Unsere Zukunft im Weltall

Die dunkle Seite des Mondes

Der Mars-Rover der NASA ist gelandet und Millionen Menschen haben zugesehen. Aber warum brennen wir eigentlich so für das Weltall? Ein Essay über unsere Beziehung zum Universum.

2010 wurden sechs Männer aus Russland, Frankreich, Italien und China 520 Tage zusammen eingesperrt. Keine Kontakte zur Außenwelt, eine strenge Routine und keinerlei Spaziergänge an der frischen Luft.

Der Name dieses Experiments war Mars-500. Es sollte keine Pandemie simulieren, sondern einen bemannten Flug zum 70 Millionen Kilometer entfernten roten Planeten. Europäische und russische Wissenschaftler*innen wollten herausfinden, wie Menschen die extremen Bedingungen der sozialen Isolation einer solchen Reise aushalten würden. Die Auswertung des Experiments ergab: Die Männer bewältigten trotz ihrer interkulturellen Unterschiede Herausforderungen gemeinsam und friedlich und entwickelten eine enge Beziehung zueinander. Sie litten aber auch unter albtraumhaften Schlafstörungen und psychischen Problemen. Die Trennung von Familien und Freund*innen setzte ihnen dabei genauso zu wie das unstillbare Bedürfnis nach einer Begegnung mit unbekannten Gesichtern.

Die dunkle Seite des Mondes?
Der Mond dreht sich einmal im Monat um sich selbst, während er gleichzeitig die Erde umrundet. Daher ist uns immer dieselbe Mondhälfte zugewandt. Lange galt der Mythos, dass auf der anderen Mondhälfte ewige Finsternis herrscht, weil die Sonne dort nie hinscheint. Seit 1959 steht allerdings fest, dass die vermeintlich dunkle Seite gar nicht dunkel ist. Ganz im Gegenteil sogar: Mithilfe einer Mondsonde wurde festgestellt, dass die „dunkle“ Mondseite sogar deutlich heller ist als die uns zugewandte Seite.
Bild: IMAGO / Imaginechina-Tuchong

Der Blick ins All

Es ist ein grausames Paradox, dass die Menschen das unendlich weite Weltall nur in einem kleinen, abgekapselten Gefängnis bereisen können. Kaum etwas anderes ist für uns so gefährlich und unnatürlich, kaum etwas bietet uns so viel Inspiration, wie die Erkundung der Sterne. Wir interpretieren unser Schicksal in ihren Verlauf, Nationen streiten um die Vormacht bei ihrer Erforschung und Eroberung. Die Erkenntnis, dass nicht die Erde, sondern die Sonne der Mittelpunkt der Welt ist, leitete die Aufklärung und Blüte der Wissenschaft ein. Der Blick ins All ist seit jeher mit dem Traum vom Fortschritt verbunden.

Mit diesem Traum kam auch das Genre Science-Fiction, in dem seit der frühen Neuzeit gesellschaftliche Dystopien und Utopien durchgespielt werden: 1895 beobachtete der britische Autor H.G. Wells mit Schrecken die Ausbreitung des britischen Empires. Eine Diskussion über die brutale Unterdrückung der australischen Ureinwohner*innen führte dazu, dass er Krieg der Welten schrieb, in dem er die kolonialen Machtverhältnisse umdrehte: In dem Roman greifen technisch überlegene Aliens vom Mars die britische Insel an und zerstören ihre Städte. In der deutschen TV-Serie Raumpatrouille Orion aus den 60er-Jahren gibt es einen Planeten, auf dem zu großem Entsetzen der männlichen Hauptfigur nur Frauen regieren. Und spätestens seit Blade Runner prangert Science-Fiction auch den menschgemachten Ökozid an. Das Genre wurde zur Spielwiese progressiver Denker*innen. Den Soundtrack dazu lieferten zahlreiche Ikonen der Musikgeschichte, etwa Pink Floyd mit The Dark Side of the Moon oder David Bowie mit Space Oddity.

