1.161,5 Milliarden Euro wurden 2021 in Deutschland für soziale Leistungen ausgegeben – nämlich rund 400 Milliarden für Krankheit, 350 Milliarden fürs Alter (also insbesondere Renten), 125 Milliarden für Kinder, 100 Milliarden für Invalidität, 75 Milliarden für Arbeitslosigkeit und Wohnen und 60 Milliarden für Hinterbliebene sowie immerhin über 40 Milliarden als Verwaltungsausgaben. Das ist eine Menge Geld – nämlich rund ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Trotzdem lässt sich anzweifeln, ob es reicht, um Menschen ein soziales Mithalten zu finanzieren und vor einem ökonomischen Niedergang zu bewahren. Zu offensichtlich ist die Schieflage des heutigen Sozialstaates angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts:
Der demografische Wandel führt dazu, dass zu wenig junge Menschen nachfolgen, um alle zu er- setzen, die aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Die Folge: Der heutige Sozialstaat lässt zu, dass kommende Generationen durch stetig weiter steigende Rentenbeiträge über Gebühr belastet werden.
Der gesellschaftliche Wandel ergänzt und ersetzt das traditionelle Familienverständnis durch neue Formen des Zusammenlebens und ein anderes Rollenverhalten von Eltern. Private wie berufliche Brüche werden häufiger. Doch der Sozialstaat kann bislang nicht verhindern, dass alleinerziehende Frauen von heute die Altersarmen von morgen werden. Im Gegenteil: Der heutige Sozialstaat diskriminiert Frauen und privilegiert Männer.
Die Digitalisierung hat einen strukturellen Wandel ausgelöst, der dazu zwingt, Sozialversicherungen nicht mehr über Arbeitslöhne zu finanzieren, sondern stattdessen über die Wertschöpfung – also direkt da, wo Werte in der Herstellung von Gütern und Dienstleistungen geschaffen werden. Das heißt, Erträge von Automaten, Algorithmen und künstlicher Intelligenz sind in die Solidarpflicht miteinzubeziehen. Es kann und darf nicht sein, dass die Arbeit von Menschen über die Einkommenssteuer besteuert wird, die Arbeit von Robotern aber davon befreit bleibt. Beides muss steuerlich genau gleich belastet werden.
Bedingungsloses Grundeinkommen für alle
Das Grundeinkommen will diesem demografischen, gesellschaftlichen und strukturellen Wandel gerecht werden. Es wird vom Staat ein Leben lang – also vom Säugling bis zur Greisin – in identischer Höhe an jeden einzelnen Menschen ausbezahlt, völlig unabhängig davon, mit wem sie wie leben, wie alt sie sind oder was sie tun. Und es wird aus der gesamten Wertschöpfung der Wirtschaft finanziert.
Natürlich würde es billiger, wenn Kinder nur etwa die Hälfte des Grundeinkommens erhielten. Als Mitwohnende in einem Familienhaushalt verursachen sie schließlich geringere Alltagskosten als Erwachsene. Die direkten Unterhaltskosten sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Viel gravierender: die indirekten Kosten, insbesondere in Form des Zeitaufwands für die Kinderbetreuung und -erziehung. Wer Kinder hat, tut sich schwer, Freiräume zu finden, die für berufliche Zwecke genutzt werden könnten. Oft gilt es, die Entscheidung „Kind oder Karriere“ zu treffen. Dass die Verzichtskosten nicht nur Kleckerbeträge, sondern gewaltige Summen darstellen, wissen vor allem Frauen. Noch immer sind es meist Mütter, die wegen des Nachwuchses auf eigene Berufserfolge und damit verbundene höhere Gehälter verzichten. Wem Fachkräftemangel und demografische Alterung Sorgen bereiten, muss daran interessiert sein, dass mehr Kinder geboren werden. Ein Grundeinkommen in gleicher Höhe auch für Kinder könnte das begünstigen.
Menschen sollen immer wieder von Neuem ermächtigt werden, sich geänderten Umständen rasch anpassen zu können – ohne große Bürokratie, Anträge oder Auflagen. Grundeinkommensmodelle verstehen gebrochene Lebensläufe nicht als Ausnahme, sondern als Regel. Sie behandeln berufliche Neuorientierung nicht als Bedrohung, sondern als Notwendigkeit.
Warum bedingungslos so wichtig ist
Weil niemand weiß, wie die Digitalisierung das Zusammen- leben und die Wirtschaftswelt verändern wird, weil Komplexität und Ungewissheit zunehmen, sollten sozialpolitische Maßnahmen nicht zu viele Vorgaben machen oder Bedingungen festlegen. Zu groß ist ansonsten die Gefahr, Anreize zu setzen und Signale auszusenden, die nicht mehr dem Lebensalltag des 21. Jahrhunderts entsprechen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn Erwerbslose von Arbeitsagenturen in Jobs gedrängt werden, die eigentlich längst durch Maschinen erledigt werden könnten. Seien es Selbst-Check-out-Automaten statt Kassierer:innen oder automatische U-Bahnen. Deshalb ist die Forderung nach einer „Bedingungslosigkeit“ der Sozialpolitik in Form eines Grundeinkommens so wichtig. Denn wer kennt schon die „richtigen“ Bedingungen in einer Welt des raschen Wandels?
