Mission Artenrettung

Wie wir die Biodiversität bewahren

Wir Menschen verursachen das sechste Massenaussterben auf dem Planeten. Was können wir tun, um es zu begrenzen?

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Im Sauriersaal des Berliner Naturkundemuseums, flankiert von Skeletten ausgestorbener Spezies. Ein Abend im Mai, kurz vor dem Internationalen Tag der Biologischen Vielfalt. Die drei Direktoren der Leibniz-Naturforschungsmuseen fordern radikalen Klima- und Biodiversitätsschutz. „Nichts weniger als unsere eigene Existenz steht auf dem Spiel“, heißt es. Noch haben wir eine „historische Chance“, es zu verhindern: das sechste Massenaussterben.

66 Millionen Jahre vor unserer Zeit: Ein Meteorit schlägt auf der Erde ein. Die Katastrophe löscht die Dinosaurier aus. Umringt von ihren Überresten zieht Museumsdirektor Johannes Vogel eine Parallele: „Heute sind wir Menschen der Meteorit. Gelingt es uns in dieser Dekade nicht, den katastrophalen Verlust der biologischen Vielfalt aufzuhalten, laufen wir Gefahr, bis zu einer Million Arten zu verlieren.“

Das Aus für eine Million Tier- und Pflanzenarten – davor hat schon 2019 der Weltbiodiversitätsrat IPBES gewarnt. Zehn- bis hundertmal schneller sterben Arten weltweit heute aus als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre. Jenseits von viel beachteten Säugetieren wie dem Nördlichen Breitmaulnashorn sind es gerade kleine, unscheinbare Arten, deren Zahl dramatisch sinkt. Mehr als 40 Prozent aller Amphibien sind vom Aussterben bedroht, fast ein Drittel der riffbildenden Korallen. Zu wenig wissen wir noch über die Lage etwa von Pilzen und Mikroorganismen, selbst Insekten, die 75 Prozent aller Arten ausmachen. Von ihnen könnten bis zu 10 Prozent aussterben.

Biodiversität umschreibt alle Lebensformen, von Tieren und Pflanzen über Pilze bis zu Bakterien in ihren Ökosystemen. Je mehr unterschiedliche, genetisch vielfältige Arten darin leben, desto widerstandsfähiger ist ein System.

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Biodiversität als Lebensgrundlage

Matthias Glaubrecht, Professor für Biodiversität der Tiere, hat 2019 einen Bestseller geschrieben: Das Ende der Evolution – Der Mensch und die Vernichtung der Arten. Er weiß: Nur weil einzelne Arten verschwinden, ist das kein Massensterben, es gehört zur natürlichen Evolution. Die Geschwindigkeit ist das Problem. Erst mehrere Millionen Jahre nach dem Einschlag des Meteoriten am Ende der Dinosaurierzeit hatten sich Fauna und Flora wieder erholt. „Biodiversität ist unsere Lebensgrundlage. Alles hängt davon ab: unsere Ernährung, frische Luft, sauberes Wasser.“

Wüstenstaub fegt über den Ozean. Unter der Wasseroberfläche nährt er angereichert mit Eisen mikroskopische Organismen, Grundlage allen dortigen Lebens. Delfine gleiten über das Meer in der Netflix-Dokuserie Unser Planet (2019). Die Kamera taucht unter: Ein Makrelenschwarm macht Jagd auf Krustentiere, die sich von den Mikroorganismen ernähren. Meeresvögel schießen ins Wasser, erbeuten die Makrelen. Dazu spricht der britische Tierfilmer David Attenborough: „Das Leben auf unserem Planeten ist nur ausgeglichen, wenn solche Verbindungen zwischen den Lebensräumen bestehen bleiben.“ Die Serie zeigt, wie viele neue Naturdokus: Die Systeme sind komplex – und fragil.

Das Ausmaß, in dem wir in die Natur eingreifen, ist gravierend. 77 Prozent der Landfläche, die Antarktis ausgenommen, haben wir bereits stark verändert. Überfischte Meere, zerstörte Wälder, überdüngte Böden, Ackerflächen mit Monokulturen und Giften, explodierende Städte, Plastikverschmutzung. Glaubrecht hält das Artensterben für noch bedrohlicher als die Klimakrise, denn: Arten, die einmal ausgestorben sind, bleiben wohl unwiederbringlich verloren. Und doch steht bislang die Klimakrise im Fokus: Steigende Temperaturen, Dürren und Überflutungen können wir spüren, zu leise sterben die Arten.

