Unter schwierigsten Bedingungen

Wie die Menschen von Beirut ihre Heimat wiederaufbauen

Nach der schweren Explosion im Hafen von Beirut, setzen sich die Menschen vor Ort für ihre Stadt ein. Sie beseitigen Trümmer, dokumentieren die Schäden und zeigen Solidarität. Auf die Regierung warten sie nicht. Doch während sich etliche Freiwillige unermüdlich engagieren, behindern die strukturellen Probleme im Libanon den gesellschaftlichen Heilungsprozess.

Wie er überlebt hat, weiß Eddy Bitar nicht. Es muss Glück gewesen sein, dass ein großes Stück Glas ihn „nur” im Schulterblatt traf. „Hätte ich den Reflex gehabt und mich weggedreht, wäre es vielleicht das Herz oder der Brustkorb gewesen.” Seine Mutter brach sich Wirbel, sein Bruder wurde so schwer verletzt, dass er sich schon von Eddy verabschiedet hatte. Das Elternhaus ist zerstört.

Der 36-Jährige sitzt an einem provisorischen Schreibtisch inmitten des Großraumbüros der „Beirut Disaster Management Response Unit”, sichtlich erschöpft von der Arbeit der vergangenen Wochen. Braune lockige kurze Haare, ein grünes T-Shirt, eloquent formulierte Antworten. Bitar hat etwas typisch Startup-Gründer-haftes, ein rastloser, scharfer Geist, immer zwei Schritte voraus, sogar wenn er müde ist. Zusammen mit Youmna Chamcham hat er vor acht Jahren die Organisation LiveLoveBeirut gegründet, um die nachhaltige Entwicklung Beiruts und von Kommunen im ganzen Land zu verbessern in Form von Umweltschutz-, Frauenrechten und Recyclingbewegungen.

Eddy Bitar ist Gründer der Organisation LiveLoveBeirut, die sich als Reaktion auf die Katastrophe im Hafen von Beirut binnen weniger Tage in das „Beirut Disaster Management Response Unit” umgewandelt hat. Er hat die Explosion selbst knapp überlebt und organisiert nun den Wiederaufbau der Stadt.
Bild: LiveLoveBeirut

Als jedoch am 4. August im Beiruter Hafen 2750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten und große Teile der Stadt zerstörten, wurde LiveLove binnen weniger Tage zur „Disaster Management Response Unit” umgewandelt, aka #RebuildBeirut.

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Eine Art Parallel-Regierung stützt den Wiederaufbau

„Am Anfang kamen alle auf den Straßen zusammen und räumten auf“, sagt Bitar durch seine schwarze Maske, auf deren unteren Rand LiveLoveBeirut gestickt ist, froh, etwas zu tun. Gleichzeitig fühlten sich alle schuldig, überlebt zu haben – es gab so viele Tote und 30 000 Gebäude wurden zerstört”.

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Laut Angaben der UN Organisation OCHA kamen bei der Explosion 190 Menschen ums Leben, mehr als 6000 wurden verletzt, rund 300 000 verloren ihr Zuhause. Weltbank, UN und EU schätzen die Schäden auf bis zu 3,8 Milliarden Euro ein.

Im Trauma der ersten Tage, in denen Bitar zwischen Krankenhaus und Zuhause hin und her rannte, beobachtete der Unternehmer den Tatendrang der Menschen, die mit Besen und Schaufeln den Schutt und das Glas beseitigten, auch in seinem Haus. „Aber wir hatten ein Problem: Es gab keine zentrale Stelle, die das Ganze organisiert.”

Bitar löst Probleme. In Abwesenheit eines funktionierenden Staatsapparats schuf er eine Art Parallel-Regierung, innerhalb von zwei Wochen. Im Eingang der DMRU hängt das Organigramm der Notfalleinheit, das genau zeigt, wer für was zuständig ist. Die vielen Menschen, die sich hier vornehmlich als Freiwillige engagieren, sind fast alle unter 30. Ingenieure, Architekten, Mediziner, – sie sind alle Studenten oder arbeitslos.

