Für das Gespräch lässt Gloria González die erste halbe Stunde ihres Kurses ausfallen. Mehrmals die Woche kommt sie in ein Fürsorgezentrum, eine sogenannte Manzana del Cuidado, im Viertel Engativá, um dort Tanzgymnastik zu machen. Manchmal geht sie auch zum Yoga, Pilates oder besucht einen Gärtnereiworkshop. Besonders toll findet sie einen Kurs, in dem es darum geht, sich wieder mit der Natur zu verbinden. „Ich wohne direkt gegenüber, so habe ich einen kurzen Weg“, freut sie sich. Im Videocall spricht sie schnell, immer wieder fallen ihr die dunklen Locken ins Gesicht. Die lebhafte Frau ist 54 Jahre alt, wirkt aber jünger. Sie lebt in Bogotá, der Hauptstadt von Kolumbien.
Manzana del Cuidado, das bedeutet wörtlich übersetzt so etwas wie Fürsorgeapfel, umgangssprachlich ist Manzana aber auch ein Straßenblock in der Stadt. Der Name nimmt Bezug auf die „Supermanzanas“ in Barcelona. Auf Deutsch besser bekannt als Superblocks, sind sie ein innovatives Konzept der Stadtplanung, das weniger Autos und mehr Grün in Wohnviertel bringen will und verschiedene Bereiche des Lebens auf wenig Raum verbinden möchte. Auch die Manzanas del Cuidado wollen ein gutes, gesundes Leben ermöglichen. Der Unterschied: Sie stellen dabei Care-Giver:innen in den Fokus. Menschen, die den Haushalt schmeißen, Kindererziehung und Pflege übernehmen. In Kolumbien sind das, wie fast überall auf der Welt, meist Frauen. Sie sollen in der Nähe ihres Wohnorts mit verschiedenen Angeboten aus den Bereichen Bildung und Gesundheit unterstützt werden.
Das Fürsorgezentrum in Engativá, das Gloria González besucht, hat im Frühjahr des vergangenen Jahres eröffnet. 18 solcher Zentren speziell für Care-Arbeiter:innen wurden in den vergangenen vier Jahren im ganzen Stadtgebiet eingerichtet, zusätzlich gibt es auch mobile Zentren: Busse, die in besonders entlegene Gegenden der Stadt fahren, ebenfalls Kurse anbieten oder aber einfache Gesundheitsdienstleistungen wie Impfungen. Für die permanenten Zentren wird bereits bestehende Infrastruktur genutzt, die Manzana in Engativá befindet sich beispielsweise in einem ehemaligen Gesundheitszentrum. Langfristig sind mehr als 40 Manzanas del Cuidado in Bogotá geplant. Sie sollen die Stadt gerechter machen.
Frauen leben besonders oft in Armut
Denn in Kolumbiens Hauptstadt ist Ungleichheit so sichtbar wie nur an wenigen anderen Orten auf der Welt. Die Megacity liegt auf gut 2.600 Metern über dem Meeresspiegel zwischen den Anden. Der Süden der 8-Millionen-Metropole ist arm: je weiter man sich gen Norden bewegt, desto reicher werden die Menschen. Weil Bogotás Straßen keine Namen haben, sondern durchnummeriert sind, kann man anhand der Adresse eines Menschen ziemlich genau seine Einkommensverhältnisse abschätzen. Kolumbien ist mit einem Gini-Koeffizienten von mehr als 50 Prozent ein Land, in dem Einkommen und Vermögen sehr ungleich verteilt sind.
Besonders häufig von Ungleichheit und Armut betroffen sind Frauen. Nach Schätzungen der Stadt gibt es in Bogotá rund 1,2 Millionen Frauen, die ausschließlich Care-Arbeit nachgehen und keine Lohnarbeit verrichten. Rund die Hälfte von ihnen lebt in Armut. Oftmals haben diese Sorgearbeiter:innen keine Möglichkeit, einen Schulabschluss zu machen oder sich anderweitig zu qualifizieren. Deshalb sind sie häufig ökonomisch abhängig. Gleichzeitig macht nach Daten der UNO unbezahlte Care-Arbeit in Kolumbien 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Grund genug für Bogotás Bürgermeisterin Claudia López, nach einer strukturellen Lösung für dieses Problem zu suchen.
