Schwerpunkt: Tschüss, Kolonialismus

„Wir wollen unsere Zukunft selbst bestimmen“

Zwei politische Lager kämpfen für die Dekolonialisierung des US-amerikanischen Territoriums Puerto Rico: Die einen wollen einen unabhängigen Staat, die anderen möchten ein gleichberechtigter Teil der USA werden

Die New Yorker Studentin Marisol Rios de la Luz erkundet gerade auf einer Exkursion Felshöhlen auf Puerto Rico, als eine indigene Göttin auftaucht und sie in die Superheldin „La Borinqueña“ verwandelt. Marisol kämpft fortan gegen zerstörerische Hurrikans – und für ein freies Puerto Rico. Doch Marisol ist eine Comicfigur, geschaffen als Symbol für eine Nation, die schon seit einem halben Jahrtausend nicht mehr frei ist. Nach 400 Jahren als spanische Kolonie wurde das karibische Inselterritorium im Amerikanisch-Spanischen Krieg 1898 von den USA annektiert. Die Einwohner:innen von Puerto Rico nennen sich selbst Boricuas, nach einem Wort aus der Sprache der Taino, einem indigenen Volk des Archipels. Sie besitzen zwar die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und müssen Steuern an die USA zahlen, dürfen aber weder ihr Staatsoberhaupt wählen, noch Abgeordnete in Senat oder Kongress entsenden.

„In den USA haben die meisten Menschen noch nie davon gehört. Die USA verstehen sich selbst als Anführer der freien Welt und beschäftigen sich daher nicht gerne mit der Tatsache, dass sie selbst eine Kolonialmacht sind“, sagt Luis Ponce von der NGO Boricuas unidos en la diaspora, die sich für die Unabhängigkeit von Puerto Rico einsetzt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die USA in einer Wirtschaftskrise, der Aufbau eines Imperiums in der Karibik, in Ozeanien und Asien sollte neuen Wohlstand bringen. Im Jahr 1900, am Ende des Amerikanisch-Spanischen Krieges, fielen den USA unter anderem Puerto Rico, Guam, die Philippinen, die Virgin Islands und Amerikanisch-Samoa als Territorien zu. Bis auf die Philippinen sind all diese Gebiete und die Marianna Northern Islands bis heute sogenannte „incorporated territories“: Gebiete, die den USA gehören, aber nicht Teil der USA sind.

Obwohl die USA Puerto Rico damals eine eigene Kammer – eine Art Scheinparlament – zusprachen, ernannte der neue Besatzer den Gouverneur und die zweite Kammer selbst. 1914 stimmte die Kammer der Boricuas bereits geschlossen für einen unabhängigen Staat. Der US-Kongress lehnte dieses Votum jedoch ab und gewährte stattdessen 1917 allen Boricuas die sofortige US-amerikanische Staatsbürgerschaft: So konnten sie noch im selben Jahr Männer aus Puerto Rico als Soldaten für den Ersten Weltkrieg einziehen. 

Gleichzeitig begann ein Prozess, den Luis Ponce als „langen und erfolglosen Prozess der Amerikanisierung“ bezeichnet: In den Schulen durfte nur noch Englisch gesprochen werden, die Flagge von Puerto Rico wurde zwischenzeitlich verboten. Von den 30er-Jahren bis 1987 fand das längste Überwachungsprogramm in der Geschichte der USA statt: Alle Angehörigen der Unbhängigkeitsbewegung und auch progressive Initiativen, wie etwa feministische Vereine, wurden von der vom US-amerikanischen Geheimdienst kontrollierten Polizei streng überwacht und ausspioniert.

Als im Kongress über eine potenzielle Aufnahme von Puerto Rico als US-Bundesstaat diskutiert wurde, lautete die Begründung dagegen, dass die Menschen auf Puerto Rico einer „alien race“ angehörten. „Das bedeutete nichts anderes als: Menschen aus Puerto Rico sind faul, den US-Amerikanern unterlegen und schwarz“, erklärt der Puerto Ricanische Aktivist George Laws García. „Also nannten sie uns Commonwealth, gaben uns eine lokale Regierung, einen Gouverneur und taten so, als wären wir keine Kolonie mehr. Aber die wirkliche Macht war immer in den Händen des Kongresses.“

2017 rückte der Hurrikan Maria Puerto Rico ins Licht der US-amerikanischen Öffentlichkeit. Der Sturm verwüstete den Archipel und kostete mehr als 3.000 Menschen das Leben. Der damalige Präsident Donald Trump erkundigte sich daraufhin bei seinem Stab, ob man die Insel nicht „verkaufen könne“. 2019 ergaben Recherchen der Nachrichtenagentur Businesswire, dass das Geld aus dem staatlichen medizinischen Programm Medicaid, das allen hilfsbedürftigen US-Bürger:innen zusteht, für Puerto Rico viel niedriger berechnet wird als im Rest der USA. Dabei zahlt das Territorium einen höheren Steuersatz für das Programm als manche US-Bundesstaaten. Tausende Menschen in Puerto Rico bekamen keine oder unzureichende staatliche Unterstützung. Zudem wird Puerto Ricos hoch verschuldete Wirtschaft derzeit von einem „Financial Oversight and Management Board“ aus den USA gelenkt, das in Puerto Rico nur „La Junta“ genannt wird und eine harte Austeritätspolitik betreibt.

Bild: IMAGO / Agencia EFE

Zwei politische Lager kämpfen für die Dekolonialisierung des US-amerikanischen Territoriums Puerto Rico: Die einen wollen einen unabhängigen Staat, die anderen möchten ein gleichberechtigter Teil der USA werden. 

Weiterlesen