Im Kern ist das Grundeinkommen nichts anderes als eine fundamentale Steuerreform. Es bündelt alle sozialpolitischen Maßnahmen in einem einzigen Instrument, dem bedingungslos und steuerfrei ausbezahlten Grundeinkommen. Dabei ist natürlich die Frage entscheidend, wie weit das Grundeinkommen den heutigen Sozialstaat und insbesondere die Sozialversicherungen fürs Alter und im Falle von Krankheit, Pflege oder Arbeitslosigkeit ergänzen oder ersetzen soll. Logisch ist: Je mehr gefordert wird, zu ergänzen, statt zu ersetzen, umso höher werden die Finanzierungskosten sein.
Fair finanziertes „Geld für alle“
Das Grundeinkommen soll an alle in gleicher Höhe ausbezahlt werden. Damit wirkt es „regressiv“: Für Menschen mit wenig Geld sind Tausend Euro viel bedeutsamer als für Wohlhabende, die Millionen haben. Finanziert wird das „Geld für alle“ durch die direkte Steuer. Das wiederum wirkt sich „progressiv“ aus: Wer besser verdient, wird mit einem höheren Steuersatz belastet und muss somit mehr zur Finanzierung des Grundeinkommens beitragen als jemand, der wenig oder keine Einkünfte hat. Dazu ein einfaches, fiktives Beispiel für ein monatliches Grundeinkommen von 1.000 Euro: Wenn der Steuersatz auf alle Einkünfte 50 Prozent beträgt, zahlt eine Professorin mit 10.000 Euro Monatseinkommen brutto 5.000 Euro Steuern. Sie verfügt dann über 6.000 Euro – nämlich 5.000 aus ihrem Netto- Einkommen plus die 1.000 Euro Grundeinkommen. Das Grundeinkommen wirkt wie eine Steuer-Rückerstattung beim finalen Steuerbescheid des Finanzamts. Denn es verringert die tatsächliche Steuerlast auf das Einkommen von 5.000 Euro um 1.000 Euro auf 4.000 Euro. Somit bezahlt die Professorin am Ende 40 Prozent Einkommenssteuern. Folglich finanziert sie mit ihren Steuern bei Weitem ihr eigenes Grundeinkommen selbst.
Arbeiten lohnt sich trotzdem
Eine Reinigungskraft, die 2.000 Euro brutto verdient, zahlt 1.000 Euro Steuern. Sie verfügt dann über 2.000 Euro – nämlich 1.000 aus ihrem Netto-Einkommen plus 1.000 Euro Grundeinkommen. Ihre tatsächliche Steuerlast ist also Null – sie zahlt 1.000 Euro Steuern, erhält aber genau denselben Betrag in Form des Grundeinkommens zurück. Ein Grundeinkommen respektiert somit Leistungsanreize. Es stellt sicher, dass wer mehr eigenes Einkommen selbst erwirtschaftet, über mehr Geld verfügt, als wer weniger verdient oder gar nur auf staatliche Hilfe setzt.
Ein aktuelles Beispiel liefert eine weitere Veranschaulichung. Um die finanziellen Auswirkungen der stark gestiegenen Energiekosten für die Menschen und die Wirtschaft abzumildern, hat die Ampelregierung im laufenden Jahr mit drei Entlastungspaketen ein Volumen von insgesamt rund 95 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Stattdessen hätte sie an alle 84 Millionen in Deutschland lebenden Personen 1.130 Euro ausschütten können. Ein Vierpersonenhaus- halt hätte dann selbstständig entscheiden können, wie und wozu er die 4.520 Euro verwenden möchte. Und die Elektroauto-Besitzerin hätte sich nicht fragen müssen, was ihr ein Tankrabatt hilft. Genauso wenig, wie Menschen in dünn besiedelten Regionen mit einem 9-Euro-Ticket nichts anfangen können, wenn eh kein Bus fährt.
Wie viel mehr Steuern Besserverdienende zahlen sollen als Geringverdienende, ist eine Frage, die politisch beantwortet werden muss. Mit dem Grundeinkommen an sich hat das nichts zu tun. Das Grundeinkommen ist lediglich Instrument des Steuersystems und organisiert die Umsetzung.
Verteilungseffekte beachten
Allerdings ist es wichtig und richtig, die Verteilungseffekte zu hinterfragen, die sich aus einem Grundeinkommen ergeben. Denn je nach Netto-Steuerbelastung werden die Anreize beeinträchtigt, wirtschaftlich mehr leisten zu wollen. Wenn im fiktiven Zahlenbeispiel das Grundeinkommen auf mehr als 1.000 Euro erhöht würde, dann müsste auch der Steuersatz von 50 Prozent nach oben gesetzt werden. Ein Steuersatz von 60 oder 70 Prozent dürfte sich negativ auf Motivation und Leistungsbereitschaft auswirken und Steuervermeidung und -hinterziehung provozieren. Die meisten Menschen sind nicht begeistert, wenn sie mehr verdienen, aber davon einen ihrem Empfinden nach viel zu großen Teil in eine gemeinsame Kasse einzahlen müssen, die dann alle speist.