Bürgermeisterin will neue Perspektiven bieten
An einem Freitagnachmittag Anfang März sitzt die Bürgermeisterin in ihrem Büro im Rathaus von Bogotá. Sie ist die erste Frau in diesem Amt, trägt Sneaker und einen Hoodie. Im Vorraum des Büros hat sie ein Bild aufhängen lassen, das britische Frauenrechtlerinnen zeigt. Es ist eine Hommage an die Suffragetten. Hinter ihrem Schreibtisch stehen die UN-Ziele für Nachhaltige Entwicklung; „Geschlechtergerechtigkeit“ ist besonders hervorgehoben.
„Ich habe in den letzten Jahren an einem neuen sozialen und ökologischen Vertrag für die Frauen in der Stadt gearbeitet“, sagt Claudia López. Darum hat sie das Bezirksfürsorgesystem ins Leben gerufen – Kernelement davon sind die Manzanas del Cuidado. „Es soll den Frauen helfen, aus der Armut zu kommen und ihnen die Möglichkeiten geben, die sie verpasst haben, während sie sich um andere Menschen gekümmert haben.“ Aus ihrer Sicht liegt es nicht nur an ökonomischen Faktoren, dass so viele Frauen von Armut betroffen sind, sondern auch an einer strukturell patriarchalen Gesellschaft. Es wird von Frauen erwartet, diese Arbeit allein zu übernehmen und dafür vielleicht eigene Träume zurückzustecken. Für viele Männer käme es immer noch nicht infrage, sich um Haus und Kind zu kümmern.
Die Care-Arbeits-Zentren sollen die Frauen entlasten und ihnen neue Perspektiven bieten. Die 28-jährige Winny Díaz leitet die Manzana de Cuidado in Engativá, seit sie im vergangenen Frühling eröffnet wurde. „Die Manzanas sollen Bildung ermöglichen, ein Ort zum Durchatmen sein und dabei unterstützen, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften.“ Die Fürsorgezentren bieten Kurse an, um den Schulabschluss nachzuholen, es gibt aber auch Finanzbildung, Computertraining, Sportkurse oder Englischunterricht. Außerdem arbeiten in den Zentren auch Anwält:innen und Psycholog:innen, die Frauen vor geschlechterspezifischer Gewalt schützen und beraten sollen. Für die Teilnehmenden ist all das gratis, die Stadt trägt die Kosten.
Bogotá ist die erste Stadt in Kolumbien und ganz Lateinamerika, die ein solches Fürsorgesystem eingeführt hat. „Wir bringen die Services direkt zu den Sorgearbeiter:innen“, erklärt Winny Díaz. Die Fürsorgezentren sind dabei oft in wirtschaftlich benachteiligten Vierteln untergebracht. Der Zugang soll so einfach und inklusiv wie möglich sein: Es wird nicht aufwendig geprüft, ob sich eine Person tatsächlich um eine andere kümmert – die Aussage der Bersucher:innen reicht, um an den Angeboten teilnehmen zu können. „Besonders ist auch, dass wir sektorübergreifend und unbürokratisch viele verschiedene Angebote zusammenführen“, fügt Díaz hinzu. Das spare viel Zeit, weil die Menschen so keine weiten Wege haben.
Auch mal an sich selbst denken
Außerdem werden die Bedürfnisse der Sorgearbeiter:innen mitgedacht: Um die Mittagszeit gibt es zum Beispiel nur wenige Angebote, weil dann viele Essen kochen oder Kinder abholen müssen. Wenn sie an Aktivitäten teilnehmen, können die Besucher:innen ihre Schützlinge mitbringen und im Fürsorgezentrum betreuen lassen. „Wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, auch mal an sich zu denken“, sagt Díaz. „Viele von ihnen sind den ganzen Tag so damit beschäftigt, für andere zu sorgen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse ganz vergessen.“
So ging es auch Gloria González. „Ich habe mich mein ganzes Leben lang um andere gekümmert“, erzählt sie. Schon als Kind musste sie im Haushalt einer anderen Familie arbeiten, auf deren Kinder aufpassen und später ihre eigenen zwei großziehen. Zur Schule gegangen ist sie nie. Erst als erwachsene Frau holte sie den Schulabschluss nach. Heute ist González Witwe und ihre Kinder sind erwachsen, die Sorgearbeit hat aber damit nicht aufgehört. Regelmäßig kümmert sie sich um ihre Enkelin und die Tochter einer Bekannten, die Unterstützung benötigt. Sie verdient ihr Geld damit, in einem kleinen Laden medizinische Pflanzen zu verkaufen. An den Manzanas del Cuidado mag sie, dass sie nun regelmäßig Sport treiben kann. Vor allem aber gefällt ihr, dass das Programm ihre Lebensleistung sieht und anerkennt und dass sie sich mit anderen Frauen austauschen kann. Das fühlt sich sehr empowernd an“, meint sie. Das ist auch Ziel der Kampagne. „Wir kümmern uns um diejenigen, die sich um uns kümmern“, lautet der Slogan der Kampagne, mit der die Stadt Bogotá ihre Manzanas del Cuidado bewirbt.
