Julius Heinicke und Lisz Hirn im Gespräch

„Scheitern gehört zur Kunst“

Frederick, die Maus, sammelt Geschichten, während alle anderen Mäuse Vorräte für den Winter anlegen. Erst als unproduktiv verlacht, werden seine Erzählungen zum Überlebenselixier für die Mäusegesellschaft, als Ende des Winters alle Nahrungsvorräte verbraucht sind. Selten hat jemand die Rolle der Kultur auf eine so schöne Formel gebracht wie Leo Lionni in seinem Kinderbuch Frederick. Doch wie ist es in der pandemischen Realität des Jahres 2021 um die Rolle der Kultur in unserer Gesellschaft bestellt? Was hat sich durch die Krise verändert? Eine Erkundung mit dem Kulturwissenschaftler Julius Heinicke und der Philosophin Lisz Hirn.

Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn man ihrer Kultur von einem Tag auf den anderen den Saft abdreht?

Lisz Hirn: Das ist natürlich ein Schock. Aber zunächst ging es politisch stark um die Frage: Wie überleben wir? Deshalb standen die Naturwissenschaften im Vordergrund. Kultur und Kunst dagegen suchen nach Antworten auf die Frage nach dem Wozu. Wozu wollen wir überhaupt überleben? Was macht unser Leben zu einem guten? Dieses Wozu ist lange völlig aus dem Blickfeld geraten. In der Pandemie musste ich immer wieder an Sigmund Freuds Schrift Das Unbehagen in der Kultur denken: Das Leben, schreibt er sinngemäß, ist unerträglich und wesentlich zu schwer für uns, und um es zu ertragen, brauchen wir Linderungsmittel. Ich selbst hätte die Pandemie nie überstanden ohne Bücher, ohne Filme, ohne all die Künstler:innen, die kreativ ins Digitale ausgewichen sind. Umso mehr habe ich mich immer wieder gefragt: Was sind unsere Linderungsmittel? Und wie lange halten wir durch, wenn wir dieses Wozu so sehr an den Rand schieben?

Julius Heinicke: Zumal ja tatsächlich sichtbar wurde, dass wir solche Krisen letztlich nur mithilfe von Kunst und Kultur bewältigen können. Gleich zu Beginn trafen sich die Menschen auf einmal zu Chören auf den Balkonen. Obwohl die Kultur runtergefahren wurde, haben weite Teile der Gesellschaft also implizit Kultur eingefordert, und zwar keineswegs nur die Kulturschaffenden. Interessant, denn gleichzeitig wurde diskutiert, ob Kultur systemrelevant ist oder nicht. Ganz klar: Vielleicht ist sie nicht systemrelevant, aber lebensnotwendig.

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Hirn: Die Frage ist: Wer bewertet, was systemrelevant ist und was nicht? Systemrelevanz wird immer an Leistung gemessen. Dass Kultur wichtig ist, um das gute Leben zu sichern, zählt nicht. Wenn’s uns gut geht, gibt’s Kultur on top, wenn die Wirtschaft wackelt, läuft sie unter ferner liefen. Selbst die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Kultur wird nicht anerkannt. Warum eigentlich? Vier Prozent der Wirtschaftsleistung in Österreich werden im Kreativsektor erarbeitet, circa 20 Milliarden Euro jährlich. Außerdem schafft Kultur Arbeitsplätze. Hätte Salzburg die Festspiele 2020 abgesagt, stünde es heute wirtschaftlich nicht so viel besser da als viele andere Städte seiner Größe.

Lisz Hirn

… ist Philosophin, Publizistin, Dozentin für Jugend- und Ewachsenenbildung. In ihrem Podcast „Philosophieren mit Hirn“ beschäftigt sich die Österreicherin mit Philosphie und Kunst im Alltag.

Viele Kulturschaffende beklagen die mangelnde Unterstützung, auch aus der Gesellschaft, und fragen: Wenn euch Kultur so wichtig ist, wieso lasst ihr uns im Stich?

