Der Münchener Zeitberater Jonas Geißler ist in einem ziemlich entschleunigten Haushalt aufgewachsen. Das hat ihn nicht nur zu einem Menschen gemacht, der gelassen wirkt. Es bestimmt auch sein Berufsleben: Er will Menschen in Unternehmen und Organisationen zu einem sinnerfüllenderen Umgang mit ihrer Zeit bewegen
Ein Freitagnachmittag in einem großen Konferenzraum. Von den ansteigenden Sitzreihen blicken rund 200 Zuhörer auf einen schlanken jungen Mann mit Jacket und Wildlederschuhen, lässig ans Rednerpult gelehnt. Jonas Geißler, 39, ist Trainer, Unternehmensberater, Speaker, Autor. Sein Thema: die Zeit. Und unser Umgang mit ihr. Er beginnt seinen Vortrag mit einem Experiment. „Stellen Sie sich doch mal vor“, sagt er, die Zuhörer fest im Blick. „Sie legten im Büro eine halbe Stunde die Füße auf den Tisch. Wenn jemand vorbei käme und fragte, huch, was machen Sie denn da?, dann würden Sie antworten: Nichts! Gar nichts! Ich habe Zeit.“ Lautes Lachen. Im Zeitalter des Zeitmangels ist offensiver Müßiggang eine sehr befremdliche Vorstellung. Geißler lässt die Zuhörer lachen. Dann ruft er: „Ja, genau, das ist schwer! Zeit zu haben gilt als verdächtig. Wir leben schließlich in einer Welt, in der erfolgreich ist, wer keine Zeit hat.“
Geißler kommt sehr sympathisch rüber bei diesem Vortrag. Genau wie in Wissenssendungen im Fernsehen, bei Radionterviews, in den Gesprächen für dieses Porträt; der Umstände halber via Skype geführt, denn Geißler ist gerade mit seiner Frau und den drei Kindern für vier Monate Auszeit ins britische Bristol gezogen. Egal auf welchem Kanal: Er wirkt konzentriert und gleichzeitig locker, formuliert präzise, ist offen und präsent. Jonas Geißler, Sohn des bekannten Münchener Zeitforschers Karlheinz Geißler, macht seine Arbeit offensichtlich gern. Das ist die eine Erklärung für die Sympathie, die er weckt. Die andere ist seine Botschaft. Wir hören sie gerne, wir Zeitknapser und Dauergestressten. Wir möchten nichts lieber, als dem Mann da vorne zu glauben, wenn er sagt: Wir alle haben Zeit. Es kommt nur darauf an, wie wir mit ihr umgehen.
Geißler Junior ist „Zeitraumberater“, so beschreibt er sich selbst. Er sagt Menschen in Unternehmen oder Organisationen, wie sie bewusster und sinnerfüllender mit ihrer Zeit umgehen können. Seine Methode ist nicht, mehr Effizienz in ohnehin gnadenlos überladene Tage zubringen, sondern Eingefahrenes in Frage zu stellen – und Freiräume für eine selbstbestimmtere Zeiteinteilung zu suchen. Zum Wohle aller, der Unternehmen wie ihrer Mitarbeiter. Was seine Beratung bewirken könne, beschreibt Geißler so: Klarheit schaffen, Inspiration erzeugen, Begeisterung entfachen, Ballast abwerfen, Zeit genießen, Kraft schöpfen, Abstand gewinnen, Einstellungen verändern.
Im Team mit dem Vater
Jonas Geißler ist seit vielen Jahren mit dem großen Thema Zeit unterwegs. In verschiedenen Rollen: Mit seinem Vater, einem emeritierten Wirtschaftspädagogen, und dem Kollegen Frank Orthey betreibt er seit zehn Jahren das Zeitberatungsinstitut „timesandmore“ in München. Manche Vorträge halten Karlheinz, 74, und Jonas Geißler noch gemeinsam, „gerne mit ein paar Tagen Vater-Sohn-Zeit im Anschluss“. 2015 haben sie zu zweit ein Buch geschrieben, „Time is honey“. „Wir betrachten die Dinge aus unterschiedlichen Alters- und Lebensphasen“, sagt der Sohn, „mein Vater mit viel Zeit für sich, fürs Forschen und Schreiben – und ich als Familienvater und Freiberufler in diversen Abhängigkeitsverhältnissen. Inhaltlich ist dieser Unterschied von großem Nutzen.“ Daneben hat Jonas Geißler 2010 mit Kollegen aus seiner Trainer-Ausbildung die Genossenschaft Manemo gegründet – eine „Akademie für nachhaltige Entwicklung von Mensch und Ökonomie“. Sie berät in Veränderungsprozessen und auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit – sowie im Umgang mit Zeit.
