Neue Bodenpolitik
Dieter Rink, Stadtsoziologe am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig.
“Bezahlbaren Wohnraum in Deutschland werden wir nicht einfach wieder bestellen können. Die Wohnungspolitik ist in vielen Städten an ihr Limit gekommen, ihre klassischen Instrumente greifen kaum noch. Deutschland hatte lange viele preiswerte Wohnungen in öffentlicher Hand. Aber unter dem Einfluss des Neoliberalismus wurden sie in den 1990er- und 2000er-Jahren massiv abgebaut. Viele wurden verkauft, häufig an internationale Investor:innen. Städte haben privatisiert, auch um ihre klammen Kassen zu sanieren. Dresden etwa privatisierte 2006 alle 47.000 kommunalen Wohnungen. Seit 2017 gibt es dort wieder eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft. Sie auszubauen, dauert Jahrzehnte.
Wir haben die kommunale Wohnungspolitik in 14 deutschen Städten untersucht. Es ist ernüchternd: Von der Lösung ihrer lokalen Wohnungsfragen sind Städte weit entfernt. Fehler von Jahrzehnten lassen sich nicht in ein paar Jahren ausbügeln. Schon gar nicht, wo Baustoffpreise und Energiekosten steigen, Fachkräftemangel, hohe Zinsen und leere Stadtkassen den Spielraum der öffentlichen Hand einengen. Dabei zeigen uns zwei Städte durchaus, in welche Richtung die Reise gehen könnte: Ulm und – Überraschung – München.
Bebauungsrecht als Bremse gegen Spekulation
Ulm macht seit 125 Jahren eine aktive Bodenpolitik und hat damit auch in den 1990ern nicht gebrochen. Bodenbevorratung heißt das im Fachjargon, wir nennen es gern ,Schwabensozialismus‘. Er funktioniert so: Die Stadt Ulm vergibt nur ein Bebauungsrecht für ein Grundstück, wenn es ihr Eigentum ist. In großem Stil kauft sie daher Grundstücke, bevor sie bebaut werden. Als Eigentümerin kann sie dann eigenständig entscheiden, was mit ihnen geschehen soll, wer sie kaufen darf, welchem Konzept die Bebauung folgen muss und ob sozial- und klimapolitische Ziele Top-Priorität sind. Den Preis legt der Gemeinderat fest, meist liegt er deutlich unterhalb des Marktpreises. Dadurch sinken die Richtwerte für die Bodenpreise generell. Außerdem hat die Stadt ein Wiederkaufsrecht. Private Eigentümer:innen dürfen unbebaute Grundstücke, die einmal der Stadt gehört haben, nicht einfach an Dritte verkaufen, sondern müssen sie erst der Kommune anbieten – zum Ursprungspreis. Eine effektive Bremse gegen Spekulation. Und wenn Ulm ein Grundstück verkauft, wandert der Gewinn automatisch in den kommunalen Bodenfonds. Das Geld darf nur für den Kauf neuer Grundstücke oder die Pflege kommunaler Bestände ausgegeben werden. Und so gehört der Kommune ein Drittel des gesamten Stadtgebiets. Sie kann flexibel auf Missstände reagieren, ohne vom guten Willen irgendwelcher Investor:innen abhängig zu sein.
Der Boden ist der Knackpunkt für die Bezahlbarkeit von Städten. München, die teuerste Stadt Deutschlands, versucht daher mit einem Konzept der ,sozialen Bodenordnung‘ die schlimmsten Exzesse zu verhindern: Sie pumpt so viel Geld wie keine andere Stadt in Wohnungspolitik, zwei Milliarden Euro von 2023 bis 2028. Neubauten auf kommunalem Boden müssen zu 50 Prozent mit Sozialwohnungen bebaut werden, auf privatem Grund zu 30 Prozent. Das macht die Stadt zwar nicht billiger, bremst aber die steigenden Mieten immerhin ab. Die Münchener Initiative für soziales Bodenrecht, ein Bündnis von Stadtgesellschaft, Wissenschaft, Kommune, geht seit 2017 noch einen Schritt weiter. Sie stellt die Grundsatzfrage: Müssen wir nicht endlich einen rechtlichen Rahmen schaffen, um Boden genauso wie Luft und Wasser als öffentliches Gut zu schützen? Welche rechtlichen Wege gäbe es, um den Kommunen wieder mehr Zugriff auf städtischen Boden zu verschaffen, selbst wenn dafür das Recht auf Privateigentum neu gedacht werden muss? – Radikal? Mitnichten. Ohne innovative Ansätze bleiben bezahlbare Städte ein verlorener Traum.”
