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Im schwedischen Mälarsee, nordwestlich der Hauptstadt Stockholm, schwimmt Vifärnaholme, eine kleine Insel mit rot-weißem Holzhaus und Privatstrand, die man nur per Boot erreichen kann. Jeder Mensch kann sich darum bewerben, eine Woche lang allein und kostenlos auf Vifärnaholme zu wohnen und zu arbeiten – vorausgesetzt man hat eine kreative Idee, die den Besitzer der Insel, den schwedischen Unternehmer und Autor Frederik Härén, überzeugt.
„Ich wollte, dass mehr Menschen erleben […], wie die kreativen Säfte explodieren, wenn sie vom Rest der Welt isoliert sind und sich einfach auf das Projekt konzentrieren können, das sie realisieren möchten“, schreibt er auf seinem Blog „The Human Island“. Für Härén sind Inseln ein Mikrokosmos unseres Planeten und können uns helfen, uns selbst und andere besser zu verstehen. Und mit dieser Überzeugung ist er nicht allein.
Die Vorstellung einer abgeschiedenen Insel – in einer anderen, abgeschlossenen Welt zu sein, den Blick stets auf den verheißungsvollen Horizont gerichtet, die Möglichkeit eines Neuanfangs – ist eine zeitlose Sehnsucht des Menschen.
Von Inselparadiesen und einsamen Eilanden
Unsere Mythen, Fantasien und Bucket Lists sind voll von Inselparadiesen: Sie heißen Avalon, Elysium und Nimmerland, Mallorca, Sansibar und Hawaii. Eilande voller Abenteuer, Magie und Schönheit, Traum-Reiseziele, Party-Hochburgen. Genauso tummeln sich in unserer Kulturgeschichte aber auch Insel-Albträume: Schon in der Legende von Atlantis, später in Filmen wie King Kong und Jurassic Park, wird der Mensch auf Inseln mit der Überlegenheit der Natur und seiner eigenen Hybris konfrontiert. Du dachtest, du bist die Krone der Schöpfung und kannst alles mit ihr machen, was du willst? Falsch gedacht, lautet die Moral dieser Geschichten.
Auch auf historischen Gefängnisinseln wie Alcatraz oder Robben Island wurde die idyllische Oase zur Falle, aus der es sich nicht so schnell entkommen ließ. Nicht zufällig stammt das Verb „isolieren“ von „insula“, dem lateinischen Wort für Insel. Der Duden definiert das Verb so: „jemanden, etwas von anderen, von seiner Gruppe trennen, jemanden, etwas, sich absondern“.
Das wohl berühmteste Buch über die dunkle Seite von Inseln hat der Brite William Golding geschrieben: In Herr der Fliegen strandet eine Gruppe englischer Jungen auf der Flucht vor einem Atomkrieg auf einem einsamen Eiland. Einige von ihnen sind überzeugt, dass das Überleben ein Klacks sei, schließlich seien sie „Engländer, und Engländer sind in allem am besten“. Schritt für Schritt schälen sich die Kinder jedoch aus der Hülle der Zivilisation und töten sich gegenseitig.
Die These des Romans, wonach die Abgelegenheit einer Insel unweigerlich das Ungeheuer hervorbringt, das jedem Menschen innewohnt, gleicht der Theorie des Naturzustandes nach Thomas Hobbes: der Krieg aller gegen alle.
Jahrzehnte später weigerte sich der niederländische Autor und Historiker Rutger Bregman (Utopien für Realisten) daran zu glauben, dass dieser Zustand die wahre Natur des Menschen spiegelt – und stieß bei seinen Recherchen zu Inseln auf eine wahre Geschichte, die fast noch unglaubwürdiger klingt als die fiktive in Herr der Fliegen.
Die echten Herren der Fliegen
1965 büchsten sechs befreundete Jungen, Luke, Fatai, Sione, Tevita, Kolo und Mano, aus ihrem Internat im pazifischen Inselkönigreich Tonga aus, um auf der Suche nach Abenteuern mit einem gestohlenen Boot Fidschi oder Neuseeland zu erreichen. In einem Sturm erlitten sie Schiffbruch auf der abgelegen Insel Ata. Als der australische Kapitän Peter Warner sie fünfzehn Monate später dort per Zufall fand, war die Insel weder abgebrannt, noch gab es an ihrer Küste Leichen zu bergen wie in Goldings Roman. Stattdessen berichtet Warner in seinen Memoiren: „Die Jungs hatten eine kleine Kommune mit einem Nutzgarten, ausgehöhlten Baumstämmen zum Speichern von Regenwasser, einer Turnhalle mit kuriosen Gewichten, einem Badmintonplatz, Hühnerställen und einem Dauerfeuer [errichtet], alles mit Handarbeit, einer alten Messerklinge und viel Entschlossenheit.“ Die Gruppe teilte ihre Tage diszipliniert ein: Wer hält nach Schiffen Ausschau, wer hütet das Feuer? Als sich einer das Bein brach, übernahmen alle anderen seine Pflichten.
