Es gibt diese Momente, in denen Dirk Neubauer mitten im Satz innehält und sein Gegenüber mit wachem Blick fixiert, während die linke Augenbraue immer weiter hochwandert, bis die Hälfte seiner Stirn in Falten liegt. Mit einem solchen Blick könnte ein Comedian sein Publikum bei einer Pointe mustern, von der er nicht sicher ist, ob die Zuhörenden sie verstehen werden. Ein Blick, der es fast unausweichlich macht, Neubauers letztes Wort noch einmal in sich nachklingen zu lassen. In diesem Fall lautet es: „Spaltungspotenzial“.
An einem Spätnachmittag im Oktober sitzt der 52-Jährige in seinem Büro im Landratsamt Freiberg. Neubauer – dunkelblauer Cord-Anzug, schwarzes T-Shirt, silberner Fünftagebart – ist seit gut einem Jahr Landrat in Mittelsachsen und unterstreicht seine Sätze mit raumgreifenden Gesten, dass der Besprechungstisch wackelt. Er erzählt von einer Versammlung in Augustusburg, wo er von 2013 bis 2022 Bürgermeister war. „2015 ging ja das Thema Flüchtlinge los“, sagt er. Damals habe er vor den Bürger:innen für Toleranz gegenüber den Ankommenden geworben. „Vielleicht war das ungewöhnlich.“ Und vielleicht war es auch der Grund dafür, dass sich jenes „Spaltungspotenzial“, das Neubauer in der Ankunft der Geflüchteten erkannte, in der Kleinstadt nicht so sehr entfaltete wie an anderen Orten.
Augustusburg ist ein 4.500-Seelen-Städtchen östlich von Chemnitz. Hoch oben auf dem Schellenberg liegt das Schloss, seine helle Fassade überragt das Erzgebirge. Zu seinen Füßen erstrecken sich wenige Straßen, an denen Häuser mit bepflanzten Blumenkästen stehen. Die beiden älteren Damen, die gerade vom Rathaus gen Marktplatz schlendern, erinnern sich noch gut an jene Versammlung vor acht Jahren. „Er hat schon was bewirkt“, beginnt eine von ihnen. „Als der Neubauer 2020 das zweite Mal zum Bürgermeister gewählt wurde, da hat es ja wumm gemacht“, sagt sie, das Erstaunen ist ihr heute noch lebhaft ins Gesicht geschrieben. „Da hatte der fast 70 Prozent!“
„Wir reden jetzt darüber, wie wir das machen“
Seine Wahlerfolge und seine Thesen unter anderem über ein „grandioses Elitenversagen“ in Ostdeutschland machen Dirk Neubauer zu einem interessanten Gesprächspartner in Zeiten, da die AfD in einigen Bundesländern Umfragewerte von mehr als 30 Prozent erzielt. In Sachsen, Brandenburg und Thüringen könnte sie 2024 bei Landtagswahlen erstmals stärkste Kraft werden. Neubauer, der von 2017 bis 2021 SPD-Mitglied war, setzt dem etwas entgegen: Zuletzt gewann er die Stichwahl zum Landrat im Sommer 2022 mit 55,6 Prozent der Stimmen gegen Kandidaten der AfD mit 24,1 und der CDU mit 20,4 Prozent.