Das Fürsorgesystem erntet international immer mehr Anerkennung. Auch andere Länder und Regionen zeigen Interesse daran. Im vergangenen Jahr beispielsweise tauschte sich die Stadt mit Vertreter:innen aus Uruguay und Argentinien aus. Auch andere Städte in Kolumbien denken darüber nach, ähnliche Programme einzuführen.
Die Manzanas demonstrieren, wie effektiv bereits einfache Maßnahmen sein können. „Die Frauen können dort ihre dreckige Wäsche abgeben, ihrer Aktivität nachgehen und am Ende bekommen sie ihre Sachen gewaschen und getrocknet zurück“, erklärt Díaz den Mechanismus. Das sei für viele eine enorme Erleichterung. „Gerade ärmere Frauen haben oft keine Waschmaschine und schon gar keinen Trockner, die verbringen nicht selten einen ganzen Tag damit, Wäsche von Hand zu waschen.“
Das Ziel: Kulturwandel
Auch an der Umverteilung von Care-Arbeit arbeiten die Sorgezentren. „Wir versuchen einen Kulturwandel herbeizuführen“, sagt Díaz. Die Zentren sind offen für alle Sorgearbeiter:innen, der größte Teil der Teilnehmenden sind jedoch Frauen. Es gibt aber auch Aktivitäten speziell für Männer. In den Kursen „Schule für pflegende Männer“ sollen sexistische Vorurteile abgebaut und die Konstruktion einer vermeintlich männlichen Identität hinterfragt werden. Außerdem werden Fähigkeiten wie Kochen, Waschen oder Bügeln vermittelt.
Es geht darum, Männern zu zeigen, wie sie sowohl praktisch als auch emotional für sich und andere sorgen können. Wissenschaftliche Erhebungen darüber, ob die Fürsorgezentren wirklich einen Unterschied für die Frauen in Bogotá machen und beispielsweise dafür sorgen, dass sie tatsächlich weniger Zeit mit Care-Arbeit verbringen, gibt es noch nicht. Einige Kritiker:innen merken an, dass die Zentren zu wenig auf die unterschiedlichen Bedürfnisse in unterschiedlichen Regionen der Stadt eingehen. Außerdem ist laut Daten der Stadt die Abbrecher:innenquote der angebotenen Kurse hoch.
Sicher ist aber, dass die Zentren Sorgearbeiter:innen erreichen. Mehr als 300.000 Frauen haben bereits das Angebot einer Manzana wahrgenommen, allein in Engativá nahmen im März mehr als 28.000 Frauen an einer der zahlreichen Aktivitäten teil. Zentrumsleiterin Winny Díaz weiß zwar, dass eine einzige politische Maßnahme nicht das gesamte Leben von Frauen umkrempeln kann. Sie ist aber überzeugt, dass das Bezirksfürsorgesystem ein Schritt in die richtige Richtung ist.
Ein Projekt, das ihr besonders am Herzen liegt, ist die Fahrradschule in ihrem Sorgezentrum. In den Kursen wird den Care-Giver:innen nicht nur das Radfahren, sondern auch die sichere Fortbewegung im oft chaotischen Verkehr von Bogotá vermittelt. „Viele Frauen haben ihren eigenen Kindern Radfahren beigebracht, aber sie saßen selbst noch nie auf einem Fahrrad”, erzählt Díaz. Manchmal aus kulturellen Gründen, weil ihnen jemand gesagt hat, es gehöre sich für Frauen nicht, Rad zu fahren. Es sei das Schönste für sie, sagt Díaz, dass sie sich diesen Raum nun erobern.
Kolumbianische Care-Arbeiter:innen können in Fürsorgezentren ihre Bildungsabschlüsse nachholen.