Aufgerüttelt haben uns die Insekten. 2017 zeigten Daten von Krefelder Insektenkundler:innen: Innerhalb von knapp 30 Jahren hat die Biomasse der Fluginsekten um 76 Prozent, im Hochsommer sogar um bis zu 82 Prozent, abgenommen. Verantwortlich: der Verlust von Lebensräumen, weniger Wildpflanzen, mehr Gifte in Böden und Gewässern.

Insekten bilden ein Kernstück des Ökosystems, dienen als Nahrungsquelle für Vögel, Fledermäuse und Reptilien und bestäuben Pflanzen. Solche Zusammenhänge müssen wir sichtbar machen, sagt Magdalene Trapp, Referentin für Biodiversitätspolitik und Naturschutz beim Naturschutzbund (Nabu). Sie weiß jedoch: „Weil Artenvielfalt und der Schutz einzelner Arten einfacher zu begreifen sind als Biodiversität, steht das häufig im Fokus.“ Artenschutz schaut auf einzelne Spezies, Biodiversitätsschutz auf das ganze System. Doch noch werben Naturschutzorganisationen lieber mit süßen Pandas oder imposanten Tigern. Sie sind der Hebel, um Geld und Aufmerksamkeit zu gewinnen.

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Tiger funktionell längst ausgestorben

Am Tiger etwa, einer Flaggschiffart, zeigten sich gerade die Grenzen dieses Ansatzes, sagt Evolutionsbiologe Glaubrecht: „Der Tiger hat fast 99 Prozent seiner Population eingebüßt, wir erhalten ihn durch Zucht und in wenigen Naturschutzgebieten. Funktionell aber ist die Art vielerorts längst ausgestorben: Sie wird sich nie mehr erholen, erfüllt im Ökosystem ihre Rolle nicht mehr – und erscheint doch nicht als in der Wildnis ausgestorben auf der Roten Liste.“ Die Rote Liste der Weltnaturschutzunion IUCN zeigt Gefährdungsgrade von ausgewählten Tier- und Pflanzenarten, jedoch nur für knapp zehn Prozent aller beschriebenen Arten. Daher unterschätze die Liste, so Glaubrecht, das Aussterben immens.

Doch welche Arten müssen wir am dringendsten schützen? Die Zoologische Gesellschaft London beschreibt im „Edge of Existence Programme“ Tiere, die laut Roter Liste bedroht und evolutionär einzigartig sind. So etwa das Zwergfaultier, nur heimisch in den Mangrovenwäldern der dünn besiedelten 430 Hektar großen Insel Escudo de Veraguas vor der Nordküste Panamas und erst 2001 als eigene Art der Dreifinger-Faultiere beschrieben. In seinem borstigen Fell leben sowohl Motten als auch eine Alge, deren grüne Farbe dem Faultier als Tarnung dient. Unregulierter Tourismus, aber auch die Siedlungen der indigenen Bevölkerung und Holzarbeiten bedrohen den Lebensraum des Zwergfaultiers. Seit 2012 erhebt ein Schutzprojekt daher wissenschaftliche Daten und bezieht mit Bildungsprogrammen an Schulen und Workshops für Fischer:innen und Reiseveranstalter:innen die Menschen vor Ort mit ein. In Zusammenarbeit mit der Regierung wird ein langfristiger Managementplan für die Nutzung des Lebensraums entwickelt.

Der Schutz einer Art kann aber auch Motor sein für den Schutz ganzer Ökosysteme. Wie das Beispiel des mitteleuropäischen Luchses zeigt: Erfolgreich wieder ausgewildert im Harz, Bayerischen Wald und im Pfälzerwald brauchen die heute mittlerweile etwa 130 erwachsenen Luchse mehr Wanderkorridore, über die sie sich ausbreiten können, um nicht genetisch isoliert voneinander erneut zu verschwinden. So kämpfen Umweltschützer:innen mit dem Luchs für renaturierte Flussauen, Wiederaufforstung und gegen weitere Zersiedelung. Biodiversität gleicht einem Kartenhaus, aus dem wir so lange Karten herausziehen, bis alles zusammenbricht. Schon der Verlust einer Art kann das Gebilde zum Einsturz bringen. Entscheidend: funktionelle Biodiversität, also die jeweilige Rolle einer Art im Ökosystem. Räuber wie der Luchs stehen ganz oben in der Nahrungspyramide – andere sind wichtige Bindeglieder und Schlüsselarten.