Relief Coalition: 50 NGOs organisieren sich

Die DMRU kanalisiert Hilfsanfragen und matcht sie mit Gebern. Im Callcenter werden Anrufe und Whatsapp-Nachrichten entgegengenommen, verifiziert und ein Profil der Bedürftigen erstellt. Dann gehen die Profile an die relevante Stelle – das Ingenieursteam, das Warenhaus, die psychologische oder medizinische Betreuungsstelle. Dafür hat ein IT-Team eine Datenbank erstellt. Anfragen werden entweder direkt bearbeitet oder an spezialisierte NGOs weitergeleitet, die die Kapazitäten für eine derartige Datenbank nicht haben. Bitar erzählt, dass sie Teil der Beirut Relief Coalition sind, in der sich 50 NGOs zusammengetan haben, um den Wiederaufbau zu koordinieren.

Die DMRU kanalisiert Hilfsanfragen und matcht sie mit Gebern. Im Callcenter werden Anrufe und Whatsapp-Nachrichten entgegengenommen, verifiziert und ein Profil von Bedürftigen erstellt.
Bild: LiveLoveBeirut

Explosion im Hafen von Beirut erschütterte die Stadt

„Die Regierung hätte sowas machen sollen. Sie haben die Gelder und die Institutionen, aber wie alles in diesem Land ist sie korrumpiert und funktioniert nicht richtig”, sagt Bitar.

„Hochrangige Beamte wussten angeblich sechs Jahre lang von der Lagerung von Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut, aber handelten nicht. Das zeigt wie eklatant die öffentliche Sicherheit missachtet wird”, schrieb Iman Nuwayhid, Professor und Dekan der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der American University of Beirut in einem Kommentar. „Jetzt lehnt sich der Staat zurück”, sagt er. „Die libanesischen Bürger haben diese Lücke gefüllt. Sie gingen auf die Straße, um die Trümmer zu beseitigen, demonstrierten Solidarität, Einfallsreichtum und Stärke.”

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Was am 4. August im Beiruter Hafen passiert ist, brachte das seit Jahren bis zum Rand gefüllte Fass der libanesischen Geduld zum Überlaufen. Schon vorher ging es dem Land schlecht, schon vorher waren die Menschen wütend.

Sechs Wochen sind seither vergangen. Der Staub über Beirut hat sich gelegt. Glas und Schutt sind von den Straßen verschwunden. Es bleiben die Trümmer der Wohnhäuser und Industrieanlagen von Karantina, und der Restaurants, Bars und kulturellen Institutionen von Gemmayze und Mar Mikhael, dem historischen Herzen der Stadt. Fassaden klaffen offen, Balkone hängen wie zertretene Blüten an ihnen herab.

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„Das alte System ist am bröckeln”

Teams von Freiwilligen in bunten Westen ziehen von Haus zu Haus, um die Schäden zu dokumentieren, Bauarbeiter installieren Fenster und Türen, sichern die vielen einsturzgefährdeten Strukturen mit Aluminium. Zelte von Nichtregierungsorganisationen reihen sich aneinander. An jeder Ecke steht das Militär. Der Staat ist abwesend. Und die Aufgabe, die vor dem Libanon liegt, ist enorm: Die Weltbank schätzt die Kosten für den Wiederaufbau auf rund zwei Milliarden Euro.

Als Lehrbeauftragte an der American University of Beirut arbeitet die Politologin Carmen Geha jeden Tag mit jungen Menschen. „Es passiert etwas, das alte System ist am bröckeln.” Doch es wird Zeit brauchen, bis die alten Politiker ihre Positionen räumen, „das geht nicht von heute auf Morgen. Für sie sind die nächsten sechs bis acht Monate von großer Wichtigkeit, „denn die jungen Menschen müssen ihre Würde und ihre Handlungsfähigkeit wiedererlangen”. Dass sie die haben, hat man im vergangenen Jahr gesehen.

Ein Schlüsselmoment war der Oktober 2019. Auf dem Martyrerplatz in Beirut, erklärten die Menschen die „Thawra”, die Revolution, mit der sie gegen ein funktionsgestörtes politisches System protestieren, in dem Machtpositionen an Konfessionsgruppen geheftet sind und es Politikern ein leichtes Spiel ist, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Jahrelange, strukturelle Korruption hat zum schrittweisen Kollaps des Landes geführt.