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Hirn: Mein Verdacht ist, dass in vielen Köpfen noch immer dieses alte Narrativ von Künstler:innen aus Leidenschaft steckt. Die Konsequenz: Denen muss man gar nicht viel zahlen, die machen das ja sowieso. Als käme Kunst aus dem Nichts. Dass jahrelange Ausbildung und unendlich viel Arbeit hinter künstlerischer Arbeit stehen, wird von vielen kaum gesehen. Weder von der Politik noch vom Publikum. In der Pandemie gab es ein permanentes Ringen der Kulturschaffenden mit der Zahlungsbereitschaft des Publikums. Werden die Leute für das digitale Konzert zahlen? Wie viel? Es wurde mit hybriden Formaten experimentiert oder mit Digitalveranstaltungen, die nur kurzzeitig abrufbar waren. Auch, um irgendwie den Preis zu rechtfertigen.

Heinicke: Der Legitimationsdruck der Kulturschaffenden war tatsächlich auffällig. Am Anfang der Krise haben viele Künstler:innen wahnsinnig viel produziert und nahezu verzweifelt versucht, irgendeinen Mehrwert zu demonstrieren. Jedes Theater, jede Oper hat schnell etwas online gestellt. Aber Kultur muss keinen wirtschaftlichen Mehrwert schaffen. Kultur ist auf anderer Ebene für alle Bereiche der Gesellschaft wichtig, indirekt auch für die Wirtschaft – etwa, damit sich Arbeitnehmer:innen wohlfühlen und Tourist:innen in die Städte kommen, was die Zentren belebt und die Wirtschaft ankurbelt. Uns fehlt das Bewusstsein für die fundamentale Bedeutung des Kunstschaffens für eine gesunde Gesellschaft. Warum kommt etwa unter den 17 Sustainabilty Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen nirgendwo Kultur vor, höchstens indirekt als Schutz des Kuturerbes?

Wo sehen Sie die Leistung der Kultur in der Krise?

Hirn: Da ist schnell neue Kreativität entstanden, etwa online. Krisen haben Kulturschaffende in der Geschichte immer inspiriert – mit der Gefahr zu scheitern. Aber das Scheitern gehört zur Kunst. Deshalb braucht die Kulturpolitik gerade jetzt mehr Mut, auch Scheitern zu finanzieren. Und wir dürfen nicht vergessen: Auch die Naturwissenschaften leben von Versuch und Irrtum. Bei der Kunst ist es nicht anders.

Heinicke: Auf der institutionellen Ebene gab es in der Kunst vielleicht eine Stille. Aber auf der menschlichen sehe ich das nicht. Kultur hat uns geholfen, mit Einsamkeit umzugehen, mit dem Sterben. Wer allein oder in der Familie malen oder singen, sich Spiele ausdenken oder kreativ Freude teilen konnte, kam leichter durch die Krise. An unseren Schulen wird kulturelles Handeln zu wenig gelehrt. Das müssen wir ändern.

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Das meint aber die Fähigkeit der Menschen, selbst Kultur zu machen, nicht die Rolle der Kulturschaffenden.

Heinicke: Man kann beides nicht scharf trennen. Es gehört zur Aufgabe von Kulturschaffenden, eine möglichst breite Bevölkerung zu kulturellem Handeln zu inspirieren. Es wird immer wichtiger, dass Künstler:innen schauen: In welchem Umfeld bewege ich mich? Wie kann ich mit meiner Arbeit einen Bezug zu den Menschen herstellen? Viele Menschen haben keinen Zugang zur Kultur. Und wer noch nie im Theater war, klickt sich vermutlich seltener in ein Onlinekonzert. Manche Bevölkerungsgruppen waren plötzlich von der Kultur abgeschnitten. Bewohner:innen von Seniorenheimen oder aus benachteiligten Milieus etwa. Kulturveranstaltungen wurden abgesagt, Kunst- und Musikvermittlung an Schulen entfiel. Jetzt werden wir sehen, wie viele wir hier zurückgelassen haben.

Müssen wir also unseren Kulturbegriff überdenken?

Heinicke: Absolut. Das betrifft auch die Rolle der Institutionen. Zu Recht haben sie eine dominante Rolle in der Diskussion über die Lage der Kulturschaffenden gespielt. Aber ihre Verantwortung reicht weiter. Sie müssen sich fragen: Für wen sind sie da, wen beziehen sie ein, welchen Kanon spielen sie warum? Kultur muss auch das Selbstverständnis der Gesellschaft verhandeln. Sind wir eine digitale, eine multikulturelle, eine diverskulturelle Gesellschaft? Wie vielfältig ist Kultur? Wer gehört dazu, wer nicht? Wer lehrt und studiert an den Universitäten? Wir sind auch als Publikum manchmal zu bequem, hinterfragen zu wenig. Die Krise ist die Chance, solche Fragen neu zu stellen.

