Klimakrise, Kriege, Rechtsruck – die Demokratien in Europa sind unter Druck. Rechtspopulistische Parteien gewinnen überall an Bedeutung, in Ländern wie Ungarn oder Italien stellen sie die Regierung. Auch die Konflikte innerhalb der Gesellschaften nehmen zu. Was ist da los?
Jürgen Neyer: Europa steht vor einer Reihe grundlegender politischer Entscheidungen: Wie soll die Migrationspolitik aussehen, wie lässt sich die Aufnahme von Geflüchteten gerechter verteilen? Da gibt es gewaltige Widerstände von Staaten wie Ungarn oder Polen. Auch der Krieg in der Ukraine stellt vieles infrage. Wenn Deutschland den Rüstungsetat massiv nach oben fährt, wird es langfristig militärisch eine größere Rolle spielen müssen …

… ein Novum seit dem Zweiten Weltkrieg …
Neyer: … ja, und es ist völlig unklar, wie das politisch auszubalancieren ist. Doch letztlich geht es nicht um die Inhalte, sondern wir stehen heute mit einer Vehemenz wie lange nicht mehr vor der Grundsatzfrage: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Soll es eine offene pluralistische Gesellschaft sein oder empfinden wir das als zu bedrohlich? Es geht um die Seele unserer Demokratien.
Sind unsere Demokratien in Gefahr?
Neyer: Das weiß man immer erst nachher. Die Demokratie ist eine Herrschaftsform, die davon abhängt, dass die Bürger:innen sie als legitim betrachten. Und diese Legitimität ist heute umstrittener, als sie es in früheren Dekaden war. Es gibt derzeit fundamentale Probleme mit der Demokratie, auf die wir bisher noch keine Antworten gefunden haben.
Zum Beispiel?
Neyer: Klimakrise. Wie können wir die Interessen der zukünftigen Generationen angemessen in unseren politischen Prozessen vertreten? Ich habe selbst vier Kinder, wo sind die repräsentiert? Habe ich fünf Stimmen deswegen? Nein. Und selbst wenn: Wie soll die Politik langfristige Entwicklungen gut steuern, wenn sie nur kurzfristig auf vier, fünf Jahre gewählt ist? Zudem entscheiden Demokratien national, aber ihre Entscheidungen haben genauso Folgen für die Bürger:innen der Nachbarländer …
Egal ob es um Kohlekraft geht oder um Migrationspolitik …
Neyer: … ja, und solche „externen Effekte“, wie wir das in der Politikwissenschaft nennen, müssten wir dringend systematisch in die politischen Prozesse einbeziehen. Die Europäische Union ist ein Versuch. Sie schafft ja einen Raum, in dem die Mitgliedstaaten wechselseitig Pflichten eingehen müssen. Aber leider gleicht sie einem Fahrrad mit Platten: nur bedingt einsatzfähig. Sie ist nicht demokratisch genug und steckt viele Staaten finanzpolitisch in eine Zwangsjacke – ohne gleichzeitig für soziale Umverteilung sorgen zu können. Trotzdem brauchen wir dieses platte Fahrrad, weil der Nationalstaat nicht mehr ausreichend greift.
Wo liegt das Problem?
Neyer: Die EU ist so gestrickt, dass alle Entscheidungen möglichst niemanden schlechter stellen sollen. Wie soll das gehen, wenn man zum Beispiel sozialen Ausgleich herstellen will, der so nötig ist für die Befriedung der Gesellschaften? Natürlich muss man irgendjemandem etwas wegnehmen, damit man es anderen geben kann. Zwar kann die EU im Einzelfall beschließen, einen Staat mit zusätzlichen Mitteln zu unterstützen, wie es beim Rettungsschirm der Fall war. Aber grundsätzlich kann sie nicht umverteilen, also etwa ähnliche Rentenhöhen festlegen oder ein einheitliches Bürgergeld. Sozialpolitik ist Sache der Mitgliedstaaten. Und in den meisten zentralen Fragen können Entscheidungen nur einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden. Das ist dramatisch, weil sich die politischen und ökonomischen Systeme der Mitgliedstaaten gleichzeitig immer stärker miteinander verweben. Deshalb sind die multiplen Krisen jetzt so schwer zu lösen und führen zu viel Unmut bei den Bürger:innen.
Daher auch der Rechtsruck in unseren Gesellschaften?