Jener Monat markierte in dieser Entwicklung ein neues Kapitel. Nachdem die Banken die angesammelte Schuldenlast nicht mehr bewältigen konnten, stürzte der Libanon in eine wirtschaftliche Krise. Der libanesische Pfund verlor 80 Prozent seines Wertes, der Kurs von 1500 Lira, an den die libanesische Währung seit 23 Jahren an den Dollar gebunden war, liegt auf dem Schwarzmarkt inzwischen bei 7500 libanesischen Pfund.

Die Lebensmittelpreise stiegen, Mehl und Zucker verteuerten sich fast um das Doppelte. Der Strom wurde rationiert, die Wasserversorgung ist bereits seit Jahren unzureichend.

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Beirut: Krise seit Jahrzehnten

Hinzu kommt die seit Jahren anhaltende Krise in der Entsorgungswirtschaft und die Herausforderungen, die mit der Aufnahme der höchsten relativen Anzahl an Geflüchteten auf der Welt einherkam. Von insgesamt sechs Millionen Einwohnern sind 1,5 Millionen dokumentierte Syrer. Rund 200 000 registrierte Palästinenser leben bereits seit 1948, dem Gründungsjahr Israels, ohne Staatsangehörigkeit in Lagern.

„Es gibt keine Regierung.” Ein Satz, den man immer wieder hört in diesen Wochen. Kasem Kazak hat sich gleich zwei Problemen des Landes angenommen: dem Müll und den papierlosen Geflüchteten. „Wenn die Zivilgesellschaft nicht wäre, gäbe es das Land schon lang nicht mehr.”

Als Palästinenser ist der 37-Jährige in einer dauerhaft prekären Position. Er wurde in Dubai geboren und kam in den 90ern in den Libanon, wo Palästinenser seit ihrer Vertreibung vor 72 Jahren in einer Grauzone leben. Verteilt auf zwölf Camps von jeweils einem Quadratkilometer Größe, gelten sie im Libanon bis heute als „Ausländer”. Sie haben weder einen Reisepass noch Zugang zum libanesischen Bildungs- und Gesundheitssystem. Kazak, der als Geflüchteter gilt ohne nie geflüchtet zu sein merkte, dass ihm nichts anders übrig bleibt, als seine Probleme selbst zu lösen.

Er zieht seine vom vielen Tragen ausgeleierte hellblaue Einmalmaske über Mund und Nase. Er trägt die Maske halb aus Höflichkeit, halb deshalb, weil er als Palästinenser viel eher von der Polizei angehalten wird, als ein Libanese – 50 000 Lira Strafe. 27 Euro zum offiziellen Kurs. Aber in Zeiten der Hyperinflation, wo Lira nur noch ein Achtel ihres Wertes haben, ist das viel Geld.

RecycleBeirut: Einsatz gegen das Müllproblem

Vom Sassine Platz in schicken Ashrafieh fährt er Richtung Süden, wo das Warenhaus von RecycleBeirut ist. Er gründete das Startup vor sechs Jahren, als sich die Müllproblematik in der Stadt immer mehr zuspitzte. 2015 gab es Massenproteste, weil die Regierung nichts mehr in der Lage war, den Abfall zu entsorgen.

Die Landschaft verändert sich im dichten Stadtverkehr. Der Reichtum der östlichen Viertel verblasst, die von der Hauptstraße abgehenden Gassen werden enger. Am Straßenrand verkaufen Obsthändler auf Holzwagen Früchte der Saison, Wassermelonen, Kaktusfeigen und Trauben.

Zusammen mit seinem Partner kaufte Kazak einen Truck und fuhr jeden Tag nach seiner regulären Arbeit als ITler durch die Stadt, Müll einsammeln.

Inzwischen hat RecycleBeirut drei Transporter, ein Warenhaus und 15 Arbeiter, die meisten davon Syrer ohne Arbeitserlaubnis. „Ohne Syrer könnten wir morgen zumachen”, sagt Kazak. „Libanesen machen diese Arbeit nicht, und sogar die Palästinenser sind anders.”