Schlüsselarten wie der Stint sind essenziell für das Ökosystem. Illustration: Marina Friedrich

Eine solche ist der Stint, ein Fisch, der zum Laichen von der Nordsee in die Elbe wandert. 15 Zentimeter lang, mit silbrig glänzendem Körper. Der Stint gilt nicht als gefährdet, doch er ist essenziell für das Ökosystem: Er frisst kleine Ruderfußkrebse und Schwebegarnelen und dient selbst als Nahrung für andere Raubfische, etwa die Finte. Diese brauchen Kormoran und Seeschwalben als wichtige Futterquelle. Ohne den Stint wäre die Kette unterbrochen. Als der Stintbestand nach 2014 stark einbrach, schwanden auch Kormorane und Seeschwalben.

Vor allem liegt das an Baggerarbeiten in der Elbe. Sie trüben das Wasser so stark, dass Stintlarven ihre Nahrung schlechter sehen und verhungern. Jetzt verschärfen steigende Wassertemperaturen die Situation zusätzlich. Das Schicksal des Stints zeigt, wie eng verflochten die Klimakrise mit der Artenkrise ist. Nicht zufällig haben Weltklima- und Biodiversitätsrat 2021 erstmals einen gemeinsamen Report herausgegeben.

Mit Naturbasierten Klimaschutzlösungen (NbS) soll der doppelte Schutz nun gelingen, also gleichzeitig Lebensräume für Tier- und Pflanzenarten erhalten und Kohlenstoff gespeichert werden. Zum Beispiel durch Agroforstwirtschaft, Wiedervernässung von Mooren oder Wiederaufforstung. Gerade hat die Bundesregierung vier Milliarden Euro für das Aktionsprogramm „Natürlicher Klimaschutz“ für 2022 bis 2026 beschlossen.

Mangroven und Salzwiesen für Klima- und Artenschutz

Wie gut Klima- und Artenschutz zusammenwirken können, zeigen Küstenfeuchtgebiete mit Mangroven, Salzwiesen und Seegraswiesen. Sie binden etwa die Hälfte des Kohlenstoffs, der in den Sedimenten der Ozeane gebunden ist. Gleichzeitig sind sie für die Aufzucht und Nahrung der meisten marinen Arten wie Fische oder Schildkröten wichtig. Dazu sparen Mangrovenwälder jährlich mehr als 65 Milliarden US-Dollar für den Ausgleich von Flutschäden und schützen etwa 15 Millionen Küstenbewohner:innen.

Nun stehen Verhandlungen zu einem neuen internationalen Biodiversitätsabkommen an: Die 196 Vertragsstaaten der UN-Konvention über die biologische Vielfalt wollen Ende des Jahres im kanadischen Montréal neue Ziele beschließen. „Wir brauchen dringend ein wirksames globales Abkommen“, sagt Magdalene Trapp vom Nabu. „In den nächsten zehn Jahren können wir das Ruder noch herumreißen.“ Montréal 2022 soll so aufrüttelnd sein, wie es 2015 Paris für das Klima war. Damals gelang es, komplexe Zusammenhänge wenigstens auf die Formel des 1,5-Grad-Ziels zu verdichten.

Nun lautet die Formel 30×30: Mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresfläche sollen bis 2030 unter wirksamen Schutz gestellt werden. Eine 2020 in der Fachzeitschrift Ecography veröffentlichte Prognose der Umweltorganisation Conservation International zeigt: Wenn gleichzeitig die Erderhitzung unter zwei Grad bleibt, könnte sich das Aussterberisiko tropischer Arten halbieren.

Derzeit formal geschützt sind jedoch nur 16,6 Prozent des Landes und 7,7 Prozent der Ozeane. In Deutschland etwa zählen 15,5 Prozent der Landfläche zu den Natura-2000-Schutzgebieten der EU. Ein deutlich geringerer Anteil der Landesfläche liegt in besonders streng geschützten Nationalparks (0,6 Prozent), Naturschutzgebieten (6,3 Prozent) wie auch Biosphärenreservaten (3,9 Prozent). Vollkommen unberührte Natur macht hierzulande gerade einmal 0,6 Prozent der Landfläche aus.

