Am Schluss werden in großer Runde zum Beispiel Schlagworte gesammelt und per Word-Clouds (Textbildern) visualisiert: Was ist euch aus den Sessions besonders hängen geblieben?

„Es ist erstaunlich, wie mühelos die Gespräche laufen“, beobachtet Dänner. „Weil hier gefragt ist, wie es den Teilnehmenden persönlich mit dem politischen Thema geht, hat jede:r etwas zu sagen.“ Das Feedback der Teilnehmer:innen gibt Dänner recht, für viele ist „Sprechen & Zuhören“ so etwas wie eine Befreiung. „Danach geht es mir besser“, „Wie wohltuend, mal frei sprechen zu können“, „Nur zuhören – berührend, dass das geht.“

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Natürlich sollte es nicht unbedingt beim emotionalen Austausch allein bleiben. Eine Kultur des Miteinanders braucht beides: Gefühl und Verstand. Die Kombination wird seit einigen Wochen erprobt: Erst eine Runde „Sprechen & Zuhören“, dann ist der Boden der Verständigung bereitet für eine sachliche Diskussion mit Vorträgen und Argumenten im bewährten Debattenformat „Mehr Demokratie im Gespräch“.

Change Clubs: Zusammen für weniger Emissionen

Daniel Klein ist gerade mittendrin in den Verhandlungen über die Zukunft der Welt. Die Sonne steht gleißend über Scharm el-Scheich, im Hintergrund dröhnt der Lärm der 27. Weltklimakonferenz, Klein kneift ein wenig die Augen zusammen und grüßt über Facetime. Hier packt der Umweltjurist für die UN mit an, zu Hause wartet sein eigenes Projekt für mehr Klimaschutz: Change Clubs für ein klimafreundliches Leben nennt sich die Idee und sie setzt auf die Kraft der Gemeinschaft. „Nur zusammen bringen wir wirklich Veränderungen in Gang“, sagt Daniel Klein. „Und es macht mehr Spaß.“

Die Funktionsweise der Clubs vergleicht er mit den Weight Watchers: Du bekommst eine Struktur, einen Leitfaden und schließt dich zu einer Kleingruppe mit bis zu 15 Menschen zusammen, die sich alle 14 Tage trifft und gegenseitig unterstützt. Klein und sein Team stellen ein Starter Kit zusammen, eine Art Jahresplan für den CO2-Entzug, gestaffelt nach Themen. April: Mobilität, Mai: Kleidung, Juni: Ernährung, Juli: Biodiversität schützen und so weiter. Dazu gibt es Impact-Tipps – welche Maßnahme bringt wie viel –, Kurzschulungen für die Change Club-Gründer:innen und regelmäßige Beratung vom Change Club-Team. Wie vernetzen wir uns besser, wie motivieren wir die anderen, was tun, wenn es mal hängt? Im Januar sollen die ersten Clubs in Bonn, Köln, Berlin, im spanischen Alicante und in verschiedenen Städten in Costa Rica starten. Finanziert wird das Projekt mit 14.000 Euro aus einer Crowdfunding-Kampagne und dem Preisgeld aus dem Förderprogramm „Mitwirken“, mit dem die Hertie-Stiftung den Zusammenhalt in der Demokratie pushen will. „Im ersten Schritt fördern wir individuelles Verhalten“, sagt Klein, „im zweiten wollen wir die Politik aufmischen. Denn wenn so viele etwas ändern, zeigt das: Wir sind bereit, jetzt seid ihr dran.“ Also, wie wär’s? Gründe einen Change Club.

Demokratie-Initiativen: Jugendgemeinderat und Starkes Dorf

Wahrscheinlich würden viele an der Gemeinde Muldestausee in Sachsen-Anhalt, gleich um die Ecke von Bitterfeld, einfach vorbeifahren. Stop, es lohnt sich anzuhalten: Hier entscheiden nicht nur die Erwachsenen über Alltag und Zukunft der knapp 12.000 Einwohner:innen, sondern auch die Jugendlichen. Seit 2018 gibt es einen Jugendgemeinderat mit 14 Mitgliedern, der die Interessen der 1.000 Jugendlichen in den 13 Örtchen der Gemeinde vertritt, Antrags-, Rederecht und eigenes Budget inklusive, verankert in der Satzung. Kandidieren können alle zwischen 12 und 25 Jahren. Mit viel Geduld hatte Bürgermeister Ferid Giebler 2017 die Gemeinderatsmitglieder überzeugt: Lasst uns Macht abgeben an die Jungen, das stärkt Gemeinschaft und Miteinander – und verändert das Gesicht der Gemeinde.

