US-Wahlen 2020

„Joe Biden ist nicht das, was wir wollten”

Morris Huling lebt seit 2018 in Berlin und wird bei den US-Wahlen 2020 im November per Briefwahl für die Demokrat*innen stimmen. Er erzählt, wie das Leben in Europa seine Sicht als Afroamerikaner auf die USA fundamental verändert hat und warum er am liebsten Alexandria Ocasio-Cortez zur Präsidentin machen würde.

„Die US-Wahlen 2020 fühlen sich für mich so ähnlich an wie 2016. Wieder muss ich zwischen zwei Kandidat*innen wählen, die nicht gerade von den Linken gefeiert werden. Beide sind über 70 Jahre alte weiße Männer. Auch wenn diese Männer verschieden sind, ist Joe Biden für mich ein Repräsentant des Status quo, der keine Systemveränderung verspricht. Biden war nicht das, was wir wollten. Viele von uns jungen Amerikaner*innen haben sich Bernie Sanders gewünscht, der sich für eine gerechte Umverteilung des Wohlstands und eine bessere Krankenversicherung einsetzt. Ich habe nun Freund*innen, die sagen: ,Ich werde nicht an diesen Wahlen teilnehmen, weil ich mich nicht mit dem demokratischen Kandidaten identifizieren kann.’ Und das war das vorherige Mal genauso: Die Leute nahmen an, dass Hillary Clinton schon gewählt werden würde, und aus Protest wählten sie gar nicht. Doch dann kam das böse Erwachen. Unser System, in dem die Popular Vote nicht darüber entscheidet, wer letztlich Präsident*in wird, ist sehr antiquiert. Und unsere Zwei-Parteien-Struktur sorgt dafür, dass es immer nur darum geht, ein Feindbild zu reproduzieren: Wir und die Anderen. Das ist gefährlich, denn man sollte für jemanden wählen und nicht gegen jemanden. 2012 nahm ich meinen kleinen Bruder mit zum Wählen, und als er aus der Wahlkabine kam, seine Stimme für Barack Obama abgegeben hatte, gab er mir einen High five. Wir waren alle aufgeregt und motiviert, weil Obama ein Anführer war, der Veränderung versprach.

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Joe Biden hat kein Charisma, mit dem er die jungen Menschen in den USA begeistern kann. Wer dagegen immer noch begeistert, ist Trump. Obwohl 170 000 Menschen an Covid-19 gestorben sind, obwohl wir die größte Rezession seit der großen Depression haben, hat er seine Basis nicht verloren. Viele Menschen feiern ihn immer noch, und das darf man nicht unterschätzen. Die Leute wollen sich mit den Kandidaten identifizieren, Emotion ist im amerikanischen Wahlkampf das Wichtigste. Aber auch Kamala Harris ist keine Kandidatin, die Afroamerikaner*innen ohne Misstrauen befürworten können, obwohl es beeindruckend ist, wie weit sie als Schwarze Frau in diesem System gekommen ist. Sie hat viel getan, was der Schwarzen Community geschadet hat, vor allem auch mit ihrem harten Antidrogenkurs und ihrer strengen Strafverfolgung.

US-Wahlen 2020: Wir dürfen kein Risiko eingehen

Meine Traum-Wahl wäre Alexandria Ocasio-Cortez. Sie hat alle Eigenschaften, die man für die amerikanische Präsidentschaft braucht. Sie hat Charisma, sie kann die Menge einen und begeistern. Sie ist eine von uns. Sie hat durch ihren Hintergrund und ihr Aussehen eine Mehrdeutigkeit, die allen erlaubt, sich in ihr zu sehen: Sie stammt von puerto-ricanischen Einwander*innen ab, hat aber auch Vorfahren, die Schwarze Sklav*innen waren, sie arbeitete in einer Pizzeria, als sie sich für die Kongresswahlen aufstellen ließ, sie hat sich für ihr Studium verschuldet. Aber sie und Sanders stehen leider nicht zur Wahl. Und nun fühlen sich viele, vor allem Schwarze, hoffnungslos und haben das Gefühl, dass sich nie etwas verändern wird. Sie sagen: ,Ich würde es vorziehen, wenn die Republikaner*innen noch vier weitere Jahre regierten, damit die Demokrat*innen verstehen, was wir wirklich wollen. Dass wir echte Veränderung wollen.’ Aber das ist gerade nicht die Zeit für ein solches Risiko. Wir dürfen nicht dieselben Fehler machen wie bei Hillary Clinton, sonst wird Trump wiedergewählt werden.

