Sportunterricht ohne Leistungsdruck

Tanz dich frei, lern einfach mehr

Choreografin Livia Patrizi denkt Sportunterricht anders: Freude an der Bewegung statt Wettkampf und Stress. Keine Noten. Tanzen schweißt Schüler:innen zusammen, kanalisiert Aggression. Ein Schulbesuch.

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Es ist ein eiskalter Märzmorgen, acht Uhr in der Früh, doch die Fünftklässler:innen im Mehrzweckraum der Grundschule an der Pulvermühle haben schon rote Backen. Elf Jungs, zehn Mädchen, aus der Boombox wummert Elektro. Tänzerin Katharina Iva Nagel schnipst mit den Fingern und geht die Reihe der Kids durch: „Du stehst, du sitzt, du stehst, du sitzt, los geht’s.“

Die einen recken sich zur Decke, öffnen die Arme wie eine erwachende Blüte, die anderen schieben sich schlangengleich über den Boden. Gemeinsam geht es im Rhythmus der Beats ins Zentrum des Kreises. „Achtet auf jene, die euch entgegenkommen.“ Anfangs unterbricht mal ein Schubsen, mal ein Rangeln die Rhythmik der Gemeinschaft, bis der Takt der Musik, die Konzentration auf die anderen, die Gruppe zu einer Bewegung verbindet. Katharina Iva Nagel und ihr togolesischer Kollege Meier Eden klatschen in die Hände. „Hey, das hat aber super geklappt heute.“ Und das war erst die Aufwärmphase.

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Hier in Berlin-Spandau, in der Grundschule an der Pulvermühle, haben seit einem halben Jahr die Schüler:innen neunzig Minuten Tanz in der Woche. Begleitet werden sie von zwei Tänzer:innen, die sonst selbst auf der Bühne stehen und die Kinder anstecken mit ihrer Leidenschaft für diese Bewegungskunst. Klassenlehrerin Anne Rümmler sitzt als Aufsicht am Rand und schaut zu. „Tanz-Zeit“ nennt sich das Projekt, das die Tänzerin und Choreografin Livia Patrizi schon vor gut fünfzehn Jahren ins Leben gerufen hat.

Das Ziel: Kindern an der Schnittstelle von Kunst und Sport in der Schule andere Möglichkeiten bieten, sich körperlich auszudrücken und Freude an der Bewegung zu entdecken. Jenseits von Wettkampf und Leistungsstress wie meist sonst im Sportunterricht. Patrizi: „Tanzen schärft die Körperwahrnehmung, stärkt Selbstbewusstsein und Sozialkompetenz.“

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Das Gefühl, wenn man hoch springt

Was das konkret bedeuten kann, erläutert Projektentwicklerin An Boekman, die sich in der Grundschule an der Pulvermühle gerade vor der Heizung im Mehrzweckraum in den Schneidersitz gefaltet hat. Sie schaut heute ihrem Künstler:innenteam zu. „Bei Sport geht es viel darum, wie bewegt sich ein Körper, wie schnell kann er springen, laufen, werfen“, so Boekman, die in der Basketballbundesliga gespielt hat, bevor sie selbst den Tanz entdeckte. „Beim Tanz fragen wir: Warum bewegt sich ein Körper? Was will er ausdrücken, wie geht es dem Menschen dabei und was löst er bei anderen damit aus?“

Wenn Tänzer:innen Sprungkraft üben, gehe es nicht um die Höhe des Sprungs als Selbstzweck, sondern um das Gefühl, das entsteht, wenn man so hoch springt. Wenn sie mit der Schwerkraft spielen, sei nicht Ziel, das Gewicht des Gegenübers abzuwehren, sondern es als Impuls aufzugreifen, der den eigenen Körper in Bewegung setzt. 159 Berliner Grund- und Oberschulen haben bisher am Projekt „TanzZeit“ teilgenommen, das sind gut 1.060 Klassen mit knapp 24.000 Kids aus allen Schichten. Organisiert wird es von Livia Patrizis gleichnamigem Verein, der inzwischen noch andere Formate entwickelt hat.

Zum Beispiel „Moving the Classroom“, in dem Tänzer:innen Mathe oder Physik tänzerisch vermitteln. Was ist eigentlich eine Diagonale, wie fühlt sich Asymmetrie an, was ist der Unterschied zwischen Durchmesser und Radius? Finanziert wird, seit 2010, nur der einjährige „TanzZeit“-Unterricht aus Haushaltsmitteln des Senats, manchmal auch in einem Mix mit Elternbeiträgen oder anderen Zuschüssen. Hat sich eine Schule für das Angebot entschieden, ist die Teilnahme Pflicht. Meist werden dafür zwei Stunden aus dem Sport-, Musik- oder Kunstunterricht abgeknapst, manchmal ist „TanzZeit“ Teil des Schulprofils mit zwei extra Pflichtstunden für die Jahrgangsstufe fünf wie in der Grundschule an der Pulvermühle. Boekman: „So erreichen wir auch jene, die mit Tanz sonst nie in Berührung kämen.“

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Tanzen im Untericht: „Sorgen rauslassen“ und „frei fühlen“

Tanz? „Ist doch blödes Ballett oder Mädchen-Discozeug“, hat auch der elfjährige Mussab erst gedacht. „Bestimmt nur langweilige Standardtänze“, erinnert sich Emily. „Wieder so ein Nullachtfünfzehn-Unterricht“, glaubte Adam-Salim. Überrascht haben sie Stück für Stück entdeckt: Hier können „wir unsere Sorgen rauslassen“, „uns frei fühlen“ oder „einfach auspowern“. „Und wirklich entscheiden, was wir wollen“, sagt Melissa. „Okay, Leute“, ruft Katharina Iva Nagel, „Ihr habt jetzt Zeit, eure Moves zusammenzusetzen, dreißig Minuten Kleingruppenarbeit.“ Wochenlang haben die Teams an ihren Ideen gearbeitet. Nicht immer lief das reibungslos, manchmal gab es sogar Tränen.