Heute gibt es legale Flächen für Sprayer:innen, Kino-Abende, Netzwerktreffen zwischen Jugendlichen der Ortschaften, Skateanlage, Fitness-Parcours und Mini-Agora sind am Ortsrand von Pouch im Bau, Kletterfelsen und eine Wetterschutzhütte sollen folgen. Inzwischen packen Junge und Ältere bei Müllsammelaktionen, Ferienprogrammen und Marathonläufen gemeinsam mit an. Weil es so gut läuft, ziehen andere in der Region nach: Die Stadt Zörbig baut gerade einen Jugendstadtrat nach Muldestausee-Vorbild auf, auch Orte wie Sandersdorf-Brehna oder Bad Schmiedeberg entwickeln mehr Beteiligungsmöglichkeiten für junge Bürger:innen.

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Mehr Power für kleine Ideen

Was macht man mit Menschen auf dem Land, die tolle Ideen für die Gemeinschaft haben, aber kein Geld, um sie zu verwirklichen? „Man füllt diese Lücke“, sagt Martina Schaad, Leiterin des Referats Ländliche Räume, Regionalpolitik und Beteiligung in der Hessischen Staatskanzlei. Denn zum einen beginnen Projektförderungen oft erst ab 10.000 Euro, viel zu viel für kleine Projekte. Zum anderen müssen laut Landeshaushaltsordnung in Hessen wie in vielen anderen Bundesländern normalerweise Projekte, die Fördergelder bekommen, einen eigenen finanziellen Beitrag leisten. Doch das Geld ist meist nicht da – die Förderung kommt nicht zustande.

Das Programm „Starkes Dorf – Wir machen mit“ der Hessischen Landesregierung macht es anders: 1.000 bis 5.000 Euro jährlich gibt es für ein genehmigtes Projekt, fix mit wenigen Klicks zu beantragen auf der Website, ohne Stichtage, sondern laufend jeweils bis September eines Jahres. „Wie die Leute es brauchen“. Seitdem florieren die kleinen Ideen im Land. Grillhütten und Backhäuser, Tracks für Mountainbikes und gemütliche Bänke auf dem Dorfplatz. 651 Projekte, 2,5 Millionen Euro Finanzspritze in den vergangenen fünf Jahren. Und wo das erste Projekt läuft, entstehen oft neue Initiativen.

Lust auf mehr wir?

Menschen, könnte man sagen, sind so etwas wie Flachwurzler. Diese Gattung, Mammutbäume etwa, schiebt ihre Lebensadern nicht in die Tiefe, sondern streckt sie in die Breite aus – um sich mit den Wurzeln der Nachbarn zu verbinden und ein Leben lang gegenseitig zu stützen. Nicht ihre Größe, sondern diese Kooperation macht sie stark und lässt sie selbst die stärksten Stürme überstehen. Im Grunde ticken wir Menschen genauso, schreibt Ulrich Schnabel, nur sei die „Fähigkeit, sich als Teil eines großen Netzwerks zu begreifen und darauf auszurichten,“ etwas in Vergessenheit geraten. Zeit, sie wiederzubeleben. Wie man dabei Schwarmdummheit vermeidet, demokratisches Miteinander anzettelt oder ein ungewöhnlich leckeres Konversationsmenü anrichtet, verrät dieses inspirierende, kluge Buch über die Kraft des Gemeinsinns, mit dessen Hilfe jede:r Einzelne erstaunlich viel bewegen kann. Ulrich Schnabel: „Zusammen. Wie wir gemeinsam globale Krisen bewältigen“, Aufbau 2022, 23 Euro

Illustration: imago images / ikon images

Ansätze,  die demokratische Kultur zu stärken. gibt es landesweit überall (Symbolbild).

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