Neyer: Der Rechtsruck ist massiv, ja. Das haben wir gerade bei den Wahlen in den Niederlanden gesehen, wo Rechtspopulist Geert Wilders stärkste Kraft wurde. Aber ich bin skeptisch, ob das wirklich ein Rechtsruck ist, in dem es nur um parteipolitische Inhalte geht. Dahinter steht eher der wachsende Frust über die Versprechungen der pluralistischen Gesellschaft: dass alle gehört werden, alle mitgestalten können, alles möglich ist. Immer mehr Menschen halten dieses Versprechen für unglaubwürdig, von Schweden bis Italien, von Frankreich bis Deutschland. Sie sind sauer: Was ist das für ein blödes System, das gar keine inhaltlichen Alternativen mehr anbietet? Die etablierten Parteien stehen ja alle mehr oder weniger für das liberale europapolitische Projekt. Auch die Partei von Sahra Wagenknecht kann daher bequem von den rechten und linken Rändern fischen.
Frau Fröhlich, Sie beschäftigen sich gerade mit der Demokratie in der Klimakrise. Drohen unsere Demokratien daran zu scheitern?
Paulina Fröhlich: Ja, die Gefahr besteht. Ich sehe vier Spannungsfelder zwischen Demokratie und Klima. Generation (mangelnder Einfluss der am meisten Betroffenen) und Gebiet (national versus global) haben Sie schon angesprochen, Herr Neyer. Das dritte Spannungsfeld ist die Gesellschaft selbst. Die Klimakrise berührt alle gesellschaftlichen Bereiche, liberale Demokratien aber unterscheiden zwischen öffentlichem und privatem Feld. Eigentum steht unter Schutz, Eingriffe bedürfen einer besonderen Legitimation. Aber ohne wird es kaum gehen. Schließlich die Geschwindigkeit. Demokratische Prozesse dauern bisweilen lange, weil sie unterschiedliche Interessen berücksichtigen, Kontrollen, Klagen und Widerspruch beinhalten. Diese Spannungsfelder müssen mit klugen Instrumenten entspannt werden. Indem sich etwa „Gruppen der Willigen“ grenzüberschreitend zusammenschließen und handeln, statt sich von Blockierer:innen bremsen zu lassen. Zum Beispiel für gemeinsame Klimaschutzauflagen.

Sind Demokratien dann überhaupt in der Lage, die Klimakrise unter Zeitdruck zu bewältigen?
Fröhlich: Sie sind das beste Format überhaupt, um große Krisen anzugehen. Gerade weil die Demokratie die einzige Staatsform ist, die unterschiedliche Bedürfnisse so gut wie irgend möglich einpreist. Würde über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden und gehandelt, ginge es vielleicht schnell, jedoch wäre das Ergebnis kein nachhaltiges. Früher oder später würde der Umut der Übergangenen die Politik torpedieren. Das heißt aber nicht, dass unsere Demokratie in idealer Verfassung wäre, um der Klimakrise zu trotzen. Geschwindigkeit muss zum Beispiel her, aber nicht überall. Schnellere Verwaltungsakte, mehr Zeit für Beteiligung.
Nach einer Studie der Uni Bielefeld ist innerhalb von zwei Jahren das Vertrauen in die Demokratie von 60 auf 30 Prozent zurückgegangen. 8 Prozent haben ein rechtsextremes Weltbild, mehr als doppelt so viele wie 2021.
Neyer: Der Zuspruch für extreme Parteien ist in der Tat drastisch gestiegen. Gleichzeitig wandern inhaltliche Positionen, die ursprünglich mal am linken und rechten Rand des politischen Spektrums zu finden waren, in die Mitte. Was heute von SPD und Grünen in der Migrationspolitk gesagt wird, hätte man vor 20 Jahren nicht mal bei der CDU für möglich gehalten. Bearbeitungszentren für Asylanträge vor den europäischen Grenzen einrichten zum Beispiel. Was passiert hier eigentlich? Das Verständnis von Demokratie selbst ist im Wandel: Muss ein liberaler Pluralismus wirklich integraler Bestandteil der Demokratie sein oder können wir uns auch eine illiberale Demokratie vorstellen? Ähnlich wie Ungarn. Das sagt ja nicht: Wir sind keine Demokratie. Es will eine andere, eine illiberale…
Gemeinsam abstimmen: Braucht unsere Demokratie mehr direkte Bürger:innenbeteiligung?