Zum Thema sind Vater wie Sohn durch ihre Kindheit gekommen. Karlheinz Geißler bremste die Kinderlähmung im Alter von fünf Jahren aus – zunächst durch ein Jahr im Krankenhaus, dann ein Leben lang. Rennen war keine Option mehr. Aus der erzwungenen Langsamkeit wurde sein Lebens- und Berufsthema. Auch Jonas Geißler hat das geprägt. „Komm schnell, der Bus kommt“, lacht er, „das gab es in unserer Familie nicht. Wir sind entweder früh losgegangen oder haben eben länger gewartet.“
Wie wächst man auf als Kind eines Vaters, der keine Uhr trägt? Der sagt: „Keine Zeit hat man nie – es sei denn, man ist tot.“ Der die Formulierung „Keine Zeit, leider!“ aus seinem Sprachschatz gestrichen hat und stattdessen erklärt: „Ich möchte nicht. Etwas anderes ist mir wichtiger.“ Gibt einem eine solche Haltung nicht ein wunderbares Grundgerüst mit, das sich andere mühsam erarbeiten müssen oder in Workshops erlernen?
Wie nutzt man die Zeit sinnvoll?
Jonas Geißler grinst vor seinem Laptop in Bristol, der auf einem Campingtisch steht und ein bisschen wackelt. „Glauben Sie nicht, dass es bei uns immer ruhig und gelassen zugegangen wäre. Aber wir haben viel über Zeit gesprochen. Es hat gedauert, bis ich wirklich verstanden habe, was mir meine Eltern mitgegeben haben. Inzwischen weiß ich es: die Perspektive wechseln und die eigenen Handlungsmuster in Frage stellen zu können.“
Heute will er die Leute zum Nachdenken über ihre eigenen Limitierungen bringen. Wie mit dem Vorschlag, mal eine halbe Stunde die Füße auf den Schreibtisch zu legen. In zweitägigen Seminaren macht Geißler oft am Ende des ersten Tages ein kleines Experiment. „Es ist 17 Uhr, das Seminar endet eigentlich um 18 Uhr. Aber ich schenke Ihnen jetzt mal eine Stunde freie Zeit.“ Viele zücken dann ihr Handy und checken die Mails. „Unsere Muster sind mächtig“, sagt Geißler.
Er ermuntert seine Teilnehmer, sich folgende Frage zu beantworten: Wenn ich Zeit gewinne, wie will ich sie verwenden? Meistens kommen sie schnell auf konkrete Dinge, die Sehnsucht zum Beispiel, sich einmal in Ruhe in etwas zu vertiefen. „Das ist der erste Schritt, wenn man etwas verändern will. Danach kann man überlegen, wie man da hinkommt. Dinge weglassen, Dinge abgeben, an den eigenen Ansprüchen arbeiten – oder auch einfach: Dinge schneller machen.“
Haarscharfe Ambivalenz
Wo verläuft die Trennlinie zwischen dem persönlichen Interesse des Mitarbeiters und dem Wunsch seines Unternehmens nach mehr Effizienz? Auf welcher Seite steht Geißler – oder muss er sich überhaupt auf eine Seite schlagen? „Nein“, sagt er nach einigen Sekunden Nachdenken. „Aber die Schneide ist haarscharf. Die Gefahr besteht, dass ein besseres Zeitmanagement Ursachen ausgleichen soll, die im System liegen – zum Beispiel zu viel Arbeit für zu wenige Mitarbeiter. Ich thematisiere diese Ambivalenz.“ Die Reaktionen nach seinen Seminaren reichen von Euphorie („Sie haben mir die Augen geöffnet!“) bis zu blankem Zynismus („Sie wollen doch nur, dass ich mich selbst optimiere.“). Er selbst sieht den größten Nutzen darin, zu ergründen, worin man eigentlich verstrickt ist: „Ganz frei ist niemand. Aber eben auch nicht ganz gefangen.“
Höchstens in der Art, wie wir über Zeit sprechen. Sehr mangelorientiert, findet Geißler. Ständig erzählten ihm Menschen, dass sie zu wenig fokussiert seien, zu langsam. Dass ihnen einfach die Zeit fehle! Da hakt er ein. „Unsere Zeitknappheit gibt uns Wichtigkeit – wir wollen gerne zu den Vielbeschäftigten und Gefragten gehören.“ Er rät, innere Antreiber zu entlarven. Glaubenssätze wie „Sei perfekt!“ oder „Mach es allen recht!“. Und ihnen etwas entgegenzusetzen. Eine Let-it-be-Liste zum Beispiel. Was lasse ich sein, was kann ich streichen? Das befreie ungemein.
Geißler hätte in Bristol auch mal vier Monate lang die Füße auf den Tisch legen können. Den Kunden schreiben, dass er raus sei und keine Mails lese. „Da hatte ich aber keinen Bock drauf. Ich arbeite einfach gerne, im richtigen Maß.“ Der Ausflug nach Bristol sei erfrischend, „wir haben wenig Zeug dabei, sind fremd, aber nicht zu fremd, die Familie lebt in einem neuen Modus.“ Sagt er, stößt nochmal an den Campingtisch und verabschiedet sich dann mit dem sehr freundlichen Hinweis, dass er jetzt zur Schule gehen wolle, die Kinder abholen, und dann rausgehen mit ihnen – Bristol entdecken.
Wir alle wollen unsere Zeit möglichst sinnvoll nutzen