Wenn die Coronakrise überwunden ist

Der Tag danach

Unsere Autorin lebt alleine. Obwohl sie das normalerweise liebt, macht ihr die Isolation jetzt zu schaffen. Sie vermisst Menschenmengen und den Trubel der Großstadt– auch seine hässlichen Seiten. Heute stellt sie sich vor, wie der Tag danach sein wird. Der Tag, an dem die Krise vorbei ist.

Am Tag, von dem ich träume, ist Hochsommer. Ich will in das kühle Wasser des Wannsees tauchen, aber um dorthin zu kommen, muss ich erst einmal die lange Berliner S-Bahn-Fahrt auf mich nehmen. Ich stehe dicht gedrängt mit Dutzenden von Menschen in der heißen Bahn, entziffere die Titel auf den Buchrücken der Lesenden, deute die Fingerbewegungen der Passagiere auf ihren Handys: Jemand wischt sich im Akkord durch die Profile einer Dating-App, jemand betrachtet sich verstohlen in der eigenen Handykamera und überprüft, ob das Make-up sitzt. Manche Fahrgäste sind klein, manche sind groß, manche duften nach wunderbarem Parfum und frisch gewaschenen Kleidern, andere sollten dringend eine höhere Deodosis benutzen.

Auch bei Good Impact: Mit Angst und Stress besser umgehen

An diesem Tag mache ich ich mir keine einzige Sekunde lang Gedanken darüber, dass ich viel zu dicht an den anderen Menschen stehe. Ich kann alle ihre Gesichter sehen, niemand trägt eine Maske oder weicht ängstlich zurück, weil ein Herr gerade gehustet hat.

Menschen pöbeln sich an, sie flirten miteinander, sie lächeln, sie starren, manche sind am helllichten Tag betrunken, ihr Blick tanzt ohne Fixpunkt durch die Gegend, vielleicht ist mir jemand zu nahe, vielleicht kotzt jemand auf das Gleis, während wir beim Umsteigen auf die nächste Bahn warten. Aber das ist ok, das ist normal, das ist das Leben der Stadt. Hektik, Straßenmusik, Trommelwirbel: Über uns, auf der Straße, marschieren Demonstranten und grölen Parolen, die Frau neben mir ist eine von diesen Personen, die es nie geschafft hat, die Tastengeräusche auf ihrem Handy stumm zu schalten und sie treibt mich mit dem ständigen Tik-Tik-Tik in den Wahnsinn. Es riecht nach Döner, den Blumen aus dem Bahnsteigskiosk und dem Schweiß der Menge. Es riecht nach Leben.

Die Welt wird sich hinterfragen

Am Tag danach reden wir noch oft von der Krise und davon, wie sie unsere Leben verändert hat. Natürlich sind die Zeitungen noch voll davon. Natürlich hat sich die Wirtschaft noch nicht erholt. Aber die Gesellschaft beginnt, die Lehren aus der Krise umzusetzen. Die globalen Gesundheitssysteme werden gerechter, die Lieferketten wieder regionaler, Massentierhaltung wird das erste Mal flächendeckend von der Gesellschaft verurteilt und auch Modelle wie das Bedingungslose Grundeinkommen werden in allen Parlamenten der Welt ernsthaft diskutiert. Die allermeisten Menschen sind an diesem Tag geheilt und geimpft.

Aber, wenn ich jetzt an die Zukunft denke, dann denke ich vor allem an die vielen kleinen Dinge. An Sorglosigkeit, an den Luxus, albern und unvernünftig zu sein, an ein Zusammen statt ein ewiges Allein. Ja, zuallererst auch an den gemeinsamen Suff, die Konzerte und das Feiern, das uns erwartet. Im Freien tanzen, in der Else oder auf der Tempelhofer Freiheit, in verrauchten Bars sitzen und die Nacht durchreden, bis die Theke zumacht, zuhause um 6 Uhr früh die Pastareste von gestern verschlingen und sich beim Werfen auf die Matratze freuen, sich wirklich freuen, auch wieder alleine zu sein, nach dem Getümmel des Tages.

Der Tag danach: Im Theater in der ersten Reihe sitzen

Ich möchte mir vornehmen, am Tag danach lauter Sachen zu tun, die ich sonst nie tue, oder schon viel zu lange nicht mehr getan habe. Mich im Theater in die erste Reihe setzen, wo einen der Speichel der brüllenden Darsteller*innen benetzt und man jederzeit auf die Bühne gezerrt werden kann, das habe ich mich nämlich nie getraut, obwohl es im Theater doch eigentlich darum geht, mitzumachen, etwas zu riskieren und sich nicht nur berieseln zu lassen.

Ich könnte es endlich schaffen, das Geld zusammenzukratzen und nach vielen Jahren mal wieder zu meinen Verwandten nach Brasilien reisen, an der Küste der Insel Florianópolis eine eiskalte grüne Kokusnuss austrinken, die mir einer meiner Freunde in die Hand gedrückt hat. Kommst du mit zu den Dünen, Sandboarden auf platt gedrückten Pappkartons?

Ich möchte die ganzen unspektakulären Dinge tun, die mir nie besonders schienen: am Sonntag in ein rappelvolles Restaurant gehen. Kartoffeln schälen und so tun, als wär das eine Riesenarbeit, während meine Mutter in der Küche für uns alle kocht. Im Büro mit den Kolleg*innen Mittag essen und tratschen. In einem Freiluftkino sitzen, mit überteuertem, karamellisiertem Popcorn auf dem Schoss und knutschen, bis der Film losgeht. Alle hassen einen, aber das muss auch mal sein!

Wenn niemand zum Knutschen da sein sollte, dann kann man auch zuhause bleiben, meinetwegen, aber wenn zuhause, dann endlich mit einer Freundin zusammen zuhause sein, und nicht mehr jeden Tag diesen einsamen, einzelnen Teller auf den Tisch stellen, für mich alleine kochen und essen. Vielleicht bringt mein Gast Nachtisch und Wein mit, und wir singen laut zu Songs, deren Texte wir nicht wirklich beherrschen. Vielleicht berühren wir uns beiläufig, ohne dabei zusammenzuzucken.

Aber das allererste was ich tun werde, wenn das alles vorbei ist, ist meine Familie zusammentrommeln. Wir leben alle in derselben Stadt, meine Eltern, mein Bruder, meine Zwillingsschwester und ich. Dennoch habe ich sie seit vielen Wochen nicht gesehen. Und wenn wir uns gegenseitig beim zehnten Familienessen auch wieder alle auf den Keks gegangen sind, dann, dann begebe ich mich wirklich in die laute, volle U-Bahn und fahre zum Strandbad Wannsee, renne mit Freundinnen in den See, wir fallen auf die Fresse, kreischen, schwimmen so weit wir können und dann klettern wir in das Schlauchboot unserer Gruppe, und wir lassen uns träge durch die Gegend treiben, teilen uns eine Zigarette, trinken Bier, verbrennen in der Sonne. Wir regen uns über kleine Dinge auf, weil wir uns langsam wieder an die Freiheit und ihre wundervollen Banalitäten gewönnen. Am Tag, von dem ich träume, ist Hochsommer.

Imago Images / photocase

Endlich wieder Schwimmen gehen: die Freiheit nach der Überwindung der Coronakrise wird süß.

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