Gewährt die Politik lediglich ein geringes Grundeinkommen, kann sie das auch mit milden Einkommenssätzen finanzieren. Dadurch verbleibt viel Geld in der Tasche der ökonomisch Leistungsstarken – und erhöht ihren Leistungsanreiz. Das wiederum mögen viele, die wenig haben oder sich ein hohes Grundeinkommen erhoffen, als unfair bewerten. Was bedeutet es aber konkret für den heutigen Sozialstaat? Wenn die derzeitige Wertschöpfung in Deutschland mit 50 Prozent besteuert würde, ließe sich damit ein Grundeinkommen in Höhe von 1.000 Euro für alle finanzieren. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass alle Sozialversicherungen (also Renten-, Kranken-, Arbeits- und Pflegeversicherungen) genauso wegfallen wie die Sozialversicherungsbeiträge, die heute unselbstständig Beschäftigte zu entrichten haben. All das würde das Grundeinkommen ersetzen. Das verdeutlicht auch, dass 50 Prozent Einkommenssteuern für die meisten weniger teuer kämen als die heutige Steuerbelastung. Denn neben der Lohnsteuer müssen heute auch die Sozialversicherungsabgaben etwa für Krankenversicherung bezahlt werden. Insgesamt betragen sie momentan fast 40 Prozent des Bruttoverdienstes.
Bedingungsloses Grundeinkommen: gerecht, einfach und transparent
Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist nicht nur radikal gerecht, einfach und transparent. Es ist zugleich ein zutiefst liberales wie egalitäres und individualistisches Konzept:
Es ist liberal, weil es an staatliche Hilfe keine paternalistischen Vorbedingungen knüpft. Es wird bedingungslos allen, unbesehen persönlicher Verhaltensweisen und Eigenschaften, Lebens- oder Familienformen gewährt. Niemand überprüft, ob es gute oder schlechte Gründe für eine Unterstützung gibt. Niemand koppelt staatliche Hilfen an bestimmte Bedingungen, die in Zeiten steigender Ungewissheit niemand im Voraus kennen kann. Die Pandemie(bekämpfung) hat gezeigt, dass systemische Risiken alle treffen können. Das gilt auch für die Folgen von Erderwärmung oder Artensterben oder des Kriegs in der Ukraine.
Es ist egalitär, weil es alle gleich und gleichermaßen behandelt: Unabhängig von Alter, Geschlecht, Familienstand, Beruf, Qualifikationen und Kenntnissen oder Wohnort garantiert der Staat allen ein soziokulturelles Existenzminimum – nicht mehr und nicht weniger. Das Grundeinkommen anerkennt ein stets und bedingungslos gewährtes Grundrecht auf gesellschaftliche Mindestteilhabe. Es verzichtet auf Kontrolle (Stichwort Hartz-IV-Sanktionen) und Gegenleistung und gibt damit allen Bürger:innen einen Vertrauensvorschuss – so wie es bei Jugendlichen mit dem Kindergeld selbstverständlich ist. Damit schafft es für viele Menschen eine finanzielle Basis für Teilhabe, verantwortliches Handeln und gesellschaftliches Engagement.
Es ist individualistisch, weil es dem sozioökonomischen Wandel Rechnung trägt. Es bricht mit der Illusion traditioneller Familienformen und einer lebenslang ungebrochenen Erwerbsbiografie. Das Problem der oft schwierigen und gelegentlich gar willkürlichen Definition von Bedarfsgemeinschaften und der gegenseitigen Anrechenbarkeit von Einkommen oder Vermögen stellt sich beim Grundeinkommen nicht. Ebenso entbehrlich ist ein kostenintensiver Kontrollaufwand.
Ja, ein Grundeinkommen setzt auf Leute, die motiviert sind, etwas zu leisten. Denn unsere Zukunft hängt von den Leistungswilligen und -fähigen ab. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Firmen und damit das gesamtwirtschaftliche Wohlstandsniveau werden durch die Kreativen, die Innovativen und die Leistungsträger bestimmt. Sie müssen genauso gefördert werden, wie die Schwächeren gegen Not und Elend abzusichern sind. Nicht alle werden die sich bietenden Möglichkeiten nutzen. Aber wenigstens stehen die neuen Chancen allen offen.
Das Grundeinkommen rettet Menschen vor einem ökonomischen Absturz. Und es bewahrt liberale Gesellschaften vor dem politischen Untergang. Der droht, wenn die Bevölkerung in Zeiten der Unsicherheit, steigender Energiekosten und Preise für Alltagsgüter das Vertrauen in Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft als beste Versicherung gegen systemische Veränderungen verliert.
Ein Grundeinkommen könnte in Zeiten der Dauerkrise einen Schutzschild bieten.