Gastkommentar

Wie wir die Gas-Krise ohne Atomkraft und Kohle bewältigen

Inflation und Energiepreise steigen infolge des Ukraine-Krieges massiv. Selbst die Grünen sprechen mit Blick auf die Versorgungssicherheit wieder über fossile Brennstoffe und notwendigen „Pragmatismus“. Wie also die Rohstoffabhängigkeit von Russland reduzieren und gleichzeitig Klimaziele erreichen? Geht das überhaupt? Deutschland könne trotz der Abkehr von russischen Energieträgern schon bis 2030 komplett aus der Kohleverstromung aussteigen und auch am Atomausstieg wie geplant festhalten, sagt Marcel Keiffenheim vom genossenschaftlichen Energieversorger Green Plant Energy.

Deutschland hat erneuerbare Energien lange stiefmütterlich behandelt. Das Interesse an fossilen Brennstoffen wie der Braunkohle oder Gas aus Russland war bei den Bundesregierungen der vergangenen Jahrzehnte weitaus größer als der Wille zu wirklicher Transformation. Es waren lediglich Teile der Gesellschaft, zuletzt vorwiegend junge Aktivist:innen, die – besorgt um die Zukunft des Planeten – die Suche nach klimafreundlichen, erneuerbaren Lösungen für unser Energiesystem wieder in den Fokus rückten.

Der jahrelange politische Stillstand rächt sich in der von Russland ausgelösten aktuellen Gas-Krise im Zuge des Ukrainekriegs in extremer Weise. Denn die bislang sichere Versorgung mit Erdgas geht dem Ende entgegen. Wir brauchen jetzt schnell Alternativen. Fragen der Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit sind innerhalb weniger Wochen akuter denn je geworden. Und alle suchen Auswege aus der Misere.

Auch bei Good Impact: Eine gelungene Energiewende ist Friedenspolitik

Doch die politischen Beharrungskräfte sind groß: Das zeigt die wiederaufgeflammte Diskussion um die Laufzeitverlängerung der letzten drei Atomkraftwerke. Sie ist so mühselig wie sinnlos. Die AKW-Betreiber bereiten sich schon lange auf das Ausstiegsdatum vor. Ihnen fehlt jetzt Personal, die alten Brennstäbe sind weitgehend verbraucht und wichtige Sicherheitsüberprüfungen wurden schon lange ausgesetzt. Für einen Weiterbetrieb wären hohe Investitionen notwendig. Und am Beispiel von Frankreich können wir derzeit sehen, dass die vielen alten Atomkraftwerke dort die Versorgungssicherheit nicht gewährleisten.

Bis 2030 komplett raus der Kohleverstromung? Geht!

Vor allem aber: Für die Gas-Krise sind Atomkraftwerke keine Lösung. Denn sie produzieren Strom. Es droht in Deutschland aber kein Mangel an Strom, sondern an Gas. Sicher: Es gibt Gaskraftwerke. Doch tatsächlich kommen diese am Strommarkt nur selten zum Einsatz, weshalb ihr Gasverbrauch unterm Strich entsprechend gering ist. Deshalb sind die Gasmengen, die durch die drei letzten deutschen AKW womöglich ersetzt werden könnten, minimal. Ähnliches gilt für Kohlekraftwerke: Nur rund ein Prozent der deutschen Erdgasnachfrage kann durch ein längeres Laufenlassen der Kohlemeiler eingespart werden, zeigte eine von uns beauftragte Studie.

Das heißt: Die konventionellen Kraftwerke helfen uns in der jetzigen Krise praktisch nicht, verursachen aber einen Berg an Problemen – etwa, dass Atomkraftwerke mehr denn je als Sicherheitsrisiko gelten, als potenzielles Ziel von Militärs und Hackern. Am Atomausstieg sollte auch deshalb nicht gerüttelt werden. Und für die Kohle gilt: Deutschland kann, auch dies zeigen Studien, trotz der Abkehr von russischen Energieträgern schon bis 2030 komplett aus der Kohleverstromung aussteigen – bei voller Versorgungssicherheit. Die Abschaltreihenfolge der Kohlekraftwerke kann dabei sogar gegenüber der derzeitigen Planung noch optimiert werden: Gehen die alten, ineffizienten Braunkohlemeiler zuerst vom Netz, nützt das dem Klima massiv.