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„Raumpatrouille Orion“ (1966)

war die erste deutsche Science-Fiction-Serie überhaupt. Bild: IMAGO / United Archives

Science-Fiction formt die Zukunft

Auch heutzutage erfreuen sich Space-Epen wie Disneys The Mandalorian globaler Beliebtheit. Sie bieten inmitten der Beklemmung einer Pandemie eskapistische Unterhaltung, stoßen aber auch moralische Debatten an: So brachte der Marvel-Blockbuster Black Panther 2018 das Genre des Afrofuturismus in den Mainstream, in dem Schwarze Kunstschaffende Science-Fiction nutzen, um eurozentrische Deutungen der Vergangenheit und Zukunft zu durchbrechen. Die Serie Battlestar Galactica aus den frühen Nullerjahren verhandelt die Frage, wie sehr unsere Überzeugungen auf die Probe gestellt werden, wenn Abkömmlinge der Erde im Weltall ums Überleben kämpfen, etwa: Darf die Politik Abtreibung verbieten, wenn die Menschheit auszusterben droht? Was bedeutet das Auftreten von humanoiden Robotern für unser Konzept der Religion? Neben politischen und ökologischen Neuordnungen dachten sich Autor*innen dabei Erfindungen aus, die Jahrzehnte und Jahrhunderte später tatsächlich umgesetzt wurden. So inspirierten die smarten Uhren und Telefone aus den US-amerikanischen Dick-Tracy-Comics und der Serie Star Trek Marty Cooper dazu, das Handy zu erfinden. In den frühen 60er-Jahren schrieb Frank Herbert die Dune-Bücher, in denen die indigene Bevölkerung eines menschenfeindlichen Wüstenplaneten überlebt, weil sie Anzüge trägt, die das Wasser aus ihrem Schweiß und Urin zu Trinkwasser aufbereiten: eine Technologie, die heute auf der Internationalen Raumstation ISS eine große Rolle spielt.

„Black Panther“ (2018)

Szene aus dem Film „Black Panther“ (2018), in dem ein fiktives afrikanisches Land Technologien entwickelt, die dem Rest der Welt weit überlegen sind.
Bild: IMAGO / ZUMA Wire

Im 21. Jahrhundert arbeiten Menschen im Weltall international zusammen und suchen Lösungen für irdische Probleme: Ohne die Schwerkraft lassen sich zum Beispiel Zellen im All besser erforschen als auf der Erde. Experimente im All liefern so unter anderem Erkenntnisse für die Behandlung von Krankheiten wie Knochenschwund und Krebs. Satelliten in den Umlaufbahnen der Erde liefern uns täglich Erkenntnisse über die Klimakrise und den Zustand unserer Atmosphäre. So werden Aufnahmen der EU-Satelliten des Copernicus-Programms weltweit umsonst zur Verfügung gestellt. Derzeit werden sie unter anderem dazu genutzt, die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Luftverschmutzung wissenschaftlich zu untersuchen.

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Der Griff nach den Sternen

Doch indem wir das Weltall nutzen, um unsere akuten Probleme zu lösen, schaffen wir gleichzeitig im Akkord neue Konflikte. 2021 droht Weltraumschrott unsere Atmosphäre zu verstopfen, weil wir die für uns so wichtigen Satelliten unkoordiniert ins All schießen. Das „Space Race“ des Kalten Krieges um nationales Prestige, das durch Projekte wie die ISS eigentlich beendet werden sollte, geht in die nächste Stufe: Nachdem die USA 2019 eine militärische Space-Einheit ins Leben gerufen haben, liebäugelt nun auch der französische Präsident Emmanuel Macron mit einem Pendant. Weltweit stehen private und nationale Konzerne in den Startlöchern, um den Abbau von Edelmetallen im All zu ermöglichen und zu kommerzialisieren. Jeff Bezos und Elon Musk wollen private, interplanetare Kolonien gründen und Space-Tourismus für Reiche vorantreiben.