Hirn: Es ist auch Zeit, die Kluft zwischen Kultur und Wissenschaft zu überwinden, zum Beispiel wenn es um Digitalisierung oder Robotik geht. Kunst vermag es, wissenschaftliche Themen in die Gesellschaft zu tragen und unbequeme Fragen so aufzuwerfen, dass sie besprechbar werden. Die französische Künstlerin Justine Emard etwa beschäftigt sich mit der Schnittstelle von Kunst, Kultur und Technik. Sie lässt Tänzer:innen mit Robotern tanzen, damit sie von ihnen lernen. Kultur-politisch werden solche Ansätze kaum beachtet, aber das Interesse junger Menschen ist groß. Sie haben verstanden: Hier werden wichtige Zukunftsfragen debattiert.

Herr Heinicke, Sie forschen  zum Kulturbegriff in Afrika. Welche Rolle spielte die Kultur dort in der Pandemie?

Heinicke: In Südafrika und Simbabwe etwa waren Künstler:innen sofort in einer existenziellen Notsituation. Trotzdem waren die Straßen sehr schnell voller Performances, Spoken-Word-Veranstaltungen und Poetry Slams. In Südafrika ist die alltagsverbundene Kultur stark etabliert, kulturelles Handeln wird schon in der Schule vermittelt. Nach dem Ende der Apartheid wurde gemeinschaftliches künstlerisches Arbeiten zum Schlüssel für die „Rainbow Nation“ – um auszuhandeln, wie die Gesellschaft gesellschaftliche Vielfalt leben will. In der Krise konnten alle daran anknüpfen.

Julius Heinicke

… ist Inhaber des Unesco-Lehrstuhls Kulturpolitik für die Künste in Entwicklungsprozessen an der Universität Hildesheim. Er forscht über Kulturarbeit in Afrika und kulturelle Bildung.

Zeit also, stärker auf andere Weltregionen zu blicken …

Heinicke: Unbedingt, und die Kultur macht es vor. Überall kommen gerade Künstler:innen online international zusammen. Es ist wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der radikale Neuanfang der Avantgarde von Expressionismus bis Dada lebte von Impulsen aus aller Welt. Es ist toll zu sehen, dass sich auch meine Studierenden immer mehr für transkulturelle Räume interessieren und Fragen aus anderen Regionen einbeziehen. Ich sehe darin eine Weiterentwicklung der Klimabewegung, in der es vor allem um Umwelt- und Naturschutz geht. Durch die Kultur wird die Umwelt-Debatte jetzt zu einer globalen gesellschaftlichen erweitert.

Hirn: Die Zoom-Meetings in der Krise haben viele getriggert, Neues auszuprobieren. Das ist toll und macht mich optimistisch. Gerade deshalb kommt jetzt eine harte Auseinandersetzung auf uns zu: der Streit zwischen einem Kulturverständnis, das auf der Idee einer Hochkultur als kulturellem Gedächtnis einer Gesellschaft und ihren großen Institutionen fußt – und einer experimentellen Kunst, die sich als soziale, politische Intervention begreift. Diese Formen werden sich stark reiben, gerade wenn es um Geld und Unterstützung geht. Beide haben ihre Berechtigung, wir müssen uns mit beiden auseinandersetzen und sie wertschätzen.

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Wo wird die Kultur in einem Jahr stehen?

Hirn: Wenn wir das sagen könnten, wäre es keine Kunst. Kunst lebt vom Unerwarteten, die Krisenbewältigung wird unerwartete Formen hervorbringen. Sicher ist: Unser Zugang zur Kultur wird sich geändert haben.

Heinicke: Das hängt vom Mut zum Experiment ab. Nach einer Phase des Enthusiasmus beginnt die kreative Arbeit: Wir denken Kultur neu. Wenn die Gesellschaft der Kunst Rückendeckung gibt, und sie sich – mit dem Risiko zu scheitern –  ausprobieren kann, wie die Avantgarde vor hundert Jahren, dann haben wir eine Chance, einen neuen Weg einzuschlagen.

Bild: die Hoffotografen, Inge Prade

Der Kultur- und Kunstbranche wurde unter der Pandemie der Saft abgedreht. Was das mit ihr und der Gesellschaft gemacht hat, fragen wir Kulturwissenschaftler Julius Heinicke und die Philosophin Lisz Hirn.

Anja Dilk

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