Häuser vorm Verkauf schützen
Jochen Schmidt, Mietshäuser Syndikat, Freiburg.
“Unsere Idee ist einfach: Wir wollen verhindern, dass Häuser auf dem Markt gehandelt werden, um Gewinn zu machen. Schließlich sind Häuser nicht irgendein Produkt, sondern lebensnotwendig. Menschen sollten sie zu einem fairen Preis nutzen können. Nachhaltig und gemeinwohlorientiert. Das war die Überlegung, als das Mietshäuser Syndikat vor fast dreißig Jahren in Freiburg gegründet wurde. Heute arbeiten gut 100 Ehrenamtliche dafür, mittlerweile haben wir knapp 190 Projekte bundesweit mitaufgebaut.
Das Mietshäuser Syndikat hat 1.300 Mitglieder. Manchmal hält man uns für Bauherren. Das sind wir nicht. Wir sind eine nicht-kommerziell organisierte Beteiligungsgesellschaft, die Gruppen ermöglicht, gemeinschaftlich Häuser zu kaufen und als Kollektiveigentum zu erhalten. Dafür machen wir zweierlei: Zum einen helfen wir Leuten, die ein Hausprojekt mit uns auf die Beine stellen wollen, bei der Umsetzung. Wir beraten Gruppen ab zehn Leuten. Sie brauchen schon eine konkrete Projektidee, egal ob Neubau oder Umbau. Wir geben ihnen Tipps, wie sie ihre Gruppenstruktur stabil organisieren den Finanzplan machen, Fördermittel beantragen, Privatinvestor:innen gewinnen können, helfen bei der Suche nach Architekt:innen, Buchhaltung, Steuerbüro. Jedes Hausprojekt gründet eine GmbH, 190 gibt es jetzt bundesweit. Die GmbHs managen ihren Hausalltag autonom, wählen Geschäftsführende, entscheiden, ob sie Hausmeister:innen wollen oder nicht. Aber sie müssen sich an einige Grundregeln halten.

Solidarisches Wohnen
Deshalb schließen wir zum anderen mit jedem Hausprojekt einen Vertrag ab. Er macht das Mietshäuser Syndikat zur Mitgesellschafterin und sichert uns ein Veto-Recht, damit wir im Zweifelsfall verhindern können, dass eine Projektgruppe ihr Haus doch irgendwann mal verkauft. Außerdem verpflichten wir alle 190 GmbHs dazu, dass sie Mieten deutlich unter dem Marktpreis nehmen. Im Rahmen dieser Vorgabe entscheiden die Hausprojekte über die genaue Miethöhe selbst. Zudem müssen alle Projekte auf die Miete einen Solidaritätsbeitrag aufschlagen, monatlich mindestens 10 Cent pro Quadratmeter. Mit diesem Solibeitrag unterstützen wir neue Hausprojekte.