RecycleBeirut arbeitet mit Syrern ohne Papiere und übernimmt die wirtschaftliche Integration der Gruppen am Rande der Gesellschaft. In einer Ecke leeren zwei Frauen die blauen und schwarzen Müllsäcke, die ein Truck am Morgen von Kunden abgeholt hat, die sich bei RecycleBeirut angemeldet haben.

Plastik wird zu 100-Kilogramm-Würfeln gepresst und zum Preis von derzeit rund 1 150 000 libanesischen Pfund verkauft – 750 Euro zum ehemaligen Kurs, jetzt, mit dem Wertverlust der Währung nur noch knapp 150 Euro. Jeden Tag ändert sich zurzeit der Kurs.

Von Anfang an sei alles eine Herausforderung gewesen, sagt Kazak. Er erzählt, dass seine Trucks von der Polizei angehalten werden. „Weil sie Syrer sind und keine Trucks fahren dürfen.”

Aber das größte Problem ist: „Die Regierung hilft nicht nur nicht, sie verstehen auch nicht, was wir machen.” Man sieht ihm an, dass ihn das aufregt. Umweltbewusstsein habe keine Priorität im Libanon, „und wenn man keiner Partei angehört, kann man eh nichts werden. Und wenn man nicht korrupt ist, auch nicht.” Er wünschte, es wäre anders.

Abgesehen davon, dass die kommenden Monate wahrscheinlich noch schwieriger werden, hat sich mit der Explosion nicht viel verändert. „Es war schon immer schwierig.” Die orangenen RecycleBeirut Trucks fuhren in die Viertel am Hafen, um beim Aufräumen zu helfen. „Wir wissen, dass die Menschen uns dort nicht mögen, aber wir haben den Müll trotzdem abgeholt.” Er zuckt mit den Schultern, er ist abgehärtet.

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Gespaltene Gesellschaft

Die libanesische Gesellschaft ist gespalten. Die Geschichte des kleinen Landes ist geprägt von jahrzehntelangen regionalen Spannungen, die sich tief in die Mentalität eingegraben haben. Libanesen sind nicht gut auf Palästinenser zu sprechen, viele schieben ihnen die Schuld für den Bürgerkrieg zu, der von 1975 bis 1990 das Land verwüstete. Auch das Verhältnis zu Syrien ist von Gewalt überschattet, zwischen 1982 und 2005 besetzten syrische Truppen den Libanon.

Im Stadtbild Beiruts sieht man das bis heute. Die von der Explosion am härtesten getroffenen Viertel im Osten Beiruts sind vorwiegend christlich-maronitisch, wohlhabender und westwärts orientiert. Die Viertel im Süden sind muslimisch, ärmer und eher konservativ. Zwischendrin wohnen Armenier und viele afrikanische Gastarbeiter, die oft ohne Status leben.

In Nabaa, einem Viertel im Dunstkreis des Hafens, sitzt „Basmeh und Zeitouneh”. Die Organisation ist genau dort, wo RebuildBeirut und dutzende andere NGOs arbeiten. Doch während die meisten NGOs sich um Mar Mikhael und Gemmayze kümmern, fokussiert sich Basmeh und Zeitooneh auf die Menschen in den Armenvierteln des reichen Ostens.

Die Straßen sind eng, die Stromkabel hängen tief, die Menschen leben dicht an dicht. Hier hat Covid-19 Einzug gefunden, auch unter den Freiwilligen von Basmeh und Zeitooneh, deren Aktivitäten durch den Virus stark eingeschränkt sind. Zudem wurden die Häuser von Mitarbeitern bei der Explosion zerstört, was zu deren Ausfall führte.

Die Türen der Organisation sind geschlossen. Nur ein Fenster ist geöffnet, von dem aus ein Mann sich um die Schlange kümmert, die sich in der engen Gasse gebildet hat. „Ich habe vor vier Monaten einen Antrag gestellt”, sagt eine junge Mutter, deren kleine Tochter neben ihr durchs Fenster lugt. „Wir haben alle Anfragen von vor der Explosion auf Eis gelegt”, erklärt der NGO-Arbeiter. Er wiederholt sich, immer wieder.

