Lange Zeit galt materieller Wohlstand als Maßstab für ein gutes Leben. Bereits im 18. Jahrhundert erhob der britische Ökonom William Petty Daten über die Bevölkerung, mit denen er statistische Berechnungen durchführte. So entdeckte er den Zusammenhang zwischen der Wirtschaftskraft eines Landes und der Lebensqualität der Bevölkerung: Die Geburtsstunde des Bruttoinlandsprodukts, BIP. Heute bezeichnet das BIP die Wirtschaftsleistung eines Landes gemäß aller in einem Jahr produzierten Güter, Waren und Dienstleistungen abzüglich Vorleistungen. Für Staaten ist das BIP eine wichtige Größe, um den Wohlstand ihrer Bevölkerung einzuschätzen. Teilt man es durch die Einwohner:innenzahl, erhält man das BIP pro Kopf, ein Messwert, der materiellen Wohlstand international vergleichbar macht.
Mit dem BIP geht die Idee eines unendlichen Wirtschaftswachstums einher. Doch die Klimakrise und die begrenzte Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen zeigen, dass diese Vorstellung längst nicht mehr tragbar ist. Daher versuchen immer mehr Forschungsinstitute und nationale Regierungen, gutes Leben mit weiteren Indikatoren zu erfassen.
Ein prominentes Beispiel ist Bhutan: Bereits 1972 hatte der damalige König Jigme Singye Wangchuck gesagt: „Das Bruttonationalglück (BNG) ist wichtiger als das Bruttoinlandsprodukt.“ 2008 wurde das BNG als neue Messgröße verabschiedet. Seitdem steht für Bhutans Regierung offiziell das Glück der Bevölkerung im Fokus.
Aber wie misst man Glück oder Lebensqualität? Am Wellbeing Research Centre der University of Oxford beschäftigt sich Caspar Kaiser mit dieser Frage. Er erklärt das reguläre Vorgehen von Forschungsinstituten in ihren Studien: „In einer repräsentativen Umfrage fragen wir die Proband:innen zuerst, wie glücklich sie momentan sind oder wie zufrieden mit ihrem Leben. Ihre Antwort geben sie auf einer Skala – meist von null bis zehn – an. Die subjektive Einschätzung der Teilnehmenden ist unsere Grundannahme. Darüber hinaus fragen wir die Proband:innen, ob sie eine Familie und ein festes Einkommen haben, wie hoch es ist, ob sie gesund sind und ihrer Umgebung vertrauen. Wir suchen nach Zusammenhängen zwischen diesen Faktoren und der individuellen Einschätzung der Proband:innen zu ihrem Glücksniveau.“
World Happiness Report: Glückszahlen
Ein Teil der Arbeit des Wellbeing Research Centre geht jährlich in den World Happiness Report (WHR) des Sustainable Development Solutions Network (SDSN) der Vereinten Nationen ein. Der Bericht umfasst unter anderem ein Ranking von rund 150 Staaten nach Glückniveau. Dieser „score of happiness“ ist ein Wert zwischen null und zehn und ergibt sich aus den von Kaiser beschriebenen Berechnungen. Die Daten stammen größtenteils vom Gallup World Poll. Das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Gallup führt jährlich die weltweit größte Befragung mit je 1.000 Proband:innen in 160 Ländern durch. Diese Stichprobe soll 99 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung repräsentieren.
Als das SDSN im März diesen Jahres seinen neunten Bericht veröffentlichte, hieß es: „Finnland ist das glücklichste Land der Welt.“ Seit 2018 führen die Finn:innen das Ranking an. Dieses Jahr liegt ihr Glückswert bei 7,889. Dichtauf folgen Dänemark (2016 auf Platz 1), die Schweiz (2015 auf Platz 1), Island, die Niederlande und Norwegen (2017 auf Platz 1). Diese Länder wechseln sich jährlich auf den ersten Rängen ab, die Unterschiede zwischen ihren Werten sind minimal. „Der exakte Rangplatz ist nicht so wichtig“, sagt Kaiser. „Wichtig ist, dass sie in den Top 5 sind. Das sind die Länder mit der weltweit höchsten Lebensqualität.“
Top 5 der glücklichsten Länder 2020
Für den World Happiness Report geben die Befragten eine persönliche Einschätzung ihrer Lebenszufriedenheit auf einer Skala von 0 bis 10. Zudem wird ihre Lebensqualität entlang mehrerer Variablen erfasst wie positive und negative Emotionen, BIP und sozialer Zusammenhalt.Bemerkenswert ist, dass all diese Staaten in Europa liegen, der Großteil im Norden des Kontinents. Kaiser sieht hier ein Muster: „Diese Länder haben ein starkes Wohlfahrtssystem, so ist das Gesundheitssystem kostenlos. Ihr politisches System ist stabil, die politischen Institutionen sind fest verankert. Die Menschen dort fühlen sich sicher und haben großes Vertrauen in ihre Umgebung. Zudem klafft die Schere zwischen Arm und Reich weniger auseinander als anderswo, beispielsweise in den USA. Dort ist das BIP zwar höher, doch es geht mehr Menschen schlecht.“ Die Vereinigten Staaten haben seit Jahrzehnten das höchste nominale BIP der Welt. Im World Happiness Report 2021 landen sie auf Platz 19. Im Vergleich: Unter den WHR-Top-5 haben die Niederlande und die Schweiz das höchste BIP und landen in einem Ranking des Internationalen Währungsfonds für 2021 auf Platz 17 und 18.
Natürlich liegt der materielle Wohlstand in diesen Ländern noch immer über dem globalen Durchschnitt. Doch die Werte zeigen, wie wenig das BIP über die Lebensqualität aussagt. Viele Forscher:innen plädieren daher für einen Systemwandel: Wirtschaftswachstum sollte nicht mehr das Ziel von Regierungen sein, sondern eines von vielen Mitteln, um Menschen ein gutes Leben zu garantieren.