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Wie aber lässt sich unsere Abhängigkeit von russischem Erdgas reduzieren? Ganz klar: Das Fundament der zukünftigen Energieversorgung ist der schnelle Ausbau der Erneuerbaren. Dazu muss er jetzt ernsthaft und konsequent angepackt werden. Die Pläne der neuen Bundesregierung gehen durchaus in die richtige Richtung, auch wenn die aktuellen Gesetzespakete noch Schwachstellen haben. Immerhin: Sie beenden schon jetzt den jahrelangen politischen Stillstand bei der Energiewende.

Schneller Umstieg auf Solar- und Geothermie

Wir müssen Gas aber nicht nur ersetzen. Wir müssen – und können – es auch an vielen Stellen einsparen. Die größten Potenziale liegen im Wärmebereich, bei Haushalten, Gewerbe oder Dienstleistungen. Erdgas wird dort hauptsächlich zum Heizen und für Warmwasser genutzt. Jeder kann seinen Gasverbrauch mit simplen Alltagspraktiken reduzieren. Steht ein Heizungswechsel an, sind mit Ökostrom betriebene Wärmepumpen eine effiziente und klimafreundliche Alternative. Ebenso hilft der schnelle Umstieg auf Solar- und Geothermie im großen Maßstab sowie der Ausbau von Strom-zu-Wärme-Technologien, um das Nah- und Fernwärmenetz zu versorgen.

Auch in der Industrie sind deutliche Einsparungen möglich – und dies ohne volkswirtschaftliche Bruchlandung. Das chemische Schlüsselelement hier heißt Ammoniak. Die Verbindung aus Stickstoff und Wasserstoff wird meist zu Düngemittel verarbeitet. Die Herstellung von Ammoniak basiert derzeit noch auf massivem Erdgaseinsatz. Doch in Zukunft hat Ammoniak das Potenzial, als Trägersubstanz grünen Wasserstoff global transport- und zwischenlagerfähig zu machen. Ein verstärkter Import von grünem Ammoniak, der auf Basis von aus erneuerbaren Energien erzeugtem Wasserstoff hergestellt wurde, kann in der Chemie- und Düngemittelindustrie jährlich den Verbrauch von 28 Terawattstunden Erdgas einsparen.

Gas-Krise: Debatte ohne Tabus gilt auch für Energiekonzerne

In Bezug auf den Atomausstieg wird immer wieder eine „ideologiefreie Debatte“ gefordert, „ohne Tabus“ und Denkverbote. Daran beteiligen wir uns gerne – denn die Fakten sprechen eine klare Sprache gegen AKW-Laufzeitverlängerungen. Doch die Debatte ohne Tabus gilt auch für Energiekonzerne und die Industrie, die sich zu lange auf ihren konventionellen, vor allem atomaren und fossilen Quellen ausgeruht haben.

Die jetzige Krise legt die Versäumnisse der Vergangenheit schonungslos offen. Jetzt haben wir die Chance und Pflicht, diesen Kurs zu korrigieren. Das Festhalten an überkommenen Technologien bringt uns nicht weiter, weder in Sachen Klimaschutz noch im Sinne der Versorgungssicherheit.

Marcel Keiffenheim

Der Journalist hat Politologie und Völkerrecht studiert. Danach war er Redakteur der Frankfurter Rundschau und beim Greenpeace Magazin. Ende 2007 wechselte Keiffenheim als Pressesprecher zum genossenschaftlichen Energieversorger Greenpeace Energy, der seit 2021 Green Planet Energy heißt. Dort ist Marcel Keiffenheim Leiter Energiepolitik und Kommunikation Green Planet Energy.

Braucht es dringend für grünen Strom und grünen Wasserstoff: Windenergie (Symbolbild).

Marcel Keiffenheim (Green Planet Energy)

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