Zeit-Gedanken

Mit Zeitkonten flexibler arbeiten

Gleiche Arbeitszeiten für alle sind ein Relikt des Industriezeitalters. Heute fordert die Buntheit von Lebensverläufen eine flexible Arbeitswelt. Doch von ihr sind wir noch weit entfernt

Wir alle atmen. Überall und jederzeit. Aber dass die Zeit atmen soll, das ist historisch gesehen relativ neu. Und kommt von ganz oben. „Lebensarbeitszeit atmet individuell in verschiedenen Lebensphasen“, hieß es schon 2012 beim „Dialog über Deutschlands Zukunft“ im Bundeskanzleramt. Gemeint war: ein Aufweichen starrer Arbeitszeiten und mehr Luft für besonders herausfordernde Lebenssituationen wie die Pflege alter Eltern oder Kinder in problematischen Phasen. Allen Menschen solle „gesetzlich die Möglichkeit gegeben werden, ihre Arbeitszeit in Bandbreiten flexibel zu variieren und die Zeit lebensphasenorientiert für eine Reihe von Ereignissen zu nutzen“. Die langersehnte große Reise oder ein Sabbatical eingeschlossen.

Dieses Atmen liegt im Trend. Im Megatrend geradezu. Denn die streng formatierten, für alle gleichen Arbeitszeiten und Lebensentwürfe sind ein Relikt des Industriezeitalters – das Fließband gab den gleichen Takt für alle vor. Inzwischen haben Individualisierung, Flexibilisierung, Globalisierung und Digitalisierung das starre Gerüst der Arbeitsorganisation pulverisiert. Aus dem Grau der Standard-Arbeitsbiografie ist eine flirrende Buntheit von Lebensformen und -verläufen geworden. Diese Vielfalt auch in der Arbeitswelt sichtbar und lebbar zu machen, haben sich viele Experten und Experimente zum Ziel gesetzt. Nicht ohne Erfolg –aber dennoch gibt es offensichtlich kaum zu knackende Grenzen.

Karin Jurczyk streitet seit 1984 für mehr Zeitflexibilität. Besonders die harten Wechsel zwischen atemloser Hetze und antriebsloser Ruhe sind der Forscherin am Deutschen Jugendinstitut in München ein Dorn im Auge: „Männer und zunehmend auch Frauen powern bis 65 durch, um dann erschöpft in eine lange Rentenphase zu fallen. Aber ihr Erwerbsleben lang haben sie immer weniger Zeit für die, um die sie sich kümmern wollen.“

Lieblingslösung Zeit-Girokonto

Eine Lieblingslösung der Experten, so eine Art Atemübung für die Arbeit, ist das Zeitkonto. Mal ist es gedacht wie ein Sparbuch: Ich arbeite vor und kann die angesparte Zeit später nach Belieben abheben und ausgeben. Und mal sieht es eher wie ein Zeit-Girokonto aus: Wenn ich jetzt Zeit brauche, etwa für die Pflege von Kind oder Eltern, aber noch nicht genügend angespart habe, kann ich mein Zeitkonto auch überziehen und später wieder ausgleichen. Jurczyk schätzt, dass ein Dispo-Zeitkredit „von fünf bis acht Jahren, der allen zusteht“, ausreichend sein müsste, um Arbeit und Leben wieder miteinander in Einklang zu bringen.

Ein Vorzeige-Konzern für flexibles Arbeiten ist zum Beispiel der Werkzeugmaschinenbauer Trumpf. Das schwäbische Unternehmen mit 12.000 Beschäftigten und mehr als drei Milliarden Euro Jahresumsatz hat jüngst ein Bündnis für Arbeit, Laufzeit bis 2021, mit seiner Belegschaft festgezurrt: Seitdem gibt es ein „agiles“ Zeitsystem, bei dem ein Beschäftigter sein Zeitkonto um bis zu 100 Stunden ins Minus sacken lassen kann. Er soll so Berufs- und Privatleben besser miteinander verbinden, aber auch das Unternehmen „unbürokratisch und schnell auf kurzfristige Auftragsschwankungen reagieren können“, sagt Geschäftsführerin Nicola Kampmüller. Denn natürlich setzt kein Betrieb Zeitkonten ein, um seinen Mitarbeitern bei deren Selbstverwirklichung zu helfen, sondern vor allem aus Eigeninteresse. So waren beispielsweise in der Weltwirtschaftskrise von 2008/09 Kurzarbeit und andere Formen einer erzwungenen Arbeitszeitflexibilisierung wichtige Gründe dafür, dass sich deutsche Unternehmen von der globalen Rezession relativ sc…

Eine Lieblingslösung der Experten, so eine Art Atemübung für die Arbeit, ist das Zeitkonto

Detlef Gürtler

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