Es gibt viele Konflikte in der Klasse, manchmal muss Anne Rümmler auch hier pädagogisch eingreifen. Umso beeindruckender war es für die Lehrerin, wie ihre Klasse langsam zusammenwuchs. Wie die Schüler:innen erkannten, dass gegeneinander im Tanz gar nichts läuft, dass alle Ideen zählen müssen. Selbst wenn die einen den Battle-Move aus dem Videospiel Fortnite doof finden, die anderen die Brücke der Turnerin blöd, wird nur eine Choreografie draus, wenn alle gemeinsam überlegen: Wie kann man das verbinden? „Es ist echt cool, dass hier jeder was beitragen kann“, sagt Mussab. „Wir machen den Tanz für uns, nicht für andere.“

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Fabian Metzger weiß, welche Wirkung die Tanzerfahrung gerade auf benachteiligte Schüler:innen haben kann. Metzger ist Direktor der Graefeschule in Berlin-Kreuzberg, achtzig Prozent der Jugendlichen kommen hier aus Familien, die von Sozialtransferleistungen leben. „Viele der Kinder haben enormen Bewegungsmangel, mit Vereinssport kommen sie kaum in Berührung“, so Metzger. „Aber über ihre Musik erreichen wir alle, sie ist ein Türöffner zum Tanz.“ „TanzZeit“ ist an der Graefeschule daher längst fester Bestandteil des Wahlpflichtprogramms, neuerdings gibt es sogar „Battlebreaks“ – in den Pausen. Die Idee: „lieber tanzen statt kloppen“, sagt Metzger. „Wenn Profitänzer:innen eine Boombox auf den Asphalt stellen und die Schüler mit Moves inspirieren, kommt plötzlich etwas in Bewegung.“ Tanz kanalisiert Aggression, Konflikte werden weniger. Metzger plant schon das nächste Projekt: Zwei Monate lang soll Tanz Teil des Sportunterrichts werden. „Doch dafür fehlen uns zurzeit Fördergelder.“

Die Aufführung vor großem Publikum

In Spandau verteilen sich Adam- Salim, Mussab, Emily, Melissa und ihre Kamerad:innen mit ihren Kleingruppen auf die vier Ecken des Raumes. French-Pop brandet auf, Gruppe A startet in die Diagonale, kreiselt, wippt, springt nach vorn. Gruppe B quert den Raum, mal kantig wie Roboter, mal biegsam wie Gummipuppen. Dreimal fließen die Choreografien der vier Teams ineinander, bis alle atemlos zurück auf ihren Startpunkten sind. Freeze.

„Was hat euch heute besonders gefallen?“, fragt Tanzlehrerin Katharina Iva Nagel. „Dass es keinen Stress gab“, ruft Mussab. „Dass wir Zeit hatten, den anderen zuzugucken“, findet Melissa. „Dass wir zum Schluss im letzten Move eingefroren waren“, sagt Adam-Salim. Nicht urteilen, sondern sich gegenseitig wertschätzen, auch das gehört zum Konzept. Noten wie im Sportunterricht gibt es ebenso wenig wie richtig und falsch. „Es tut den Kindern gut, sich ohne Vorgaben und Bewertung zu bewegen“, findet Klassenlehrerin Rümmler. Immer wieder fällt ihr auf: Da blühen Schüler:innen auf, die sonst im Unterricht kaum sichtbar sind – andere treten in den Hintergrund. Und wenn schließlich alle zusammen zum Abschluss des Projekts auf der Bühne des Palais Podewils stehen, einem Kulturzentrum mitten in der Stadt, um vor großem Publikum ihren Tanz aufzuführen, wenn aus den vielen Choreografien der Kleingruppen ein Gesamtbild entsteht, für das sich jede:r anstrengt, „dann verändert das die ganze Gruppe, und sei es nur ein kleines Stück“.

Dingdangdong. Die Kids schnappen sich ihre Wasserflaschen und schlittern auf Socken zum Ausgang wie auf einer Eislaufbahn. „Ich bin jetzt schon ganz schön aufgeregt, wenn ich an unseren Auftritt denke“, ruft Emily noch. „Wir kriegen das schon alle zusammen hin“, meint Mussab. Und wenn du dann auf der Bühne im Dunkeln stehst, das Herz klopft bis zum Hals, der Scheinwerfer springt an, schaust du in die Augen der anderen, sammelst dich – und tanzt.

Dieser Text erschien in der Ausgabe April/Mai 2022 mit dem Titel: „Der Sport gehört uns – Gemeinschaft statt Kommerz: Diese Initiativen und Athlet:innen holen sich das Spiel zurück.“ Die Ausgabe kannst du bei GoodBuy versandkostenfrei und klimapositiv nachbestellen.

Jurien Huggins/Unsplash

159 Berliner Grund- und Oberschulen haben bisher am Projekt „TanzZeit“ teilgenommen, das sind gut 1.060 Klassen mit knapp 24.000 Kids aus allen Schichten (Symbolbild).

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