„Der hat vieles, ich sage mal, angesprochen“, sagt die 72-jährige Rentnerin vor dem Rathaus von Augustusburg. „Der hat wirklich dafür gesorgt, dass Ruhe geherrscht hat.“ „Ich habe damals in unsere Turnhalle eingeladen“, erzählt Neubauer. „Ich habe als Erstes gesagt, wir diskutieren hier kein ob oder ob nicht. Unser Thema ist: Hier kommen Menschen her, und wir müssen jetzt gemeinsam gucken, wie wir das so organisieren, dass es für uns alle funktioniert.“ Auch über die Sorgen der Bürger:innen habe man gesprochen. Eine blieb ihm besonders im Gedächtnis: Ein Einwohner habe gefragt, was denn passiere, sollte ein Kind von Geflüchteten in seinem Pool ertrinken. „Dem konnte ich sagen: Sei mal ganz entspannt, wir haben eine Haftpflichtversicherung ausgehandelt“, sagt der Landrat. „Und dann passierte etwas außerordentlich Positives“, fährt er fort. „Erst gab es ein paar Krakeeler im Saal, die versucht haben, Stimmung zu machen. Dann hat die Mehrheit aufbegehrt. Die haben gesagt: ‚Klappe halten, wir reden jetzt darüber, wie wir das hier machen.‘ Ich glaube, das war das entscheidende Signal, wie das in dieser Stadt läuft. Die Minderheit hat gemerkt, dass sie eine Minderheit ist, und die Mehrheit hatte ein ziemlich valides Gefühl, dass sie die Mehrheit ist.“
Alle zum Gespräch einladen, zuhören, gemeinsam nach Lösungen suchen und mit Problemen transparent umgehen – selbst wenn es die eigene Unwissenheit ist: So ungefähr lässt sich Neubauers Philosophie zusammenfassen. In Hinterzimmern Mehrheiten zu organisieren, ist ihm ein Gräuel: „Ich gehe nicht los und rufe vor einer Abstimmung alle Abgeordneten an, um ihnen ins Gewissen zu reden. Weil ich möchte, dass die Debatte funktioniert.“ Gerade im Kontrast zu einer Bundespolitik, in der Ränkespiele der Normalzustand zu sein scheinen, mag dieser Ansatz fast radikal, zumindest aber naiv erscheinen. Neubauer hat es so bis zum Landrat von Mittelsachsen geschafft.
Vom Lebenskünstler zum Kommunalpolitiker
Als solcher ist er der oberste Verwaltungsbeamte im Landkreis, nicht mehr nur zuständig für Augustusburg, sondern etwa auch für Freiberg, Döbeln und Mittweida. Insgesamt rund 300.000 Menschen leben in dem Gebiet zwischen den drei sächsischen Großstädten Leipzig, Chemnitz und Dresden. Landrat, das klingt nach Ortsverein, Amtsstube, Kreisödnis, der, wie er selbst sagt, „piefigsten Nummer, die es überhaupt gibt“. Und doch haftet dem 52-Jährigen einiges von einem Lebenskünstler an. Neubauer kommt aus Halle an der Saale, hat als Journalist bei der Mitteldeutschen Zeitung gearbeitet, später auch für den MDR. Er beriet Medien bei der Entwicklung von Digitalstrategien, bevor er auf den Betrieb einer Kaffeerösterei in Augustusburg umsattelte. Und dort begann 2013 seine Karriere als Kommunalpolitiker.
„Der Anlass war ein Fest“, erzählt Neubauer. Gleich vor seiner Rösterei wurde ein Kaffeestand aufgebaut. Warum war er nicht gefragt worden, warum wurden die Bürger:innen bei den Planungen nicht eingebunden? Das ärgert ihn bis heute. Als Kandidaten für die nächste Bürgermeister:innenwahl gesucht wurden, entschloss er sich zu kandidieren. Sein Wahlkampf sei „ein einziger, großer Spaziergang“ gewesen: „Überall dort, wo jemand im Garten war, habe ich das Gespräch gesucht.“
Aus dieser Zeit kennen sich auch Neubauer und Uwe Schreier. In einem grünen FC-Bayern-T-Shirt sitzt der Konditormeister, der auch Inhaber einer Sommerrodelbahn und ehemaliger Stadtrat ist, in seinem Panoramacafé in Augustusburg. Er sagt über seinen ehemaligen Bürgermeister: „Ich finde, er hat viel bewegt.“
Eine Sache, die Neubauer in Augustusburg bewegt hat, war eine Art Bürger:innenbudget. „Da wurden 50.000 Euro ausgeschrieben und jeder konnte Ideen bringen, was damit für den Ort getan werden soll“, sagt Schreier. E…
Dirk Neubauer ist Lebenskünstler und Kommunalpolitiker.