Als Bregman 2020 einen Artikel im Guardian über „die echten Herren der Fliegen“ veröffentlichte, wurde der innerhalb von vier Tagen über sieben Millionen Mal aufgerufen. Die Geschichte eines friedlichen Zusammenlebens auf einer Insel berührt uns, weil sie ein Beweis dafür zu sein scheint, dass unsere Natur eben nicht durch und durch blutrünstig ist.
Kooperativ und empathisch
In der Tat hat die Forschung der vergangenen Jahre die alte Vorstellung vom Menschen als von Grund auf konkurrenzgeprägtem, aggressivem Wesen über den Haufen geworfen. Egal ob Neurowissenschaften oder Evolutionsbiologie, ob Verhaltensökonomik oder Epigenetik – überall verdichtet sich die Erkenntnis: Kooperation und Empathie prägen die Natur des Menschen. Einerseits, weil wir als soziale Wesen darauf angewiesen sind. Andererseits, weil erst die „kooperative Intelligenz“ uns Menschen einen gewaltigen Überlebensvorteil sichert, wie der Evolutionsbiologe Martin A. Nowak in seinem gleichnamigen Buch schreibt.
2020 erst schrieb der Psychologe Steve Taylor von der Universität Leeds wieder einen Essay darüber, dass Menschen erst nach dem Jäger-und-Sammler-Zeitalter, also relativ spät in der Geschichte des Homo sapiens, egoistische und destruktive Verhaltensweisen innerhalb einer Gruppe entwickelt hätten. Davor sei das Überleben komplett davon abhängig gewesen, dass man als Gemeinschaft zusammenarbeitet und alles miteinander teilt. Erst das Abstecken von Claims habe schließlich zu toxischen Verhaltensweisen wie der Besitz-Anhäufung des Einzelnen oder der Unterdrückung der Frau durch den Mann geführt. Rein evolutionsbiologisch betrachtet hätte es jedoch zu keiner Zeit einen Vorteil gehabt, die Gemeinschaft, und damit auch sich selbst, durch selbstsüchtiges Verhalten zu schwächen.
Zeit also, uns wieder auf unseren Überlebensinstinkt zu besinnen. Wenn man ein instabiles Ökosystem wie unseres, diese verletzlichen paar Brocken Land, die auf gigantischen Wassermassen verteilt und bald darunter liegen werden, wirklich retten will, dann wäre eigentlich die einzig logische Konsequenz, so solidarisch und geschickt zusammenzuarbeiten wie Luke, Fatai, Sione, Tevita, Kolo und Mano auf ihrer Insel Ata. Wir müssten uns als eine Gemeinschaft begreifen, deren Ressourcen endlich sind.
Von Inseln lernen
Wir können von Inseln, diesen seltsamen Chimären aus Dystopien und Utopien, diesen ersten Flecken Land, die wir den fossilen Brennstoffen opfern, Strategien lernen, um die Klimakrise zu bekämpfen. Sie können uns als (scheinbar) autarkes System beibringen, wie wir zerstörten Meeresraum retten, Ressourcen effektiver recyceln, soziales Miteinander besser organisieren oder auch Tourismus nachhaltig denken können.
Schon das erste Bild einer Utopie überhaupt, das Thomas Morus in seiner Abhandlung Utopia von einer idealen Gesellschaft zeichnete, war schließlich eine Insel. Ihre Abgeschlossenheit, so schreibt der Geograf Alastair Bonnet in seinem Buch Das Zeitalter der Inseln, ermögliche es uns, „sie uns als vollendet auszumalen“. Nehmen wir also einmal an, du wirst ausgewählt, eine Woche auf Vifärnaholme zu leben. Welche Idee entwickelst du?
Dieser Text erschien in der Ausgabe August/September 2021 mit dem Titel „Schatzinseln: Diese Orte zeigen uns, wie wir den Kampf gegen die Klimakrise meistern“. Das aktuelle Heft könnt ihr hier kaufen.
Eine kleine Insel des Königreichs Tonga im Südpazifik: Orte wie diese faszinieren und inspirieren. Und sie zeigen uns, wie wir den Kampf gegen die Klimakrise meistern.