Schwerpunkt: Geil, Handwerk

Bohren statt Bachelor

In Deutschland gibt es mehr als doppelt so viele Studierende wie Auszubildende. Das muss sich ändern. Denn vor allem das Handwerk braucht dringend Nachwuchs für den klimagerechten Umbau der Gesellschaft.

Sie balancieren auf dem Glasdach des Berliner Olympiastadions und reparieren die Scheiben. Sie schneidern Operngewänder und Ballettkostüme für die Bühnen der Stadt. Setzen einen Regenspeicher aus Beton in den Boden des neuen Flughafens. Löten, schweißen, schneiden Metallbauteile mit Laser-Tech. Zimmern Dachstühle, reparieren E-Bikes, erneuern Heizungen, streichen Fassaden. Mitte September haben sich Dutzende Handwerker:innen zu einem digitalen Wimmelbild versammelt, hochgeladen auf der Website der Handwerkskammer Berlin: „Wir machen, was Berlin ausmacht!“

Es ist der Tag des Handwerks, einmal im Jahr findet er statt. Von Flensburg bis München, von Trier bis Görlitz. Damit die Menschen mehr hinschauen, was die 5,6 Millionen Beschäftigten der Handwerksbetriebe Deutschlands alles leisten. 53 Handwerkskammern trommeln für ihre Zukunft, organisieren Baustellenrundgänge, Betriebe öffnen Werkstätten, Verbandsvertreter:innen touren durch die Talksshows der Republik. Im Mitteldeutschen Rundfunk schwärmt Jörg Dittrich, Dachdeckermeister und Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), wie schön es ist, „wenn man auf dem Dach das Wetter riecht“. Die Botschaft: Handwerk ist herrlich, Handwerk ist wichtig.

Aber was ist das eigentlich genau, Handwerk? So klar ist das für viele heute nicht mehr. Wo Bäckereien wie Kamps zu industriellen Ketten geworden sind, wo Elektroniker:innen auch in Großfabriken mit anpacken, scheint die Definition zu verwässern. Da hilft ein Blick ins juristische Regelwerk: Formal beschreibt der Begriff zugleich einen Berufsstand und eine Organisationsform der gewerblichen Wirtschaft. Rechtlich gehören zum Handwerk alle Betriebe, die in der Handwerkskammer eingetragen sind. Die Handwerksordnung legt fest, was Handwerker:innen eines Gewerbes dürfen und was nicht, strukturiert die Berufsausbildung, gibt Regeln für Gesellen- und Meisterprüfungen vor. 130 der 327 Ausbildungsberufe, die in Deutschland anerkannt sind, werden dem Handwerk zugeordnet. Von Augenoptik bis Zupfinstrumentenbau.

Handwerksstolz und Kulturerbe

Genauso wichtig ist die soziologische, kulturelle Ebene. „Das Handwerk beschreibt eine breite Wirtschafts- und Gesellschaftsgruppe, die sich über gemeinsame Haltungen definiert“, so Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Bonn. „Dazu gehört die Überzeugung, dass aus einer guten Qualifikation ein gutes Produkt entsteht, mit dem man sich identifiziert.“ Handwerksarbeit statt Massenproduktion, gefertigt meist in kleineren Betrieben und für eine eher regionale Kundschaft. Von „Handwerksstolz“ sprechen Wirtschaftshistoriker wie Benjamin Schulze. Er hat an der Uni Göttingen über das Thema promoviert und vor drei Jahren die Wanderausstellung „Handwerkswissen – Kulturerbe mit Zukunft“ organisiert. „Bis heute erwerben Handwerker:innen ihr Wissen zu einem großen Teil durch Erfahrung, die Tradition und Innovation verknüpft“, sagt Schulze. Kleine Handgriffe ausführen, dabei Stück für Stück das Gefühl für den optimalen Winkel, die ideale Biegung eines Materials verinnerlichen und stetig optimieren. Schulze: „So entsteht in vielen, vielen kleinen Schritten Innovation – und eben jener Handwerksstolz auf die eigene Leistung, das selbst gefertigte Produkt. Eine befriedigende Arbeit.“

Auch auf eine gut sortierte Werkstatt kann man stolz sein, Foto: Charlotte Köhncke

Wie wichtig das Handwerk für die Wirtschaft ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Eine Million Handwerksbetriebe gibt es in Deutschland. 95 Prozent sind Familienunternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitenden. Und doch ist das Handwerk gemessen am Umsatz ein Riese, 735 Milliarden Euro machte es nach ZDH-Angaben 2022, das sind 8,1 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der Republik. Mehr als zwölf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland arbeiten in dem Sektor.

Doch trotz Wirtschaftspower und Schönheit der Tradition: Das Handwerk steckt in der Klemme. Mehr als 30.000 Ausbildungsplätze sind nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit derzeit unbesetzt, die Zahl der Auszubildenden geht zurück. Jeder zweite Ausbildungsplatz im Handwerk bleibt unbesetzt. Nach Berechnungen des Komptenzzentrums Fachkräftesicherung (Kofa) in Köln fehlen etwa 250.000 fertige Handwerks-Profis. Engpässe gibt es vor allem im Bausektor, bei Sanitär-, Elektro- und Heizungsberufen und im Gesundheitshandwerk von Augenoptik bis zu Zahntechnik. Gerade in ländlichen Regionen sind – mit starken regionalen Unterschieden – Fachkräfte knapp.