Gut leben in Deutschland
Dieser Meinung ist auch Stefan Bergheim. Der Gründer des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt ist einer der wichtigsten Forscher zu Lebensqualität, Zukunft und Fortschritt in Deutschland. Er war auch Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Regierungsstrategie „Gut leben in Deutschland – was uns wichtig ist“. Unter diesem Namen hat die Bundesregierung im Frühling 2015 eine Reihe von Bürger:innendialogen in der gesamten Bundesrepublik durchgeführt. Etwa 18.000 Menschen nahmen entweder an einer der über 200 Veranstaltungen teil oder beantworteten eine Online-Umfrage.
Bergheim hatte damals die Hoffnung, dass in Berlin der Fokus stärker auf das Wohlbefinden der Menschen gelegt würde. Dem Zukunftsdialog war eine Enquetekommission vorausgegangen. Sie war 2009 vom Bundestag einberufen worden, um einen alternativen Indikator zum BIP zu entwickeln: eine umfassende Messgröße, die Wohlstand und Fortschritt Deutschlands wiedergibt. Die Kommission scheiterte. Mit „Gut leben in Deutschland“ wollte die Bundesregierung es nun besser machen. Mithilfe zahlreicher Indikatoren sollte die Lebensqualität der Deutschen gemessen werden. Zudem wurde ein Kritikpunkt Bergheims aufgegriffen: die mangelnde Kommunikation mit der Bevölkerung. Sie war in dem Bericht der Enquetekommission nicht zu Wort gekommen.
Doch das Projekt versandete. Die breite Öffentlichkeit nahm die Regierungsstrategie kaum wahr. Ab dem Sommer 2015, wenige Monate nach dem Beginn der Bürger:innendialoge, zog die Geflüchtetenkrise die komplette Aufmerksamkeit der Bundesregierung auf sich. Aber auch danach nahm die Strategie nie an Fahrt auf. Denn der interaktive Bericht, der laut dem Koalitionsvertrag von 2013 regelmäßig aktualisiert werden sollte, erhielt sein letztes Update 2018.
Bergheim vermutet, „dass die Ministerien nicht bereit waren, sich zusammenzusetzen und den nächsten Schritt zu tun: aus den Ergebnissen der Dialoge jene Indikatoren identifizieren, die besonders wichtig für die Lebensqualität der Menschen sind und wo großer Handlungsbedarf besteht“. Die Verantwortlichen hätten die Indikatoren weiterentwickeln und daraus konkrete Maßnahmen ableiten müssen. „Zudem hatte ich das Gefühl, die Ministerien wollten nicht kommunizieren – weder untereinander noch mit der Bevölkerung.“ Bergheim ist bewusst, dass es nicht Aufgabe der Verwaltung ist, auf diese Weise in Kontakt mit der Bevölkerung zu treten – sofern es nicht von der Regierung verlangt wird, wie im Zuge des Zukunftsdialogs. Doch er hält es für notwendig, um das Wohlbefinden der Menschen ins Zentrum des Staatshandelns zu rücken.
Lebensqualität als Ziel nationalen Wirtschaftens
In anderen Ländern funktioniert das besser. Beispiel Schottland. „Schottland hat ein National Performance Framework. Das ist so etwas wie die Verfassung Schottlands, die es ja in schriftlicher Form in Großbritannien nicht gibt. Sobald die Regierung etwas daran ändern möchte, konsultiert sie die Bevölkerung“, erzählt Katherine Trebeck. Die gebürtige Australierin lebt seit etwa 15 Jahren in Schottland und gibt der Regierung Empfehlungen, wie sie den nationalen Fokus stärker auf Lebensqualität und Gemeinwohl richten kann. Auch Wellbeing steht im Zentrum des National Performance Framework.
Trebeck ist Mitgründerin der Wellbeing Economy Alliance, der weltweit größten Bewegung von Organisationen und Regierungen, die sich für die Etablierung alternativer Wirtschaftssysteme wie der Gemeinwohlökonomie einsetzen. Teil der Kollaboration sind auch die Wellbeing Economy Governments (WEGo). Zu dieser Gruppe gehört Schottland gemeinsam mit Neuseeland, Island, Finnland und Wales. Trebeck sieht die WEGo als Orte des Austauschs und der Zusammenarbeit für Beamt:innen, die Lebensqualität zum Ziel nationalen Wirtschaftens machen wollen.
In sogenannten Policy Labs treffen sich Regierungsvertreter:innen der Mitgliedstaaten regelmäßig und tauschen sich über ihr Vorgehen aus. Trebeck sieht kleine Länder wie Schottland oder Finnland hier im Vorteil: „Für die Bevölkerung ist es einfacher, mit ihrer Regierung in Kontakt zu treten. Zudem können sie mehr experimentieren als große Länder – und dann ein Vorbild sein.“ So hat Wales seit 2016 eine Beauftragte für künftige Generationen. Mit London werden momentan Gespräche geführt, um diese Position auch dort zu etablieren.
Aktuell befinden sich die Mitgliedsstaaten in der Findungsphase – welche Maßnahmen funktionieren gut und wie kann die Systemänderung gelingen? Doch Trebeck meint, dass die Länder bereits jetzt ihr Vorhaben lauter verkünden sollten, damit die Idee hinter der Messung von Glück und gutem Leben weltweit bekannter wird.
Der „World Happiness Report” hat Finnland zum glücklichsten Land der Welt gekürt – und das bereits dreimal in Folge. Was macht die Finn:innen so zufrieden und wie steht es um andere Länder?