Zu Beginn des dritten Jahrzehnts unseres Jahrtausends stehen wir daher an einem Scheideweg. Wir müssen entscheiden, ob wir die Galaxie als Claim sehen, den wir abstecken, verschmutzen und ausbeuten können, oder ob wir sie als sensibles Ökosystem betrachten, von dem wir abhängig sind. Im Prinzip ist es dieselbe Frage, die auch den Umgang mit unserem eigenen Planeten bestimmt – schließlich wurde die globale Klimabewegung in den 60ern auch durch den sogenannten Overview-Effekt inspiriert. Die Betrachtung der Erde von außen regte die Menschen an darüber nachzudenken, ob die ethische Verantwortung sich nicht nur auf ihre direkten Mitmenschen, sondern auch auf die Natur beziehen müsse. Nun wäre es Zeit für den nächsten Schritt: den Kampf für Nachhaltigkeit ins All zu übertragen. Doch obwohl auf der Erde Rufe nach Reformen für mehr Umweltschutz und eine soziale Wirtschaft immer lauter werden, droht sich im Weltall das menschliche Streben nach Hegemonie durchzusetzen.

Menschen im Weltall: Selbstreflexion oder Selbstüberschätzung?

Die Philosophin Hannah Arendt schrieb kurze Zeit vor der Mondlandung in ihrem Essay „The conquest of space and the stature of men“, dass die Raumfahrt vor allem der menschlichen Hybris diene und nicht der Wissenschaft. Laut Arendt könne sich der Mensch im Universum „nur verlieren“, da er auch dort immer an seine menschlichen Grenzen geraten werde, namentlich seine eigene Sterblichkeit und sein nie gestilltes Bedürfnis nach neuen Besitztümern. Weit optimistischer sah es der Philosoph Günther Anders, der 1970 in seinem Buch Reflexionen über Weltraumflüge schrieb: „Das entscheidende Ereignis der Raumflüge besteht nicht in der Erreichung der fernen Regionen des Weltalls (…), sondern darin, dass die Erde zum ersten Mal die Chance hat, sich selbst zu sehen, sich selbst so zu begegnen, wie sich bisher nur der im Spiegel sich reflektierende Mensch hatte begegnen können.“

Wie unser Spiegelbild genau aussieht, entscheiden wir selbst. Das Weltall ist trotz wachsender kommerzieller Interessen bislang eine Bastion der Wissenschaft geblieben. Längst hat sie noch nicht alle Geheimnisse der Milchstraße gelüftet. In unterirdischen Laboren unter den Bergen Italiens versuchen Teilchen-Physiker*innen im XENON-Projekt herauszufinden, wie sich Dunkle Materie, jenes Material, aus dem das Weltall gesponnen ist, zusammensetzt. Genau in diesem Moment landet ein NASA-Rover auf dem Mars, um nach Spuren von Leben zu suchen. All diese Experimente dienen letztendlich der Ergründung des Rätsels, wie das Leben im Universum und damit auch die Menschheit entstand. Wir müssen dafür sorgen, dass sie im Dienst der Wissenschaft und des Fortschritts bleiben, und sich nicht wirtschaftlichen oder gar militärischen Interessen unterordnen.

Bis dahin können wir für die Verfolgung unserer irdischen Träume  – wie unsere Vorfahr*innen – Inspirationen aus den Sternen ziehen. Der Blick in die Weite kann dabei stets eine Chance sein, die Probleme in unmittelbarer Nähe zu begreifen. Und anders herum. Wie Platon sagte: „Astronomie zwingt die Seele, aufwärts zu schauen, und führt uns von dieser Welt in eine andere.“

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Illustration: Nico H. Brausch

Kaum etwas ist für uns so gefährlich und unnatürlich, kaum etwas bietet uns so viel Inspiration: Der Blick ins All ist seit jeher mit dem Traum vom Fortschritt verbunden. Doch wie können wir das Universum verantwortungsvoll nutzen?

Morgane Llanque

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