Die Verhandlungen für ein internationales Abkommen mit Blick auf die Biodiversität sollen erreichen: Mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresfläche sollen bis 2030 unter wirksamen Schutz gestellt werden. Illustration: Marina Friedrich

Die Hälfte der Erde unter Naturschutz für mehr Biodiversität?

Manche Expert:innen fordern, die halbe Erde unter Naturschutz zu stellen. Doch zunächst geht es darum, international das 30×30- Ziel verbindlich festzuzurren. Außerdem gilt es, final zu beschließen, dass 20 Prozent der zerstörten Ökosysteme renaturiert werden sollen, auch wenn dafür Ackerbau – und Einnahmequellen – weichen müssten. Und um wie viel umweltschädliche Subventionen verringert und in Biodiversitätsschutz umgelenkt werden müssen. Angedacht sind 500 Milliarden US-Dollar jährlich.

Wie viel wird der Globale Norden bereit sein zu zahlen? Länder des Globalen Südens fordern mindestens 100 Milliarden US-Dollar jährlich, um das Abkommen umsetzen zu können. Und zwar dort, wo der biologische Reichtum besonders groß ist. Mindestens die Hälfte aller bekannten Arten lebt in tropischen Regenwäldern.

Pro 10.000 Quadratkilometern finden sich in tropischen und subtropischen Regionen zwischen 3.000 und 5.000 Pflanzenarten – in Deutschland nur 500 bis 1.000. Tatsächlich sind Lateinamerika und die Karibik laut IUCN die bislang am stärksten geschützten Regionen weltweit mit 24 Prozent der Land- und 19 Prozent der Meeresfläche, wenn auch unterschiedlich gut kontrolliert und vernetzt.

Hoffnung machte Ende Juni die Europäische Kommission mit einem Gesetzesvorschlag. Darin setzt sie auf großflächige Renaturierung – und damit auch ein Signal für die Konferenz in Montréal: Auf mindestens 20 Prozent geschädigter Ökosysteme sollen bis 2030 Renaturierungsmaßnahmen durchgeführt werden, bis 2050 schließlich bei allen Ökosystemen an Land und bei 90 Prozent der Meere. Das Budget dafür: 100 Milliarden Euro. Das EU-Parlament und die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten müssen den Vorschlägen noch zustimmen, sie anschließend in nationale Gesetze gießen. Wildnis pur wird so jedoch nicht entstehen: Die renaturierten Flächen sollen nicht automatisch zu Schutzgebieten werden, Landwirtschaft etwa soll dort weiterhin möglich sein. Denn es gehe darum, „im Einklang mit der Natur zu leben und zu produzieren“.

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Egal, wie engmaschig wir Schutzgebiete über die Erde spannen: Wir müssen das gesamte System ändern, angefangen bei Ernährung und Landwirtschaft bis hin zu Konsum und Wirtschaft. Entscheidend: Gerade Menschen im Globalen Süden gleichberechtigt miteinzubeziehen. An dem Abend im Naturkundemuseum ist davon viel die Rede. Auch Katrin Böhning-Gaese von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung betont: Wir müssen uns vor einem „neokolonialistischen Ansatz“ hüten.

Eine Studie des finnischen Innovationsfonds Sitra machte kürzlich mit einem optimistischen Szenario Hoffnung: Bis 2035 ließe sich vor allem mit regenerativer Landwirtschaft, Alternativen zu tierischen Proteinen und weniger Lebensmittelverschwendung die Biodiversität in den Zustand des Jahres 2000 bringen.

Ein neues Zusammenleben mit der Natur ist möglich: durch nachhaltige Nutzung und effektiven Schutz. Denn anders als der Meteorit am Ende der Kreidezeit können wir unseren Kurs noch ändern.

Illustration: Marina Friedrich

Besonders und bedroht: Der mitteleuropäische Luchs (links) wurde erfolgreich im Harz wieder ausgewildert. Das evolutionär einzigartige Zwergfaultier (rechts) ist nur heimisch in Mangrovenwäldern der Insel Escudo de Veraguas vor der Nordküste Panamas.

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