US-Wahlen 2020: Der neoliberale Mythos Trump

Es gibt nicht wenige People of Color, die ihn immer noch unterstützen, weil wir in einem neoliberalen System leben, dessen Mythos ihn umgibt. Trump hat durch sehr effektives Marketing über Jahrzehnte das Bild aufgebaut, dass er den American Dream verkörpert. Diese Idee, dass jede*r Millionär*in
sein kann. Und dass du, wenn du das nicht schaffst, es einfach nicht genug gewollt hast, nicht hart genug gearbeitet hast, unabhängig von deinem Hintergrund. Dieses Narrativ ist in den USA immer noch sehr lebendig. Ich habe in den USA acht Jahre als Investmentbanker gearbeitet, war Teil der kapitalistischen Maschine, hatte ein schönes Apartment und war erfolgreich. Menschen wie ich, ein Schwarzer, der es geschafft hat, werden oft von den Rechten als Vorzeige-Beispiel missbraucht. Sie sagen: ,Oh, guck ihn dir an! Ihm geht es gut! Du kannst wie er sein!’ Aber das ist die absolute Ausnahme. Die meisten Schwarzen Menschen in den USA wachsen in Armut auf, sie besuchen. Schulen, in denen man durch Sicherheitsschleusen mit Metalldetektoren gehen muss, unterfinanzierte, gefährliche Schulen. Auch in New York gibt es nach Hautfarbe getrennte Schulen, darüber redet nur niemand. Die Segregation wurde im Norden genauso strukturell verankert wie im Süden. Und Joe Biden war ein Politiker, der dieses System getragen hat, er hat gegen die Busse gestimmt, die Schwarze Menschen aus den Vororten zu besseren Schulen bringen sollten.

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Wahltage sollten Feiertage sein, damit alle Amerikaner*innen wählen können
Morris Huling

Auch bei den Wahlen sehen wir eine Fortsetzung dieser diskriminierenden Struktur, unser System benachteiligt bewusst arme Menschen bei der Wahl: Sie verlieren einen Arbeitstag, weil sie fünf Stunden anstehen müssen, um zu wählen. Nicht alle können sich das leisten. Wahltage sollten Feiertage sein, damit alle Amerikaner*innen wählen können.

US-Wahlen 2020: Wirtschaft für den Menschen

In den USA war ich nicht glücklich. Als meine Partnerin und ich nach Berlin kamen, änderte sich unsere Perspektive. Wir begriffen, wie unfair unser System ist. Hier habe ich erfahren: Deinen Job zu verlieren muss nicht bedeuten, dass du auch deine Krankenversicherung und jede Sicherheit verlierst. Hier haben alle Menschen Zugang zu Bildung. Ich komme aus einem bescheideneren Haushalt, und für mich war der Zugang zu Bildung das Wichtigste. In den USA muss man für diesen Zugang kämpfen, sich verschulden. Hier habe ich verstanden, dass die Wirtschaft für die Menschen arbeiten muss, nicht andersherum. Und ich glaube, durch die Coronakrise haben das endlich auch viele Menschen in den USA begriffen. Gesundheit sollte nicht etwas sein, das von deinem Status und deiner Arbeitsproduktivität abhängt. Sogar die Trump-Regierung verteilt Schecks, um Individuen und die Wirtschaft in der Pandemie zu unterstützen, eine sozialstaatliche Maßnahme, die nichts mit dem zu tun hat, wofür Republikaner*innen normalerweise stehen. Auch die ärmeren, weißen Menschen im Süden begreifen auf einmal, dass sie verletzlich sind. Sie können ihre Arztrechnungen nicht bezahlen, verlieren ihre Jobs und sehen, dass sich unser Wirtschaftssystem verändern muss. Ich will jemanden, der darüber hinaus die Segregation unserer Gesellschaft beendet. Und ich glaube nicht, dass Joe Biden oder Kamala Harris das sein werden.“

Dieser Text ist Teil des Schwerpunktes „Vereinigt die Vielfalt“ der neuen Ausgabe, die am 04. September 2020 erscheinen wird.

Bild: Privat

Morris Huling wird  die Demokratische Partei wählen, auch wenn er nicht an Joe Biden glaubt.

Protokoll aufgezeichnet von Morgane Llanque

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