Obwohl es keine genauen Zahlen gibt, kamen dutzende Explosionsopfer aus Syrien. Viele der zuvor schon bescheidenen Wohnstrukturen in den ärmeren Vierteln wurden zerstört. Die Hilfe, die jetzt benötigt wird, kommt zu der generellen Bedürftigkeit hinzu, die sich in diesem Jahr bereits durch Covid-19 verschärft hat.

Smarte, kluge, visionäre Menschen

Yasmin Kayala ist eine der Gründerinnen der Organisation. Die Syrerin blickt besorgt auf die Situation der Menschen, mit denen sie arbeiten. Freiwillige haben von einem Syrer berichtet, der wegen eines Essenspakets verprügelt wurde. „Viele NGOs geben keine Hilfe an Papierlose”, erklärt Kayala, „vor allem nicht an Syrer”. In einem anderen Fall warf eine Frau einem freiwilligen Apotheker die Medikamente ins Gesicht, als sie an seinem Akzent hörte, dass er Syrer ist.

„Die Regierung macht nichts, im Gegenteil, sie versuchen sogar uns zu hindern”. Versprechungen, dass für die Schäden aufgekommen wird, seien leer.

Basmeh und Zeitooneh ist wie viele andere Organisationen im Libanon auf sich allein gestellt, um die großen Probleme der Gesellschaft zu lösen. Kayaleh sagt, sie sei im Auto-Mode, kümmert sich um das Fundraising und die Kommunikation. Ohne Hilfe von außen gehe es nicht. „Seit der Explosion sind wir alle wie benebelt”, sagt sie.

Hunderte von Organisationen setzen sich in diesen Wochen für die Schadensbewältigung ein. Doch ohne Unterstützung von staatlichen Institutionen ist es schwierig, die Ursachen des Problems zu beseitigen. Politologe Jamil Mouawad sagt: „Die Zivilgesellschaft ist stark, Menschen sind traumatisiert vom politischen System und setzen sich in der Notfallhilfe ein, das ist toll.” Um aber wirklich etwas zu verändern, brauche es politische Organisation. „Die Menschen organisieren sich und treten so in die Falle des existierenden politischen Systems.”

Es liegt ein Schleier über Beirut. „Wir sind müde”, sagt Stadtplanerin Sera Saade, die das Ingenieursteam von RebuildBeirut leitet. „Es gibt so viele smarte, kluge, visionäre Menschen in diesem Land, aber wir dürfen nichts machen.” Sie gehen auf die Straße. Wenige Tage nach der Katastrophe trat die Regierung zurück. Die Proteste gehen trotzdem weiter, auch wenn ihnen mit aggressivem Tränengas und scharfer Munition geantwortet wird. Besserung scheint nicht in Sicht.

Und dann veränderte sich die Farbe des Himmels wieder. An einem Donnerstag, am 10. September verschwand die Sonne schleichend, als aus dem Norden der Stadt dunkler Rauch nach oben stieg. Es brannte im Hafen.

Menschen brachen in Panik aus, versuchten die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Angeblich fing ein Warenhaus mit Öl und Reifen Feuer, doch seit dem 4. August weiß jeder in Beirut, dass alles möglich ist. Sogar Dinge, die man sich nie hätte vorstellen können.

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„Zu diesem Zeitpunkt schockiert mich gar nichts mehr”, sagt Eddy Bitar. „Diesmal wird nicht vergeben und nicht vergessen.” Jetzt, mehr denn je. „Wir müssen für unsere Rechte eintreten.”

Alle sind müde nach sechs Wochen Arbeit, die einer Sisyphosaufgabe gleicht, auch Bitar.

Doch der junge Unternehmer ist entschlossen. Er habe die Energie für das, was kommt. „Vor uns liegt ein ganz wichtiger Schritt und um ihn zu bewältigen brauchen wir eine Strategie.” Das kann er. Im hinteren Bereich der DMRU steht eine Krankenliege, da ruht er sich jetzt gleich aus. 15 Minuten, dann kann’s weitergehen im Unterfangen: Rebuild Beirut.

Bild: RebuildBeirut

Nach der schweren Explosion in Beirut organisieren sich die Menschen vor Ort und arbeiten zusammen – während die Regierung untätig bleibt.

Victoria Schneider

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