„Bis 2060 wird die erwerbsfähige Bevölkerung um etwa sechs Millionen schrumpfen“, sagt Alexander Kubis vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. „Die Lücke lässt sich nicht durch Zuwanderung aus dem Ausland allein auffangen.“ Zumal in den nächsten fünf Jahren die Schrumpfung geballt auf die Betriebe knallt. Kubis: „Wenn die Babyboomer in Rente gehen, werden auf einen Schlag Tausende Stellen frei, das gab es zuvor noch nie.“ In 125.000 Handwerksbetrieben wird der Chef:innensessel frei, wenn niemand das Ruder übernehmen kann, steht schnell die Existenz auf dem Spiel.

Expert:innen wie Kubis sprechen von den drei großen D – Demografie, Digitalisierung, Dekarbonisierung. Kubis: „Die Bevölkerung schrumpft, die Digitalisierung verändert viele Berufe völlig, die Dekarbonisierung schafft neue Aufgaben und erfordert neues Know-how.“ Besonders im Handwerk. Denn wie soll der klimagerechte Umbau der Gesellschaft gelingen, ohne Menschen, die Windräder aufstellen und Solarpaneele installieren können; die Gebäude sanieren und ihre smarte Energiesteuerung überwachen; die E-Autos und hochtechnisierte Landmaschinen warten; die für eine klimaschonende Nahrungsmittelproduktion sorgen; die Brunnen für Geothermie bohren und CO2-neutrale Antriebe für Wasserkraft bauen? Allein im Solarsektor werden nach einer Studie der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin bis 2035 eine Viertelmillion Fachkräfte fehlen. Der Zentralverband der Deutschen Elektro- und Informationstechnischen Handwerke (ZVEH) meldet knapp 90.000 offene Stellen. In den nächsten Jahren werden 160.000 zusätzliche Fachkräfte benötigt, schätzt der ZVEH.

Ausbildungsberufe lohnen sich, auch finanziell

Wo bleibt der Nachwuchs? Handwerksberufe stehen bei der Berufswahl von Schulabsolvent:innen nicht oben auf der Wunschliste. Die Verbände sehen die Ursache vor allem in einem „Akademisierungswahn”, wie es schon vor zehn Jahren der Bildungsforscher Julian Nida-Rümelin in seinem gleichnamigen Buch nannte. Die Idee der 1970er-Jahre, alle Kinder zu möglichst hohen Abschlüssen zu führen, habe einen Strukturwandel angestoßen. „Die Kopfarbeit rückte in den Vordergrund”, erinnert sich BIBB-Präsident Esser. Werkunterricht oder handwerkliche Bildung wurde in vielen Lehrplänen gestrichen, Abitur zum Bildungsziel Nummer eins, verbunden mit dem Versprechen: Jede:r kann es nach oben schaffen. Die internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) pushte die Förderung des Abiturs als Fundament der Wissensgesellschaft. Esser: „Die berufliche Bildung verlor schleichend an Anerkennung“ – die Studierendenzahl stieg rasant. 1950 kamen laut Statistischem Bundesamt auf zehn Studierende noch 75,5 Lehrlinge in dualer Ausbildung, 2021 waren es nur noch 4,3. Dabei gilt das System der dualen beruflichen Bildung in Deutschland mit seinem Mix aus Praxis im Betrieb und Theorieunterricht in der Berufsschule weltweit als führend. Auch die Bezahlung kann mithalten: Wer sich für einen Ausbildungsberuf entscheidet, verdient im Laufe seines Lebens im Schnitt so viel wie ein:e Bachelor-Absolvent:in.

„Doch der Blick auf berufliche Bildung und Handwerk ist bis heute in vielen Familien verloren gegangen“, so Bildungsforscher Esser, das belegen Studien des BIBB. „Und wenn Eltern die Handwerkswelt nicht selbst kennen, ziehen sie diese Berufe für ihre Kinder meist nicht in Betracht. Lieber Abitur machen – und damit alle Möglichkeiten offenhalten.“ Zumal die Forschenden ebenso herausgefunden haben: Eltern sind so wichtig für die Berufswahl ihrer Kinder wie nie zuvor. Esser: „Mit Mutter und Vater zur Berufsberatung oder gar in die Universtität? Das wäre vor 30, 40 Jahren noch ein No-Go gewesen. Heute ist es Usus.“

Die  Karriereleiter wird oft mit akademischen Berufen verknüpft – doch warum? Foto: Charlotte Köhncke

Unumstritten ist die Akademisierungsthese allerdings nicht. Sicher, nach Angaben des Statistischen Bundesamtes macht heute gut die Hälfte eines…

Foto: Unsplash / Haupes

Nachwuchs gesucht: Mehr als 30.000 Ausbildungsplätze sind derzeit unbesetzt.

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In Deutschland gibt es mehr als doppelt so viele Studierende wie Azubis. Dabei hat das Handwerk viel zu bieten. Abwechslungsreiche, spannende Jobs mit Sinn in Betrieben, die oft moderner sind, als unser Bild von ihnen.

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