Derzeit explodiert bei uns die Nachfrage, wir haben 10, 15 neue Projekte pro Jahr. Allerdings wird es immer schwieriger, sie umzusetzen. Baukosten und Zinsen steigen, energetische Sanierungen sind kaum noch finanzierbar. In Dresden und München mussten wir schon Projekte einstellen. Wir bräuchten eine bessere Förderung, durch Staat und Stiftungen etwa. Natürlich sind wir viel zu klein, um die Wohnungsnot zu lösen, aber wir können etwas anstoßen: Lasst uns Wohnen neu denken. Nachahmer:innen in Frankreich, Österreich, den Niederlanden haben wir schon. Und neue Ideen: ein Ackersyndikat, um nachhaltige Landwirtschaftsflächen dauerhaft zu sichern.“
Mehr Genossenschaften
In Zürich wohnt jede:r Fünfte in einer Genossenschaft. Das könnte Vorbild für Deutschland sein.
Morgens, wenn Franziska Rohner zu ihrem Büro in der Züricher Stadtmitte geht, vorbei am lichten Mosaik der Fassade aus Stein und Fensterglas des Wohn- und Gewerbehauses an der Badener Straße, durch den Innenhof mit seinen Spielplätzen, Sitz- und Schattenarealen, läuft sie manchmal schon den ersten Bewohner:innen der Kalkbreite über den Weg. Etwa 250 leben über dem alten Tramdepot der Stadt, das die junge Genossenschaft Kalkbreite, entstanden aus einer Initiative von Quartiersbewohner:innen, zu einem besonderen Lebensort umgebaut hat.
In der Kalkbreite gibt es Studios für Singles, kleine und mittlere Wohnungen für Paare und Familien, 6-Zimmer-Einheiten für Wohngemeinschaften und lose verbundene „Clusterwohnungen“ für Menschen mit Lust auf einen Mix zwischen Rückzug und Begegnung. Abgeschlossene Wohneinheiten teilen sich Küchenzeile und Wohnzimmer. Wer in der Kalkbreite Besuch bekommt, kann im Gasthaus ein billiges Zimmer buchen. Auf den Dächern blüht das Grün weitläufiger Gemeinschaftsterrassen, durchs Haus verteilt gibt es Wäschezimmer, Werkräume und gemeinsame Tiefkühltruhen, Bioladen, Fitnessstudio und Co-Working-Spaces. „Unser Konzept: Mehr kollektiver, weniger individueller Raum“, sagt Mitarbeiterin Franziska Rohner. „Für etwa dreißig Prozent weniger Miete als marktüblich.“
Die durchschnittliche Wohnfläche: 27,5 Quadratmeter pro Kopf. Die Regel: Maximal ein Zimmer mehr als Köpfe pro Wohnung. Wenn Kinder ausziehen oder Paare sich trennen, kann das also bedeuten: Koffer packen und etwas Neues suchen. Rohner: „Wenn irgend möglich bieten wir eine Alternative.“
Soziales Wohnen durch Solibeiträge
Die Kalkbreite gehört zu den Projekten in Zürich, die beispielhaft zeigen, wie wohnen auch anders gehen kann: Bezahlbar. Sozial. Nachhaltig. Viel Öko-Baumaterial, kleine Wohnflächen, Autoverzicht ist Auflage für die Bewohner:innen. Stattdessen gibt es Leihfahrräder, Lastenvelos und Tageskarten für die Öffentlichen gratis. Wer für 1.200 Schweizer Franken – knapp 1.300 Euro – einen Anteilsschein kauft, kann sich bewerben. Eine Vermietungskommission sorgt für eine Mischung, die dem Schweizer Durchschnitt in puncto Einkommen, Bildungsgrad, Herkunft, Religion, Familienstand entspricht. Wer es knapp hat, bekommt einen Zuschuss aus der Soliabgabe von 25 Rappen pro Quadratmeter, die alle zahlen müssen. Rohner lacht: „Und die Leute müssen natürlich Lust auf die Wohnform haben.“
Warum das geht? Weil die Stadt Genossenschaften massiv fördert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wohnt zur Miete, die höchste Quote europaweit. 18 Prozent leben in Genossenschaften. Die Projekte werden mit Geld aus Förderfonds von Stadt, Bund, Kanton und einem privaten Stiftungsfonds unterstützt. Geld vom Staat bekommen nur Projekte, die sich auf eine „Kostenmiete“ verpflichten. Gewinn verboten. Und die Züricher:innen wollen mehr Genossenschaften. Gerade stimmen sie ab: über einen neuen Wohnraumfonds für gemeinnütziges und genossenschaftliches Wohnen. Die Chancen stehen gut.
2021 hat die Genossenschaft Kalkbreite noch ein Wohnprojekt fertiggestellt, auf einem ehemaligen Bahngelände. Doch auch in Zürich wird der Boden in öffentlicher Hand knapp. „Sonst würden noch mehr Genossenschaftswohnungen entstehen“, sagt Rohner. Sie selbst wohnt nicht in der Kalkbreite, aber in der Nähe. Und wie? „In einer Genossenschaft natürlich.“
Kooperative Stadtentwicklung fördern
Stadtbaurätin Frauke Burgdorff setzt in Aachen auf das Miteinander von Kommune, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
Diese Woche war wieder vollgestopft mit Entscheidungen und Debattenforen. Jetzt sitzt Frauke Burgdorff im Zug Richtung Aachen und atmet tief durch. An allen Ecken in der Republik ist spürbar, wie Stadtentwicklung und Wohnen die Gemüter erhitzt, wie das Ringen um bezahlbare Städte sich als eines der Topthemen tief reindrängt in den politischen Alltag. Frauke Burgdorff mittendrin. Seit dreieinhalb Jahren ist sie Stadtbaurätin von Aachen und will etwas bewegen. Zum Beispiel: Alle Partner:innen an einen Tisch bringen, Kommune, Planer:innen, Unternehmen, Zivilgesellschaft, um gemeinsam Stadtentwicklung besser zu machen. „Wir müssen wohnen wieder mehr vom Quartier her denken, statt in Wohnkasernen“, sagt Burgdorff. Wer braucht was im Stadtteil, wie lassen sich Wohnungs- und Kiezplanung verzahnen? Von den Wohnformen bis zur Infrastruktur drumherum. Anlaufstellen für Junge, Alte, Familien, Start-ups, Fürsorge, Grünflächen. „Und alles gemeinsam entwickeln.“ Kooperative Stadtentwicklung nennt sich das, und sie könnte ein Hebel sein, um dem Ausverkauf der Städte etwas entgegenzusetzen.
Das alte Parkhaus in Aachens Altstadtquartier Büchel ist so ein Projekt. Burgdorf hat den kooperativen Planungsprozess als Stadtbaurätin seit 2019 begleitet. Stadtmacherprozess nennt sie das. Dafür hat die Kommune mit einem Aufruf alle Player:innen des Quartiers zusammengetrommelt. 88 Menschen haben sich gemeldet, gemeinsam wurde Runde um Runde diskutiert, Ideen entwickelt, die Hälfte der Teilnehmenden legte konkrete Vorschläge auf den Tisch: Hier will ich investieren, hier mitmachen. Inzwischen wurde beschlossen: Auf dem Gelände des alten Parkhauses entsteht eine Wiese, umrahmt von nachhaltigen Neubauten und kleinem Gewerbe. Jetzt geht es an die Umsetzung.
Burgdorff kennt die Szene, die sich um die kooperative Stadtentwicklung rankt. Sie war Geschäftsführerin des Europäischen Hauses der Stadtkultur, Vorständin der Stiftung Urbane Räume in Bonn, hat in ganz Deutschland Kommunen, Bürger:innen und Wohnungsunternehmen beraten und Konzepte für eine professionelle Zusammenarbeit erarbeitet. “Es braucht viele Akteure, die nach einem gemeinsamen Kompass handeln.” Und starke Bedürfnisse wie das Netzwerk “ImmoVielien“, das sich für bessere Rahmenbedingungen für gemeinwohlorientierte Immobilien- und Stadtentwicklung stark macht. “
In dem kollektiven Wohnprojekt SUSI wohnen derzeit 265 Personen.